Nostalgisch produktiver Rückblick auf eine Tomi Ungerer-Kampagne für Willy Brandt und die SPD
In diesen Tagen genau vor 40 Jahren begann der Wahlkampf für die Bundestagswahl vom 19. November 1972. Eines der ersten Elemente des Wahlkampfes der SPD war eine Kampagne mit Motiven des Cartoonisten Tomi Ungerer. Wir dokumentieren Anzeigen und Poster dieser Kampagne für jene unter unseren Leserinnen/n, die Tomi Ungerer schätzen, die sich für die jüngere Geschichte interessieren oder auch für Sozialdemokratinnen/en mit einem Sinn für bessere Zeiten oder für jene, parteiübergreifend, die etwas für Wahlkämpfe lernen wollen. Albrecht Müller.
Das folgende ist die erste Anzeige:
Hier Anzeige 1 [PDF – 463 KB]:
Sie belegt, dass die SPD damals mit der innerparteilichen Diskussion offensiv und positiv umgegangen ist: „In Sachen SPD: Wir gegen uns.“ Wir[*] machten aus dem innerparteilichen Streit um Sachfragen ein Qualitätsmerkmal. Heute ist „Geschlossenheit“ das oberste Prinzip und zugleich das Aushängeschild unserer programmatisch müden etablierten Parteien.
Die Folgen sind überdeutlich: in diesen Parteien gibt es kaum mehr produktive Debatten über wichtige strittige Fragen. Entsprechend unsachlich ist die Willensbildung und entsprechend schlecht sind die politischen Entscheidungen.
In der unten angehängten Dokumentation sind acht Anzeigen und vier Poster zusammengestellt. Tomi Ungerer entwarf die Motive während einer Klausur in der Eifel. Dem war ein abendliches Briefing in der Nähe von Düsseldorf vorausgegangen. Es war bewundernswert, wie schnell und korrekt dieser damals in Kanada lebende Elsässer die sach- und wahlkampfrelevante Diskussion in Deutschland erfasst und verarbeitet hat.
Einige wenige Hinweise auf ein paar Details:
- In der Anzeige Nr. 2 [PDF – 455 KB] (rechte Spalte) taucht der auch heute immer wieder zitierte und kritisierte Satz auf: „Uns jedenfalls sind 5 % Preissteigerungen trotz allem lieber als 5 % Arbeitslosigkeit.“ Diese Aussage ist immer noch sachlich richtig, aber sie ist vom allgegenwärtigen Austeritätswahn niedergewalzt. Heute wissen wir, dass es bewusste Strategie der Monetaristen und neoliberalen Kräfte war, Arbeitslosigkeit zu schaffen. Wie es der konservative Zeitgenosse von Thatcher Sir Alan Budd treffend formulierte: man schuf eine Reservearmee von Arbeitslosen, um die Löhne zu drücken und die Profite in die Höhe zu katapultieren. (Siehe Zitat hier) Ich bin ein bisschen stolz darauf, dass wir schon vor 40 Jahren die Gegenposition zu diesem neoliberalen Wahn formuliert und öffentlich postuliert haben und auch damit eine Wahl gewonnen haben. Das wäre auch heute wenigstens im Ansatz möglich, wenn man sich zu der notwendigen Offensivität durchringen könnte. – Übrigens wird an diesem Vorgang auch noch sichtbar, dass die Inflationsangst der Deutschen nicht irgendwie – quasi genetisch – aus der Geschichte von 1923 auf heute überkommen ist, wie in der aktuellen Debatte gelegentlich insinuiert wird. Die Angst vor Inflation, ist, soweit sie existiert, propagandistisch erzeugt. Das war von Seiten der Agitatoren damals auch so gedacht. Auch das zeigt die Ungerer-Kampagne. Die SPD hat offensiv gekontert. Das war erfolgreich möglich.
- In der gleichen Anzeige rühmt sich die führende Regierungspartei SPD der enormen Lohn- und Gehaltssteigerungen. Das hätten spätere SPD-geführte Regierungen mal auch tun sollen, statt sich des Aufbaus des besten und d.h. des größten Niedriglohnsektors zu rühmen.
