Außerordentlicher Parteitag der SPD: Ohne Fenster nach draußen
Im „Estrel Convention Center“ im Stadtteil Neukölln, dem Armenhaus Berlins, hat die SPD mit 95,07 % der Delegiertenstimmen Kurt Beck zum Nachfolger des aus gesundheitlichen Gründen abgetretenen Matthias Platzeck als dritten SPD-Vorsitzenden innerhalb von zwei Jahren gewählt.
Oh hätten sich die Delegierten, statt sich in einen Edel-Bunker zurückzuziehen, sich einmal in diesem Berliner Stadtteil umgesehen oder die nahe gelegene Rütli-Schule besucht, dann hätten sie einen realistischeren Blick auf die Größe der „Baustelle“ (Beck) werfen können, vor der die Sozialdemokratie steht! Aber der fensterlose Saal ließ keinen Blick nach draußen zu, das war geradezu symbolisch: Beck zog als letzter vorzeigbarer Kandidat alle ihm zur Verfügung stehenden Register, um die „Seele der Partei“ zu streicheln, aber die Wirklichkeit des Landes und der Politik der SPD in der Großen Koalition blieben außen vor. Von der „Kraft der Erneuerung“, dem Motto des Parteitags, war wenig zu spüren.
Kurt Beck ist kein rednerisches Talent, wie Gerhard Schröder, er kann auch keine kurzen Sätze, wie Franz Müntefering und schon gar nicht liegen ihm die emotionalen Themen, womit Matthias Platzeck anrühren konnte. Also arbeitete er in fast eineinhalb Stunden ein Stichwort und einen Allgemeinplatz nach dem anderen von seinem Sprechzettel ab, bodennah, ohne Höhenflüge, mit Beispielen aus seinem Leben. Weil ich den Wortlaut seiner Kandidatenrede noch nirgendwo gefunden, hier ein Kurzprotokoll:
- Zusammenarbeit mit allen und Lob für alle und jeden; Parteirat, Präsidium, Fraktion (Struck und Scholz), Europaparlament (Schulz), Regierungsmitglieder besonders loben. „Wir können nur gemeinsam weiterkommen“;
- Dank an scheidenden Platzeck. Auch Generalsekretär Heil loben, macht einen „hervorragenden Job“. (Signal: Er darf weitermachen.)
- Ich weiß, wo ich herkomme. Erzählungen aus dem Leben. (Signal: Ich verkörpere die Partei der kleinen Leute.)
- Rheinland-Pfalz nicht Deutschland (Signal: Ich bleibe Ministerpräsident)
- Öffnung nach außen zu allen; aus der „Tiefe der Wurzeln“ der SPD erwächst „die richtige Grundlage, um die richtigen Antworten zu finden“.
- Friede, Gerechtigkeit, Solidarität, Friedensliebe; (Signal: traditionelle Werte betonen),
- das Profil einer linken Volkspartei wieder erkennbar machen;
- mitten im Volk, nahe bei den Menschen;
- offene Diskussionskultur, aber keine Ränke und Streit, Breite der Partei wollen, Links von der SPD dürfe es keine vernünftige Partei mehr geben – „wir wollen diese Spektrum abdecken“ (an Willy Brandt erinnern)
- „Wir müssen ineinander mehr Vertrauen investieren“, sonst werde der Partei auch in der Öffentlichkeit zu wenig Vertrauen entgegen gebracht.
- Verlässlichkeit auch gegenüber dem Koalitionsvertrag;
- unser Koordinatensystem aktualisieren;
- wir sind die Partei der „erneuerten fortgeschriebenen sozialen Marktwirtschaft“;
- soziale Dimension lebendig halten;
- soziale Sicherheit im Alter und bei Krankheit;
- Innovationsfreundlichkeit;
- gesellschaftlicher Zusammenhalt, Kultur und soziale Verantwortung, nicht alles darf der Ökonomie untergeordnet werden; Respekt für die hochmotivierten Arbeitnehmer;
- nicht alles schlechtreden;
- wir erwarten, dass Unternehmen Verantwortung übernehmen;
- Arbeitnehmer haben Anspruch auf Anerkennung und gerechten Lohn;
- auch einfache Arbeit respektieren;
- Arbeitnehmer haben Respekt, Anerkennung und menschliche Behandlung verdient;
- starke handlungsfähige Gewerkschaften; Tarifautonomie und Mitbestimmung bewahren; Mut machen;
- faires Miteinander, Dialog und vertrauensvolle Zusammenarbeit;
- wir bieten den Repräsentanten der Wirtschaft an, vernünftig miteinander zu reden;
- das Gemeinwesen braucht einen angemessenen Anteil an dem, was in Deutschland erwirtschaftet wird; angemessene Rolle des Staates, nicht üppigen, alles beherrschenden Staat, aber handlungsfähiges Gemeinwesen. Der Sozialstaat brauche eine angemessene Finanzierung;
- soviel individuelle Freiheit wie möglich, es müsse jedoch auch geprüft werden, was das Individuum leisten könne, „es kommt auch darauf an zu wissen, wo die Grenzen dieser Entwicklung liegen“. (Wo liegen die eigentlich?)
