Sigmar Gabriels intellektueller Offenbarungseid
Es ist schon ein kleines Kunststück, sich selbst in einem zweiseitigen Aufsatz in gleich mehreren Kernpunkten zu widersprechen. Dieses kleine Kunststück ist dem SPD-Vorsitzenden Gabriel in seinem unsäglichen Debattenbeitrag im FAZ-Feuilleton gelungen, den Albrecht Müller bereits gestern kommentiert hat. Mehr noch – Gabriel widerspricht sich nicht nur selbst, sondern auch dem erst letzte Woche verabschiedeten Positionspapier der rot-grünen Schattenregierung, das er höchstpersönlich mitunterzeichnet hat. All dies wäre eigentlich nur ein weiteres Indiz für den maroden Zustand der SPD, ginge es dabei nicht um so elementare Fragen wie die ökonomische und politische Zukunft Deutschlands und Europas. Wenn man sich die künftigen potentiellen Regierungskoalitionen anschaut, kann einem da nur angst und bange werden. Von Jens Berger
„Si tacuisses, philosophus mansisses“ (Hättest Du geschwiegen, hätte man Dich weiterhin für einen Philosophen gehalten) – selten traf dieser bekannte Aphorismus so sehr ins Schwarze wie bei Sigmar Gabriels verunglücktem Versuch, sich in die vielfach gelobte Debatte des FAZ-Feuilletons einzumischen und dabei indirekt mit den Federn seiner Vorredner zu schmücken. Gabriel besitzt sogar die Chuzpe, sich gleich in der Einleitung auf den Philosophen Habermas zu berufen und dessen aufrüttelnden Weckruf zur Verteidigung der Demokratie inhaltlich weiterzuführen. Was Gabriel in seinem Aufsatz schreibt, lässt jedoch vermuten, dass er Habermas nicht einmal im Ansatz verstanden hat. Kritisiert Habermas die Erpressung der Politik durch die Finanzmärkte, erdreistet sich Gabriel, exakt diese Erpressung zum Kernelement seiner Argumentation zu machen, indem er fordert, dass „den Märkten das Vertrauen in die Verlässlichkeit und den Willen zum gemeinschaftlichen Handeln in der Währungsunion zurückgegeben“ werden müsse. Dies klingt nicht ganz so plump wie Angela Merkels Forderung nach einer „marktkonformen Demokratie“, bedeutet im Kern aber nichts anderes, nämlich die Finanzmärkte zum eigentlichen Souverän der Politik zu machen.
Während Sigmar Gabriel in einigen Passagen seines Aufsatzes fordert, dass sich die Politik an den Interessen der Märkte zu orientieren habe, widerspricht er sich wiederum in anderen Passagen selbst, in dem er das exakte Gegenteil fordert. Die hohe Kunst des „Von-sich-selbst-Distanzierens“ beherrscht offenbar nicht nur Günther Oettinger, sondern auch Sigmar Gabriel – und dies in Perfektion. Während er an einer Stelle nationale Alleingänge als Hauptursache der Eurokrise auszumachen glaubt, kritisiert er an einer Stelle die deutsche Regierung, dass sie in den jetzigen „guten Zeiten“(sic!) nicht die Staatsverschuldung durch weitere Sparprogramme abbaut. Offenbar geht auch Sigmar Gabriel ökonomischer Sachverstand nicht über das Modell der Schwäbischen Hausfrau hinaus. Wer soll denn bitte in einer Zeit, in der jeder ernstzunehmende Ökonom vor einer kommenden Rezession in der Eurozone warnt, für einen Wachstumsimpuls sorgen, der die schlimmsten Folgen vielleicht noch abfedern könnte, wenn nicht das wirtschaftlich stärkste Mitgliedsland, das in der Tat das einzige Euroland ist, welches überhaupt noch einen nennenswerten Spielraum hat, um gegen die Krise anzukämpfen. Der Privatsektor ist durch jahrelange Lohnzurückhaltung nicht in der Lage, Wachstumsimpulse zu generieren, die Wirtschaft hält sich in einem derart unsicheren und investitionsfeindlichen Klima ebenfalls zurück. Wer, wenn nicht der Staat, soll auf das Gaspedal drücken, um den auf einem Bahnübergang stehengebliebenen Wagen von den Gleisen zu bekommen? Der Zug naht bereits und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass er rechtzeitig zum Stehen kommen könnte.
