Umbruchsbewältigung – Soziologie: eine Wissenschaft (be-)sucht die Gesellschaft
Drei Tage lang war in Frankfurt am Main das „Amt für Umbruchsbewältigung“ geöffnet. In „Amtsstuben“ saßen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Soziologie, der Politologie, der Jurisprudenz. Wer die „Sprechstunde“ mit ihnen suchte, zog draußen im Flur eine Nummer und wartete, bis sie aufgerufen wurde. Jeweils zwanzig Minuten lang diskutierten mit jedermann unter anderen die Professoren für politische Theorie, für Sozialphilosophie und Rechtstheorie, Rainer Forst, Axel Honneth und Klaus Günther, die zu den bekanntesten intellektuellen Köpfen der Universität zählen. Die Neugier war groß, auf beiden Seiten. Von Jutta Roitsch
Der öffentliche Auftritt gehörte zu einer Inszenierung des Frankfurter Kunstvereins und des universitären Exzellenzclusters „Die Herausbildung normativer Ordnungen“. Das Highlight im Rahmen der Ausstellung über den künstlerischen und ästhetischen Widerhall von Demonstrationen strahlte hell aber kurz. Stellten sich die Wissenschaftler der Gesellschaft oder ließen sich die Exzellenzen nur kurz besichtigen? Philosophen und Leibniz-Preisträger zum Anfassen, für ein paar Minuten zumindest: Ein flüchtiger Eindruck für alle Beteiligten? Oder versucht eine Wissenschaft, die den Anschluss an die Gesellschaft verloren hat, ihre eigene Umbruchsbewältigung? Ergibt ein Puzzle aus aktuellen Eindrücken und Einsichten ein Bild?
Seit geraumer Zeit ist zu beobachten, dass Soziologen in Frankfurt, Kassel oder Jena ihre Rolle in der Gesellschaft und ihren öffentlichen Auftrag überprüfen, um nicht zuletzt aus dem übermächtigen Schatten des Jürgen Habermas heraus zu treten, der zur Zeit der einzige, öffentlich wahrgenommene Intellektuelle in Deutschland ist, auch wenn er in keiner Talkshow auftaucht. Sie treibt ein Unbehagen an, zu den Umbrüchen und Entwicklungen wenig überzeugende Antworten gegeben zu haben und zu geben. Axel Honneth, Sozialphilosoph und seit einem Jahrzehnt Direktor des Instituts für Sozialforschung Frankfurt, gehört zu denjenigen, die das Schweigen der Intellektuellen öffentlich beklagen. Zur Diskussion über den Sozialstaat hätten sie nichts beizutragen, räumte er in großer Offenheit (vor drei Jahren) ein: „Eine Ursache könnte darin liegen, dass wir uns höchst unklar darüber sind, wie eine angemessene sozialstaatliche Politik in den nächsten Jahrzehnten jenseits von Hartz 4 und des alten sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaatsmodells beschaffen sein könnte. Wir sind vielleicht noch gar nicht so weit. Uns fehlen vertretbare, gut begründete Antworten.“ [1] Mit „wir“ und „uns“ meinte Honneth nicht zuletzt sich und seine Kollegen aus dem traditionsbehafteten Institut Adornos und Horkheimers, die sich mit (nach wie vor) linkem Selbstverständnis in früheren Jahrzehnten öffentlich oder als Berater von politischen Parteien zu Wort gemeldet haben.