- Effizienz kein Widerspruch zu sozialem Ausgleich; bei sozialer Sicherheit sind die demografische Entwicklung und die Lohnkosten zu beachten; große Lebensrisiken durch solidarische Systeme absichern, aber auch Kapitaldeckung;
- vorsorgender Sozialstaat, jetzt beginnen und Weichen stellen; Ältere in kreativer Weise in die Gesellschaft einbeziehen;
- weder Multikulti, noch Abgrenzung – dem anderen mit Respekt begegnen, aber wir erwarten auch, dass Migranten unserer Kultur mit gleichen Maßstäben begegnen, nein zu dümmlicher Gesinnungschnüffelei;
- innere und äußere Sicherheit, aber auch darauf achten, dass innere Freiheit, Liberalität nicht schrittweise kaputt gemacht werden. Unterscheidung zwischen innerer und äußerer Freiheit nicht aufgeben;
- Dritte Welt: Anstrengungen verstärken;
- Ohne internationalem Auftrag und gegen die Verfassung kommt ein Auslandseinsatz der Bundeswehr nicht in Frage;
- Familie: Elterngeld ist sozialdemokratische Programmatik
- Bildung: beschämend, dass schichtenspezifische Durchlässigkeit eher rückläufig;
- Nicht akzeptabel, wenn nicht genug Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt werden;
Schlusskadenz:
- 143 Jahre SPD, „Nazispuk“ widerstanden, auch bei Zwangsvereinigung in der DDR für unsere Ideale gerade gestanden.
- Bekenntnis für die gemeinschaftliche Verantwortung für die Menschen in östlichen Ländern, gleichwertige Chancen.
- Erneuerte soziale Marktwirtschaft erhalten.
- Wir brauchen Mehrheiten, deshalb Machtbewusstsein, Hoffnung für bevorstehende Wahlauseinandersetzungen verbreiten, (Wowereit, Ringstorff)
- Tremolo: Erinnerung an den 84-jährigen Vater, ein früherer Maurer: „Junge, das ist eine große Baustelle.“
- Gemeinsamkeit, Kraft haben, zusammenzustehen, dann Kraft, auch wieder die bestimmende Kraft in Deutschland zu sein.
So oder so ähnlich dürfte der Sprechzettel von Kurt Beck für seine Kandidatenrede ausgesehen haben und knapp 90 Minuten hat er sich daran abgearbeitet. Der Beifall blieb artig moderat. Man hat als Delegierter inzwischen ja Routine.
Konkreteres als das Folgende konnte man beim besten Willen nicht heraushören:
- Es sei falsch Freiheit und Gerechtigkeit in ein schiefes Verhältnis zu bringen. Es gehe um Freiheit und Gerechtigkeit.
- Chancengerechtigkeit und Verteilungsgerechtigkeit sei kein Widerspruch, „Wir ringen um beides“. (Ein bisschen von den Modernisierern abrücken.)
- Deutschland ist kein Billiglohnland, wir wollen Hochleistungsland bleiben;
- Niedriglohnsektoren sollen abgeschafft werden; (das wäre wirklich mutig!) “Wir wollen keine Gesellschaft, wo man fünf Jobs braucht, um die Familie über die Runden zu bringen.”
- Wer vollschichtig arbeitet, hat Anspruch darauf, anständig leben zu können.
- Mindestlöhne, wo Tarifverträge nicht ausreichen,
- Kombilöhne „in differenzierter Weise“,
- Gewerkschaften müssen im Öffentlichen Dienst auf gleicher Augenhöhe verhandeln, gegen eine Strategie, die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen, es darf keinen tariffreien Raum im Öffentlichen Dienst geben. Baldiger fairer Tarifvertrag.
- Gesundheitsreform: Jeder wird versichert sein, Gesundheitsleistungen für jeden in vollem Umfang, jeder soll vom medizinischen Fortschritt profitieren, jeder trägt die Kosten nach seiner Leistungsfähigkeit, Gerechtigkeit und Bezahlbarkeit, gesteuerter Wettbewerb
- Im Irankonflikt auf diplomatische Lösungen setzen, keinesfalls auf militärische Optionen.