Wie kommt Sigmar Gabriel eigentlich auf die Idee, sich ohne Not und erkennbaren Grund, ausgerechnet als besserer Sparer von Angela Merkel abheben zu wollen? Wenn Gabriel Merkel wegen ihrer verengten Sichtweise, die jegliche Interaktion der nationalen Volkswirtschaften ausblendet, kritisiert, ist ihm nur schwerlich zu widersprechen. Wie glaubhaft können solche wohlfeilen Oppositionsreden jedoch sein, wenn er selbst genau die verengte Sichtweise an den Tag legt, die er bei Merkel kritisiert?
Andere Kritikpunkte an Gabriels Aufsatz hat Albrecht Müller gestern schon zusammengetragen. Hinzuzufügen wäre noch, dass Sigmar Gabriel sich in seinem Aufsatz auch in mehreren Punkten sehr deutlich den Forderungen eines zusammen mit den Grünen und Peter Bofinger erarbeiteten Positionspapier widerspricht. Weist das Papier ganz explizit darauf hin, dass die „einseitige Diagnose“, nach der die Eurokrise „ausschließlich auf eine unkontrollierte Verschuldung der Staaten“ zurückzuführen sei und dadurch gelöst werden könne, dass „sich alle Staaten konsequent darum bemühen, die Verschuldung so schnell wie möglich abzubauen“, das „Grundproblem der deutschen Strategie“ sei, kommt man nicht darum herum, Gabriels Aufsatz als Kampfschrift gegen diese Aussage zu interpretieren. Gabriel macht in seinem FAZ-Aufsatz ja noch nicht einmal den Versuch, sich von dieser „einseitigen Diagnose“ zu distanzieren. Im Gegenteil, sein Aufsatz ist vielmehr exakt das, was die Autoren des gemeinsames Positionspapier als intellektuelles Grundproblem brandmarken.
Auch in weiteren Punkten widerspricht der SPD-Vorsitzende dem gemeinsamen Positionspapier von SPD und Grünen diametral. Das Papier sieht in der Reaktion mit nationalen Sparprogrammen eine „der wichtigen Ursache der Krise“, während Gabriel die europäischen Regierungen dafür kritisiert, nicht noch mehr und noch konsequentere nationale Sparprogramme aufgelegt zu haben. Im Papier wird die Vorstellung, die Krise durch „Konsolidierungsmaßnahmen in den Problemländern“ stabilisieren zu können, als „naiv“ bezeichnet. Gabriel will nicht nur den „Problemländern“, sondern darüber hinaus auch noch Deutschland zu Konsolidierungsmaßnahmen verdonnern. Für eine solche Krisenlösungsstrategie haben die Autoren des Papiers noch nicht einmal einen Begriff übrig – „naiv“ wäre jedoch sicherlich noch schmeichelhaft. Das Papier der beiden Oppositionsparteien ist mit der Überschrift „Der Euroraum darf nicht an der Engstirnigkeit der deutschen Regierung scheitern“ überschrieben – vielleicht hätte man doch besser ergänzen sollen, dass der Euroraum auch nicht an der Engstirnigkeit der heutigen deutschen Opposition scheitern darf.
Da stellt sich natürlich die Frage, ob Sigmar Gabriel das von ihm unterzeichnete Positionspapier entweder nicht gelesen, nicht ernst genommen oder aber nicht verstanden hat. Am wahrscheinlichsten ist hier wohl die dritte Variante. Auch in der Vergangenheit konnte der ehemalige Goslarer Berufsschullehrer nicht den Eindruck erwecken, überhaupt zu verstehen, wovon er da spricht, wenn es um volkswirtschaftliche Fragen geht. Das ist nicht so tragisch, für so etwas hat man schließlich Berater. Aber muss man dann einen Aufsatz in der FAZ schreiben?
