Ich drücke mich vornehm aus: unsere Regierenden sind nicht mehr ganz bei Trost.
Unter der Überschrift „Bogen des Missvergnügens“ berichtet die Financial Times am 30.8. von einem gemeinsamen Auftritt der Bundeskanzlerin und des Vizekanzlers Müntefering. Selbiger meinte: “Wir werden im Moment gemessen an dem, was im Wahlkampf gesagt wurde. Das ist unfair.” Ich dachte, ich lese falsch. Aber, Sie lesen richtig. Unsere Regierenden werden immer dreister. Sie beklagen sich darüber, dass wir uns der Wahlkampfaussagen erinnern.
Zunächst der einschlägige Bericht aus der Financial Times:
Es ist Müntefering, der wenigstens einen kleinen Einblick gewährt in einen der möglichen Verursacher der tief hängenden Mundwinkel. “Wir werden im Moment gemessen an dem, was im Wahlkampf gesagt wurde”, stellt er fest. “Das ist unfair.” Das Lachen im Saal, das daraufhin aufkeimt, lässt seine ernste Miene zu einer bitterernsten werden. Unfair sei das, weil dazwischen ein Ereignis gewesen sei, “die Bildung der großen Koalition”.
Einfältigen Parteisoldaten könnte selbst dieses abwegige Argument noch einleuchten. Deshalb will ich an wenigen Punkten erläutern, wie abwegig diese Argumente sind:
- Mehrwertsteuererhöhung:
Im Programm der SPD stand nicht, dass die SPD eine Mehrwertsteuererhöhung will. Mit der Ablehnung der Mehrwertsteuererhöhung hat sie sogar kräftig Wahlkampf gemacht. „Merkel Steuer“ nannte sie die Absicht der Union. Die CDU wollte 2% Erhöhung. Die beschlossenen 3% sind nach Auffassung von Müntefering offenbar die Folge der großen Koalition. Diese Logik erschließt sich nur ihm: die Mitte aus 0 und 2 ist = 3. Rechnen a la Müntefering! - Beide Parteien waren durch ihre Programme nicht darauf verpflichtet, keine die Konjunktur fördernde Makropolitik zu betreiben. Auf diesem Feld hätten sie gemeinsam Akzente setzen können. Zwei Politiker der Union haben der SPD zur Jahreswende das zur Ankurbelung der Binnennachfrage unter anderen Notwendige sogar auf dem Silbertablett serviert: Sowohl Bundeswirtschaftsminister Glos (CSU) als auch der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers (CDU) warben dafür, dass die Löhne wieder steigen sollten. Die SPD hätte die ausgestreckte Hand nur ergreifen brauchen.
- Im SPD-Wahlprogramm hatte nach meiner Erinnerung nicht gestanden, dass das Renteneintrittsalter jetzt schon auf 67 Jahre erhöht werden solle. Eine solche Forderung kam eher von der CDU/CSU. Aber Müntefering ergriff die Initiative und setzte die Erhöhung des Renteneintrittsalters durch, obwohl heute nicht einmal die Fünfzigjährigen in Arbeit kommen.
Alle drei Beispiele zeigen, wie abwegig die Einlassung von Müntefering ist. Weder die Erhöhung des Renteneintrittsalters noch die Untätigkeit in der Makropolitik noch die dreiprozentige Erhöhung der Mehrwertsteuer sind ein Zwangsergebnis der großen Koalition. Der Wahnsinn ist hausgemacht von den führenden Personen.