- Es darf nicht wieder so sein, dass Eltern die ein oder zwei Kinder haben, diese nicht wieder studieren lassen können, es darf nicht so sein, dass wir da mit Studiengebühren wieder einen oben drauf legen.
Auf der Website der SPD konnte man danach lesen: „Mit einer kämpferischen und stark programmatisch geprägten Rede hat Kurt Beck auf dem SPD-Parteitag für Geschlossenheit und Selbstvertrauen seiner Partei geworben.“
Wo war da Kampf und wo war Programm?
Zur CDU kam nichts außer einem Hinweis auf deren Leipziger Parteitag und dass die Wähler eine klare Entscheidung getroffen hätten, dass sie Merz und Kirchhof nicht wollten. Merkel blieb ausgespart. Über die FDP wollte Beck lieber erst gar nicht reden und den Grünen warf er vor, dass sie der FDP immer ähnlicher würden.
Wo war da Orientierung der Partei für die sozialdemokratischen Regierungsmitglieder?
Die SPD werde erkennbar bleiben, „weil in dieser Koalitionsvereinbarung so viel drin steht von unserer Handschrift.” (Aha!)
Franz Müntefering, Peer Steinbrück und Frank-Walter Steinmeier wurden ausdrücklich gelobt. (Signal: Wir sind auf dem richtigen Weg. Kein Änderungsbedarf.)
Grotesk wurde es gar, als Beck die Sparpolitik Steinbrücks mit den Worten unterstützte, wenn wir jetzt in „besseren Zeiten den Haushalt nicht in Ordnung bringen, dann handeln wir unsolidarisch“ gegenüber der jüngeren Generation. Wo sieht eigentlich Kurt Beck diese „besseren Zeiten“?
Auch zum Reizthema Unternehmenssteuerreform blieb Beck noch vager als der Leitantrag: Es bleibe bei der Koalitionsvereinbarung: Eine vernünftige und verantwortliche Reform zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, rechtsform- und finanzierungsneutral, Einschränkung der Gestaltungsmöglichkeiten, nachhaltige Sicherung der Steuerbasis.
Die von Steinbrück vollends zur Karikatur abgeschmolzene „Reichensteuer“ wurde von Beck verteidigt, als könne man damit, die zurückliegende Steuersenkungsorgie und die aktuelle Kürzung der Pendlerpauschale, die Mehrwertsteuererhöhung, die Kürzung der Sparerfreibeträge, die höhere Versicherungssteuer, den früheren Wegfall des Kindergeldes vergessen machen.
Geradezu ein Armutszeugnis war es, dass Beck mit keinem Wort auf die Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik einging. Kein Satz zur gewerkschaftlichen Kritik des DGB-Vorsitzenden Sommer in dessen Grußwort.
Nichts zur Rente mit 67, nichts zu Hartz IV, nichts zu den gerade zurückliegenden Steuerentscheidungen der Regierung und ihren Belastungen gerade für die Lohnempfänger.
Beck zitierte einen Brief eines Genossen, in dem dieser beklagte, dass in den letzten 10 Jahren die Parteibasis ins Abseits gedrängt worden sei. Er verwies auf die Wahlergebnisse, die Anlass zur Sorge seien und auf die Tatsache, dass seit 1997 der SPD 37% ihrer Mitglieder abhanden gekommen seien.
Seine einzige Antwort darauf war der Appell, dass die SPD bis zum nächsten Parteitag mit einer Werbeaktion 57.000 neue Mitglieder gewinnen müsse. (Warum eigentlich gerade 57.000?)
Kein Wort über die Gründe von Wahlniederlagen, kein Wort darüber, warum die SPD diesen Substanzverlust erlitten hat.
Auffällig war, dass Beck weder das Wort „Reform“ noch die Agenda 2010 in den Mund genommen hat und Schröder hat er nur an einer Stelle im Zusammenhang mit dem Irak-Krieg angesprochen. Er hat aber nicht die geringste Andeutung gemacht, wo er den bisherigen erfolglosen Kurs korrigieren möchte. Wo war da „Führungskraft“? Und vor allem wohin soll geführt werden?
Der einzige erkennbare Wandel von Schröder über Platzeck zu Beck war eigentlich nur, dass statt der Farbe „Umbra“ an der Rückwand, wieder das traditionelle hellblau leuchtete.
„Es war ein guter Parteitag“ sagte Beck im Schlusswort. Man ist bescheiden geworden. Jedenfalls kann jetzt niemand mehr enttäuscht sein von Kurt Beck und der SPD. Das kann ja auch eine Strategie sein, bekanntlich darf man die Pfälzer nicht unterschätzen.