Schon beinahe unfreiwillig komisch wirkt es da, wenn Gabriel in seinem FAZ-Aufsatz der Bundesregierung gleich mehrfach vorwirft, seit zwei Jahren keinen konsistenten Plan gegen die Eurokrise zu haben. Seine Partei und er selbst haben bis heute keinen solchen Plan. Auf die eher peinlich anmutende Positionssuche der letzten zwei Jahren, die selbst hartgesottenen SPD-Skeptikern bisweilen die Stimme verschlägt, muss man an dieser Stelle noch nicht einmal eingehen. Was soll man von einem Parteivorsitzenden halten, der ein Land, das von den Finanzmärkten erpresst wird, mit einem Junkie vergleicht, den man die Drogen weggenommen hat? Was soll man einem Sozialdemokraten halten, dessen wichtigster Kritikpunkt an den Ergebnissen des EU-Gipfels ist, dass die verabschiedeten Schuldenbremsen nicht weit genug gehen und Hintertüren beinhalten? Sigmar Gabriel hat nicht die Lösung der Probleme, die uns alle beunruhigen, in der Hand, er ist vielmehr ein Teil der Probleme. Selten gab es in der deutschen Geschichte eine Oppositionspartei, die derart planlos und uninspiriert wirkte, wie die aktuelle SPD. Wo sind denn die progressiven Denker in der SPD? Was macht eigentlich die Parteilinke? Gibt es einen Politiker des linken SPD-Flügels, der auch nur ansatzweise das Zeug hätte, Gabriel und die Seeheimer herauszufordern? Gibt es überhaupt noch einen linken Flügel in der Partei, der die Traute hat, sich auch öffentlich gegen diesen ganzen Wahnsinn zu stellen?
Noch vor kurzem galt Gabriel in progressiveren Kreisen als die beste von drei schlechten Alternativen für die Kanzlerkandidatur. „Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge einen langen Schatten“, wie Karl Kraus passend feststellte. Selbst diese vage Alternative hat sich mit Gabriels FAZ-Aufsatz wohl endgültig erledigt. Man muss noch nicht einmal zynisch sein, um festzustellen, dass es letzten Endes schon beinahe egal ist, wer die SPD als „bester aller bestmöglichen Sparkanzler“ in den Wahlkampf führt.
Wäre die Regierungskoalition nicht einer ähnlich desolaten Lage wie die SPD, würde sich die Koalitionsfrage für die nächsten Bundestagswahlen überhaupt nicht stellen. Schwarz-Gelb kann es nicht. Rot-Grün kann es jedoch ebenfalls nicht. Es gibt auch keinen Grund anzunehmen, dass sich dies in den nächsten beiden Jahren ändern könnte.
Jeden konstruktiv denkenden Demokraten muss diese Lagebestimmung verängstigen. Wir befinden uns in einer ökonomischen Krise, die von Tag zu Tag mehr zu einer Demokratiekrise wird und unser demokratisches Parteiensystem hat keine realistische Alternative zu bieten. Sicher, die Linkspartei hat in vielen Punkten sehr vernünftige Vorstellungen, aber was nutzt dies, wenn bereits jetzt auszuschließen ist, dass die Linkspartei an einer künftigen Regierung beteiligt ist. Die Linken-Strategie, SPD und Grüne vor sich herzutreiben und inhaltlich zu beeinflussen, kann nach dem momentanen Kenntnisstand als glatter Reinfall gewertet werden. Weder SPD noch Grüne haben sich während ihrer Oppositionszeit auch nur ein Jota von der Linken treiben lassen. Stattdessen veranstalten sie lieber einen Wettbewerb mit Union und FDP, wer denn nun der bessere Sparmeister sei und den Finanzmärkten den schmackhafteren Honig ums Maul schmieren kann. Als sei dies alles nicht schon schlimm genug, geben die Umfrageergebnisse nicht einmal einen Funken der Hoffnung, dass der Wähler diese bizarre Groteske durchschaut und sich von den vier potentiellen Regierungsparteien abwendet. Noch nie war die politische Lage derart hoffnungslos wie heute.