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Titel: Günter Grass lässt sich leider wieder einmal in eine Kampagne einspannen – wie schon des Öfteren seit 40 Jahren. Und diesmal besonders komisch: zugunsten des Machterhalts von Merkel.
Datum: 13. August 2013 um 14:41 Uhr
Rubrik: DIE LINKE, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik, Wahlen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Günter Grass meint in einem von der Süddeutschen Zeitung veröffentlichten Gespräch mit Manfred Bissinger, Lafontaine sei ein „Hemmnis“ auf dem Weg zu einem möglichen Bündnis zwischen SPD und Linkspartei. Lafontaine halte die Linkspartei mit seiner „Verweigerungsstrategie“ davon ab, Verantwortung zu übernehmen. Diese Attacke ist aus vielerlei Gründen absurd. Zum einen gab es diese Verweigerungsstrategie nie, sie war immer nur behauptet, von außen und von innerparteilichen Gegnern des früheren Vorsitzenden der Linkspartei; zum anderen kann Oskar Lafontaine schon deshalb kein Hemmnis mehr sein, weil er bundespolitisch – leider – keine entscheidende Rolle mehr spielt. Die abstruse Fehleinschätzung des Günter Grass passt gut ins Bild eines Intellektuellen, der gar keiner mehr ist. Er analysiert nicht eigenständig und macht sich zum Opfer clever angelegter Kampagnen. Das kam in den letzten 40 Jahren des Öfteren vor. Albrecht Müller.
„Günter Grass rechnet mit Lafontaine ab“ – das ist die – ironisch angemerkt: ungemein aktuelle -Schlagzeile der heutigen Süddeutschen Zeitung. Eine Kurzfassung der aggressiven Äußerungen zu Lafontaine findet sich in diesem Aufmacher. Das Interview selbst ist elektronisch nicht verfügbar. Es enthält aber einige erstaunliche Fehleinschätzungen und Widersprüche:
Zum Beispiel: Günter Grass beklagt, wir würden „weltweit gerade einen Höhepunkt der Bereicherung auf der einen und der Verarmung bis hin zur Verelendung auf der anderen Seite erleben“ und lobt dann Schröders Agenda-Politik als mutig und als überfällige Weichenstellung. Vermutlich durchschaut Grass gar nicht, dass die Agenda-Politik in Deutschland wesentlich zum Ausbau eines Niedriglohnsektors und damit zur Verarmung beigetragen hat. Konsequenterweise sieht er auch den Zusammenhang zwischen Agenda 2010 bedingter Niedriglohnpolitik bei uns und der Verarmung und Verelendung in südeuropäischen Staaten nicht.
Zum Beispiel: Besonders drollig ist die Vorstellung des 85-jährigen Schriftstellers zur möglichen Revision grundlegender gesellschaftspolitischer Entscheidungen. Ich zitiere eine längere Passage:
„Schröder hat mit der Agenda-Politik Mut bewiesen, aber nicht die Nerven gehabt, dieses Programm gleich bei den ersten Schwachstellen, die sich sehr rasch bemerkbar machten, zu korrigieren“.
Und weiter:
„Ich bin ein eingefleischte Revisionist und weiß, dass alles, auch jedes Unrecht, das durch eine Reform beseitigt werden soll, sofort ein neues Unrecht schafft. Die Reformer müssen dann offen dafür sein, dies zu erkennen und zu korrigieren.“
Wie soll das denn gehen, lieber Günter Grass?
Diese Vorstellungen von politischen Abläufen und Möglichkeiten eignen sich fürs Kabarett aber nicht für die politische Wirklichkeit. Durch die Schröder’sche und die vorherige Kohl’sche Reformpolitik wurden und werden Fakten geschaffen. Nicht einmal die Steuerbefreiung der Gewinne beim Verkauf von Unternehmen und Unternehmensteilen, die Schröder im Rahmen seiner Agenda-Politik zum 1.1.2002 eingeführt hat, ist bisher revidiert worden.
Lieber Günter Grass, man muss ein paar Fakten parat haben, selbst dann, wenn man nur ein Revisionist sein will.
Auch die Angriffe auf Lafontaine wegen seines Rücktritts im Jahr 1999 führt Günter Grass ohne Rücksicht auf die Tatsachen. Er behauptet, Lafontaine habe damals „eine Wende um 180° inszeniert“. Offenbar hat Günter Grass keine Ahnung von den damaligen Bewegungen und Kampagnen:
Von einer Wende um 180° durch Lafontaine kann keine Rede sein. Und wenn damals ein „schmieriger Verrat“ – so der Vorwurf von Grass an Lafontaine – stattgefunden hat, dann von Seiten Schröders und seinen Freunden an den Werten der SPD. Konsequenterweise haben damals viele SPD Mitglieder die Partei verlassen.
Dass Günter Grass entgegen den Fakten heute Falsches über Lafontaines Rücktritt behaupten kann, verdankt er einer fast schon wasserdichten Kampagne gegen Oskar Lafontaine und für Militäreinsätze und für die so genannte Reformpolitik. Dass Lafontaine hingeschmissen habe, dass er seine Partei verraten habe, ist tausendfach und im Verein von Rechtskonservativen, Sozialdemokraten und den dazugehörigen Medien in die Köpfe der Menschen gehämmert worden.