An diesem Begriff von Öffentlichkeit scheiden sich die Geister bis heute scharf. Der Intellektuelle als politischer Einmischer, Politikberater gar ist dem Kasseler Soziologen und leitenden Mitarbeiter am Hamburger Institut für Sozialforschung Heinz Bude eher fremd. Öffentliche Soziologie hält für ihn „Distanz zu den sozialwissenschaftlichen Forschungen im Dienste eines politischen Auftrags“. Die institutionellen Auftraggeber trübten „die Unvoreingenommenheit des soziologischen Blicks“. Nach Bude sucht die öffentliche Soziologie „nicht nach Vorschlägen, wie man es besser machen kann, sondern stellt nüchtern dar, was Sache ist. Sie will die Öffentlichkeit in erster Linie über die gesellschaftlichen Verhältnisse aufklären, in denen wir leben, und nicht Rechtfertigungen für politische Akteure liefern, die sich in bester Absicht eine bestimmte Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse auf die Fahnen geschrieben haben.“ [2] Budes soziologischer Blick gilt dem „Problem der Exklusion“ oder den „Ausgeschlossenen“ in der deutschen Gesellschaft. Von Nüchternheit und Unvoreingenommenheit ist in seinen Büchern allerdings wenig zu spüren. Er schlägt sich auf die Seite der „Bildungsarmen“, der Migrantenkinder, der Jungen mit dem „n.d.H.“-Siegel, der nicht deutschen Herkunft, die Lehrer und Betreuer zur Verzweiflung bringen und mit verächtlichem Lachen das pädagogische System austricksen. Ihre Widerständigkeit gegen pädagogische und schulpolitische Normen, mit der sich die Jugendlichen das Etikett „ausbildungsmüde“ einhandeln, verteidigt Bude gegen die „Gemeinde von Bildungsforschern“ und die „so selbstgewissen Klassifikateure von PISA“. Er wettert gegen das PISA-Konsortium als „Teil eines bildungsindustriellen Komplexes“ [3], durch dessen Wirken eine technokratische Gesellschaftsauffassung über die liberale gesiegt habe. Technokratisch ist für ihn das deutsche Bildungs- und Ausbildungssystem mit seiner Selektion, seinem Beharren auf Zertifikaten, Abschlüssen und Kompetenzmessungen. Liberal wäre für ihn eine Gesellschaft, die kulturelle und religiöse Vielfalt, Differenz und vor allem unterschiedliche Lebensentwürfe nicht nur akzeptiert, sondern respektiert. Schließlich sortiere sich in Deutschland die Bevölkerung neu, in ihr wachse die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit, wobei „sich die soziale Ausgrenzung durch die Mehrheitsgesellschaft mit der bewussten Selbstausgrenzung von Einwanderergruppen mischt“ [4]. Budes „öffentliche Soziologie“ sind Auftritte und Schriften, mit denen er andere wissenschaftliche Disziplinen und Berufsstände zum Streit herausfordert. Aufgenommen haben die Bildungsforscher den Fehdehandschuh bisher nicht, zumindest nicht vor den Augen der Öffentlichkeit. Ein fruchtbarer Dialog zwischen den unterschiedlichen geistes- und gesellschaftspolitischen Forschern findet nicht statt. Bis heute werden Chancen vertan, wie jüngst auf einer Konferenz „Spaltung der Arbeitswelt – Prekariat für alle?“ des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen, auf der öffentlich nach Antworten zu Befunden der Bildungs-, Ausbildungs- und Arbeitsgesellschaft gesucht wurde. Die Göttinger blieben mehr oder weniger unter sich, nicht einmal die von Heinz Bude oder Klaus Dörre (Jena) mit angestoßene Kontroverse über Ursachen und Dynamiken der Exklusion und der prekären Lebenslagen in Deutschland fand statt. Die Kontrahenten innerhalb der Soziologenzunft tauchten im Programm nicht auf.