- In der Anzeige Nr. 3 [PDF – 512 KB] wird dokumentiert, wie früh sich die SPD dem Thema Umweltschutz und Lebensqualität zugewandt hat. Seit 1961. Dieses Kapital haben die Sozialdemokraten jämmerlich verspielt.
- In der Anzeige Nr. 4 [PDF – 487 KB] geht es um Einkommensverteilung und um die angebliche Gleichmacherei, um Steuerreform und um Erbschaftssteuer. Die SPD hatte im November 1971 ein Steuerreformkonzept verabschiedet inklusive einer Ökosteuer.
- In der Anzeige Nr. 7 [PDF – 537 KB] geht es um Staatsverschuldung. Dort wird ein Motiv für die Verschuldung des Staates genannt, das in neueren Betrachtungen dazu kaum auftaucht: Wenn viele öffentliche Aufgaben liegen geblieben sind wie Ende der sechziger Jahre nach über 20 Jahren CDU/CSU Herrschaft zum Beispiel der Umweltschutz, die Wasserversorgung, die weiterführende Bildung, der Hochschulbau, dann ist es richtig, den neuen Schub an wichtigen Investitionen zeitweilig über Kredite zu finanzieren.
- Anzeige Nr. 9 [PDF – 496 KB] zeigt, wie offensiv damals eine Regierungspartei mit Spekulanten umgegangen ist, damals war die Bodenspekulation ein großes Problem. Heute werden Spekulanten geduldet und hofiert, ihre Wettschulden werden auf Kosten des Steuerzahlers gerettet.
- In der Anzeige Nr. 10 [PDF – 561 KB] wird sichtbar, wie die SPD damals mit dem Vorwurf des Linksrucks umgegangen ist. Daraus könnte sie und auch die Linkspartei heute einiges lernen.
Der Wahlkampf endete mit dem bisher besten Ergebnisse SPD: 45,8 % der Zweitstimmen. Offensivität und Fortschrittlichkeit zahlt sich aus. Nähere Informationen auch in der Dokumentation und Analyse „Willy wählen 72“.
In den nächsten Wochen bis zum 19. November, dem damaligen Wahltermin, werde ich noch auf einige andere aktuelle Elemente des damaligen Wahlkampfes eingehen.
P.S.: Wenn Sie Freundinnen/e und Bekannte haben, die Tomi Ungerer schätzen, oder auch Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten kennen, die der Rückblick in bessere Zeiten nicht ärgert, sondern ermuntert, dann bitte schicken Sie diesen Text mit der Dokumentation per E-Mail einfach weiter. Danke.
[«*] Albrecht Müller war als Leiter der Abteilung Öffentlichkeitsarbeit beim Parteivorstand der SPD damals verantwortlich für den Wahlkampf Willy Brandts und der SPD. Die Kampagne war von der Werbeagentur ARE, konkret von Harry Walter und Nils Johannisson, entwickelt und in Zusammenarbeit mit den Verantwortlichen bei der SPD umgesetzt worden.
Anhang:
Dokumentation von acht Anzeigen und vier Postern der SPD im Wahljahr 1972 auf der Basis von Cartoons von Tomi Ungerer:
- Anzeige Nr. 1: In Sachen SPD: Wir gegen uns. [PDF – 463 KB]
- Anzeige Nr. 2: Krise, wo bist du? [PDF – 455 KB]
- Anzeige Nr. 3: Die Wirtschaft blüht. [PDF – 512 KB]
- Anzeige Nr. 4: Das Märchen vom reichen Onkel, seinen armen Erben und der bösen SPD. [PDF – 487 KB]
- Anzeige Nr. 7: Pappkamerad Staatsbankrott. [PDF – 537 KB]
- Anzeige Nr. 8: Rettet die Marktwirtschaft vor ihren Rettern. [PDF – 496 KB]
- Anzeige Nr. 9: Rosazeiten für Bodenspekulanten. [PDF – 496 KB]
- Anzeige Nr. 10: Wer hat Angst vorm bösen Juso? [PDF – 561 KB]