Wenn dann Günter Grass gegen Ende des Gesprächs feststellt, die „freiwillige Preisgabe einer unabhängigen und widerspruchsvollen Pressekultur sei zur Zeit die größte Gefahr die unserer Demokratie droht“, dann kann man angesichts seiner eigenen Nutzung und Abhängigkeit von Kampagnen dieser Medien nur noch weinen.
Günter Grass hat zum ersten Kanzlerwechsel 1969 beigetragen. Das war sehr verdienstvoll.
Günter Grass war 1969 als Kopf der Sozialdemokratischen Wählerinitiative (SWI) ein großer Redner und Wahlkampfhelfer der SPD. Damals hatte ich als Redenschreiber des Bundeswirtschaftsministers Karl Schiller und zugleich als sein Beauftragter für den wirtschaftspolitischen Teil des Wahlkampfes mit Grass zu tun, dann nach der Wahl und bis 1972 als Verantwortlicher für den Wahlkampf Willy Brandts und der SPD. Günter Grass hat ohne Zweifel bewundernswert mitgeholfen, nach 20 Jahren CDU-Herrschaft 1969 den Kanzlerwechsel zu schaffen und dann auch im Wahlkampf 1972 dazu beigetragen, der SPD neue Wählerschichten zu erschließen. Mit ihm zusammenzuarbeiten war angenehm und spannend. Aber dann habe ich damals schon die andere Seite kennen lernen müssen – immer wieder ein den laufenden Kampagnen zugetaner und damit enttäuschender Günter Grass.
Das begann schon 1972 und dann vermehrt 1973 und 1974. Günter Grass hat die spätestens 1972 massiv einsetzenden Intrigen gegen Brandt nicht erkannt und die Intriganten verkannt. Typisch dafür ist die Fehleinschätzung Herbert Wehners durch Günter Grass. Ein schöner Beleg dafür findet sich in einem Brief von Günter Grass an Willy Brandt vom 22. Dezember 1972. Dort beklagte er mit Recht die Fraktionsbildung innerhalb der SPD und meinte dann: „Nur wenn es Dir und Herbert Wehner gelingt, die gefährlichste Fraktion, nämlich die der Kanalarbeiter, aufzulösen, besteht Aussicht …“ Das schrieb Grass gerade mal wenige Tage, nachdem Herbert Wehner die Aufzeichnungen des kranken Willy Brandts zu den Koalitionsverhandlungen mit der FDP in seiner Aktentasche „vergessen“ hatte und zusammen mit Helmut Schmidt den Wahlsieg Willy Brandts an die FDP verschenkt hatte. Herbert Wehner hat seit 1970 unentwegt gegen Willy Brandt gestänkert. Die Vorstellung, Wehner wäre bereit, zusammen mit Willy Brandt die Kanalarbeiter, also die Volksausgabe der damals gerade gegründeten Seeheimer, aufzulösen, musste bei Brandt Verwunderung auslösen. Es ist eine Art Treppenwitz der SPD Geschichte.
Günter Grass dachte damals, seine Wahlkampf-Arbeit für die Sozialdemokratische Wählerinitiative prädestiniere ihn zu einer Art Sonderberater Willy Brandts. Willy Brandt hat darauf mit Zurückhaltung reagiert. Das ist in des Büroleiters von Brandt, in Reinhard Wilkes Termintagebuch „Meine Jahre mit Willy Brandt“ beschrieben. Günter Grass hat sich enttäuscht dann in die Reihen der Nörgler eingereiht. Er hat damals nachgebetet, was Teil der gängigen Aggressionen gegen Brandt war – dieser sei zwar stark in der Außenpolitik aber schwach in der Innenpolitik. Das ist eine Erfindung von Brandts innerparteilichen Gegnern und der parteipolitischen Konkurrenz. Und es ist typisch, dass sich auch Günter Grass in diese gängigen Vorurteile einbettet, so auch in dem in der Süddeutschen Zeitung abgedruckten Gespräch. Nebenbei: Die wirtschafts- und gesellschaftspolitische Erfolgsbilanz Willy Brandts habe ich in „Meinungsmache“ und bei anderen Gelegenheiten in den NachDenkSeiten beschrieben. Aber das ist vermutlich ein vergeblicher Versuch zur Korrektur von Vorurteilen. Wenn der politische Gegner, die innerparteilichen Gegner, die Medien und die Historiker den gleichen Unsinn sagen und schreiben, dann wird die Lüge zur Wahrheit und geht in die Geschichte ein (George Orwell).
Willy Brandt war damals, 1973 und 1974, von Günter Grass enttäuscht. Später sprach er auch im Blick auf Grass von Klugscheißern – eine Verbalinjurie mit Wahrheitsgehalt.
Zusammenfassung und Fazit:
P.S.: Das Grass Interview in der Süddeutschen Zeitung stammt aus einem in diesen Tagen erscheinenden Buch über August Bebel mit dem Titel „Was würde Bebel dazu sagen?“. Nachdem das Grass-Interview erschienen ist, werde ich mir erlauben, meinen Text für dieses Buch in den nächsten Tagen auf den NachDenkSeiten zu veröffentlichen. Wenn die Süddeutsche Zeitung oder ein anderes Blatt den Text veröffentlichen will, gerne.
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