Auf einen bemerkenswerten anderen Dialog allerdings hat sich Bude trotz seiner Vorbehalte gegenüber der institutionellen Auftragsforschung eingelassen. Gefördert durch das Programm des Bundesbildungsministeriums „Geisteswissenschaften im gesellschaftlichen Dialog“ erforschten zwischen 2007 und 2010 Soziologen, Journalisten, Fotografen, Schauspieler und Stückeschreiber „ÜberLeben im Umbruch“ [5]. Am Beispiel der einstigen brandenburgischen Industriestadt Wittenberge trugen sie „Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft“ zusammen. Wie im „Amt für Umbruchsbewältigung“ fanden auch hier Wissenschaft und Kunst, Aussteller und Darsteller zusammen: allerdings zogen die Wittenberger nicht freiwillig und voller Neugier eine Nummer, um mit den Forschern und anderen Akteuren ins Gespräch zu kommen. Sie wurden drei Jahre lang beobachtet, befragt, fotografiert, protokolliert. Und das in einer Stadt, die in den zwanzig Jahren seit der deutschen Vereinigung die Hälfte ihrer Einwohner verloren hat und schlagartig alles, was ein Jahrhundert lang Leben und Dasein in der Stadt an der Elbe prägte: die einstige VEB-Vorzeigefabrik „Veritas“ (früher Singer Nähmaschinen). Das Experiment Wittenberge erinnert nicht zufällig an die Forschungen der Wiener Sozialwissenschaftlerin Marie Jahoda aus den späten zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Die Studie über die Arbeitslosen von Marienthal gehört zu den großen sozialwissenschaftlichen Erzählungen, wobei die Ausgeforschten nichts über die Identität und Absichten der Forscher erfuhren. In Wittenberge hatten die Geisteswissenschaftler den gesellschaftlichen Dialog, den sie befördern sollten, dagegen am Ende nicht mehr in der Hand. Heinz Bude schreibt dazu eher verklausuliert: „ In einer sich massenmedial informierenden und vielstimmig sich verständigenden Gesellschaft kann die Wissenschaft dann öffentliche Thematisierungen anstoßen, wenn sie im Massenmedium eine Botschaft als Flaschenpost unterbringen kann, deren Rezeption sie dann allerdings nicht mehr unter Kontrolle hat.“
Anstoß, Flaschenpost – da ist von der öffentlichen Soziologie als Medium der Aufklärung nicht mehr viel geblieben. Vielmehr hielten Politiker und Medien den Wissenschaftlern vor, Klischees zu bedienen („Verliererstadt“). Und die (Theater-) Kunst sah sich mit dem Vorwurf konfrontiert, dem Realitätskult des Wahren, Echten und Wirklichen auf den deutschen Bühnen zu huldigen: das Elend sozialer Randgruppen oder der Ausgeschlossenen, der Hartz 4ler und der herumhängenden Jugendlichen als Performance. Der risikoreiche Grenzgang zwischen „teilnehmender Beobachtung“ und Voyeurismus kann inzwischen überprüft werden: Die Veröffentlichungen und die Theaterstücke, die aus dem Projekt Wittenberge entstanden sind, sind eindrucksvolle Dokumente eines intensiven Blicks auf eine Gesellschaft im Umbruch.
Einen grundsätzlich anderen Weg, das gesellschaftspolitische Schweigen der Soziologen zu durchbrechen, schlagen die drei Jenaer Hochschullehrer Stephan Lessenich, Klaus Dörre und Hartmut Rosa ein. Sie besinnen sich in ungewöhnlicher Form auf das, was die Soziologie als Disziplin „in besonderer Weise ausgezeichnet hat: das außeralltägliche Geschäft der Gesellschaftskritik.“ [6] Sie habe „allenfalls noch im soziologisch geschulten Feuilleton, kaum aber mehr im akademisch-professionellen Soziologenmilieu ihren Platz“. Dem Armutszeugnis, das die drei Jenaer ihrer Zunft ausstellen, setzen sie die „innerdisziplinäre Bemühung um eine Wiederbelebung und Wiederaneignung des gesellschaftskritischen Potentials der Soziologie“ entgegen. Lessenich, Dörre und Rosa lösen dieses Bemühen in ungewöhnlicher Weise ein. Sie beziehen jeweils getrennt Positionen, kritisieren diese gegenseitig, antworten auf die Kritiken. Diese Debatte, die sich schlicht „Soziologie-Kapitalismus-Kritik“ nennt und in bester verlegerischer Tradition als suhrkamp taschenbuch wissenschaft auf dem Markt ist, gibt einen Einblick in einen intellektuellen Diskurs, wie er in Deutschland jahrzehntelang nicht stattgefunden hat.
Wie aber begründen die Soziologen ihn, wie grenzen sie ihn ab zu den Feuilletons und der demokratischen Öffentlichkeitsarbeit des „normalisierten Intellektuellen“ (Honneth)? Es gehe „um die Kritik gesellschaftlicher Selbstverständnisse, Selbstverständlichkeiten, um eine Kritik, die „Normalitäten“ erschüttert“ [7]. Der Anspruch der Jenaer ist hoch, die Traditionslinie, die sie verfolgen auch: „Der Soziologe als Gesellschaftskritiker ist Mythenjäger“, schreibt Lessenich in Anlehnung an Norbert Elias. Ob die Mythenjäger es aber schaffen, eine solche im linken Spektrum angesiedelte Gesellschaftskritik als „Jenaer Schule“ zu begründen? Sie wagen sich vor, folgen aber auch Axel Honneths Mahnung zu selbstkritischer Bescheidenheit und seinem Setzen auf „die Fernwirkung eines allmählich wachsenden Zweifels“ [8].
Ob die intellektuelle Anstrengung der drei Hochschullehrer aufgenommen wird, entscheidet letztlich die wissenschaftliche Zunft, die bisher eher misstrauisch beäugt, wenn Ausbrüche und Grenzgänge gewagt werden. Über die Verantwortung von Wissenschaft im allgemeinen, der Soziologie im besonderen, öffentlich zu streiten, ist aus der Mode gekommen, spätestens seit die letzten Reste einer solchen gesellschaftlichen Verpflichtung aus den Hochschulgesetzen im Bund und in den Ländern entfernt worden sind. Vielleicht aber verhilft eine neue „Modeerscheinung“, die blühende Kapitalismuskritik in Feuilletons und Talkshows, sowohl dem „Amt für Umbruchsbewältigung“ als auch der Debatte im Suhrkamp Taschenbuch dazu, in der Universität Frankfurt oder Jena nachhaltige Spuren zu hinterlassen. Es könnte immerhin auch sein, dass heutige Studentinnen und Studenten von der Soziologie eine Auseinandersetzung mit Gesellschaftsmodellen jenseits des real existierenden Kapitalismus erwarten. Die Anfänge einer öffentlichen Soziologie und einer Rückbesinnung auf die kritische Gesellschaftsanalyse sind bemerkenswert. Nur Mut, möchte man allen Beteiligten wünschen.
Hinweis WL: Zu Heinz Budes „Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft“, siehe die Rezension von Christian Girschner, siehe darüber hinaus vom selben Autor „Mit Blindheit geschlagen: Wie Marxisten dem neoliberalen Soziologen Heinz Bude zu einem linken Image verhelfen“ und „Krieg dem Pöbel“. Die neuen Unterschichten in der Soziologie deutscher Professoren von Hans Otto Rößer auf den NachDenkSeiten.
[«1] Axel Honneth im Gespräch mit Ulrike Jaspers, in: Forschungsjournal der Goethe-Universität, 2/2009,S.73
[«2] Heinz Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum einer gerechten Gesellschaft, 2008, S.7 ff
[«3] a.a.O., S.102 ff
[«4] a.a.O., S. 64
[«5] Heinz Bude, Thomas Medicus, Andreas Willisch (Hg.), ÜberLeben im Umbruch, 2011
[«6] Klaus Dörre, Stephan Lessenich, Hartmut Rosa, Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte, 2009, S. 127
[«7] a.a.O., S. 128
[«8] a.a.O., S. 177