Krasser Zynismus: Bahrs „Pflegereform“
Einen Rekord hat sich Ex-Banker Daniel Bahr verdient: Nie zuvor dürfte ein amtierender Minister ein Jahr für irgendwas, wofür er zuständig ist, ausgerufen haben, um es dann ohne die kleinste, wenigstens symbolische Maßnahme verstreichen zu lassen, nämlich ein „Jahr der Pflege“ . Sicher: die Nöte der Pflegebedürftigen, ihrer Angehörigen und der Pflege-Beschäftigten schreien seit vielen Jahren immer lauter zum Himmel. Doch Bahrs jetzt angekündigtes Handeln könnte schlimmer sein als Nichtstun. Von Daniel Kreutz.
Dies zumindest ist dem – ansonsten völlig vagen – Koalitionsbeschluss zum Pflegereförmchen zu entnehmen, der in der Hauptsache einen „Pflege-Riester“ ankündigt. Neben die Pflegeversicherung soll eine freiwillige kapitalgedeckte private Zusatzversicherung treten, die „für Geringverdiener“ staatlich gefördert wird. Erneut will die Politik der Versicherungswirtschaft ein neues Geschäftsfeld erschließen und subventionieren, indem sie den Leuten mit Steuermilliarden die Prämien aus den Taschen lockt. Kein Cent davon kommt bei denen an, die schon pflegebedürftig sind oder es womöglich bald werden. Denn die können keinen Kapitalstock mehr „ansparen“. Erneut will man die Arbeitgeber vor Beitragserhöhungen schützen, indem künftige Kostensteigerungen einseitig bei den Versicherten ohne und mit Zusatzversicherung (und beim Sozialamt) abgeladen werden.
So etwas mit FDP-General Lindner „Pflege-Bahr“ zu nennen, ist nicht mehr als eine zynische Urheberrechtsverletzung. Denn nach dem Vorbild mancher „DoktorInnen“ überträgt Bahr nur SPD-Riesters Blaupause mit Copy & Paste auf die Pflege. Der schwarz-gelbe Koalitionsvertrag behauptet, eine ergänzende Kapitaldeckung sei nötig, weil die umlagefinanzierte Pflegeversicherung ihre Aufgabe als Teilabsicherung auf Dauer nicht erfüllen könne. Demnach soll ein Teil der Teilkasko von der Umlageversicherung auf den Kapitalmarkt übertragen, und das pseudo-solidarische System, einst Prototyp neoliberalen Umbaus der Sozialversicherung, weiter abgebaut werden. Der Abbau selbst funktioniert schon deshalb automatisch, weil die gedeckelten Leistungen nach wie vor hinter der Kostensteigerung zurückbleiben. Ulla Schmidts „Dynamisierung“ der Leistungen (2008) war Etikettenschwindel. Vermutlich war es der Bundesfinanzminister, der einen vollen FDP-Erfolg aus dem Koalitionsvertrag wieder kassierte: Nämlich eine gesetzliche Verpflichtung zum Pflege-Riester, die die mittelbare Subventionen für Allianz & Co. noch vervielfacht hätte, kommt nicht.
Selbst wenn die Beitragserhöhung von 0,1 % zum 01.01.13 wie behauptet den Demenzkranken und ihren Angehörigen zu Gute käme: mehr als ein symbolisches buntes Pflästerchen auf die 1995 gerissene tiefe Wunde, als man Demenz aus dem Pflegebegriff herausdefinierte, wäre damit nicht drin. Sachverständige gehen indes davon aus, dass dies Beitragsplus allenfalls den unerträglichen Status Quo aufrecht halten kann. Die langjährig versprochene Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs, für die seit Mai 2009 ein abgestimmter „amtlicher“ Vorschlag vorliegt, wird per „Verfahren“ in die nächste Wahlperiode weitergereicht. Die Zeit sollte allerdings zur Kritik genutzt werden, musste doch das vorliegende Konzept unter der Vorgabe „weitgehender Kostenneutralität“ teils gar Verschlechterungen bisheriger Leistungen vorsehen.
Krasser Zynismus gegenüber den Pflegebetroffenen, die sich selbst kaum wehren können, ist längst Normalzustand bisheriger Politik. Überfällig ist eine Generalreform, die aus der Pflegeversicherung ein echtes Solidarsystem macht: Deckung des individuellen Pflege- und Betreuungsbedarfs nach dem Sachleistungsprinzip – wie (früher) in der Krankenversicherung! Und zwar zu Hause statt im Heim! Somit durchgreifende Entlastung der Angehörigen durch professionelle Kräfte! Abschaffung des kommerziellen Pflegemarkts zugunsten öffentlicher Daseinsvorsorge! Nicht bloß formaler (Feiertagsklau, in dem 1995 der Buß- und Bettag als gesetzlicher Feiertag gestrichen wurde), sondern effektiv paritätischer Arbeitgeberbeitrag! Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze – besser noch: Aufhebung derselben im Rahmen einer Pflege-Bürgerversicherung!
Der Autor, Daniel Kreutz, ist u.a. seit 2004 Mitglied des Landespflegeausschusses Nordrhein-Westfalen
Dazu auch noch ein Überblick über den aktuellen Stand der Diskussion von Volker Bahl:
Gerät das “Riestern” der Pflegeversicherung unter Druck ?
– Ein Experte will sich nicht missbrauchen lassen –
Nachdem auf den Nachdenkseiten schon die Meldung zu der am Mittwoch anstehenden Entscheidung im Kabinett der Bundesregierung stand beginnen sich die Zweifel an dieser Eilentscheidung zu mehren
Beginnen wir einmal mit einer kurzen Meldung am 17.11.11 in der Süddeutschen Zeitung: Unter der Überschrift “Massive Kritik an Pflegereform – Sachverständige stellen Mitarbeit in Frage” ist dort zu lesen :
“Der Vorsitzende des Kuratoriums Deutsche Altenhilfe, Jürgen Gohde, hat seine Mitarbeit an der Ausarbeitung der Pflegereform in Frage gestellt.”
Dabei war die Experten-Kommission erst Anfang August 2011 aus der Taufe gehoben worden.
Und die markt-eifrigen jungen CDU-Abgeordneten haben den Beginn dieser Experten-Kommission gleich begleitet, indem sie deutlich machten, was so ihre Vorstellungen von einer Pflegereform sind – verbunden auch aus ihrer Sicht um die Sorge ,dass dies auf die lange Bank geschoben werden könnte.
Dabei hatte sich doch inzwischen die Kritik an der privatisierten Kapitaldeckung – und das nicht nur in der Krise! – längst bestätigt. Also musste wohl der Druck erhöht werden, um das Ziel noch schnell zu erreichen.
Gleich zu Anfang in dem SZ-Beitrag meinte Gohde, wir haben schon zwei wertvolle Jahre verloren – und jetzt darf die Expertenkommission keineswegs zur Verschleppung missbraucht werden. Nun mit dieser Eil-Entscheidung im Kabinett wird zwar nicht “verschleppt” – aber der Sachverstand der Experten einfach ausgehebelt.
Deshalb meint Jürgen Gohde jetzt: “Ich habe meine Zustimmung noch nicht gegeben, weil die Rahmenbedingungen noch nicht geklärt sind.” Dabei gilt der evangelische Theologe als die zentrale Figur für die Arbeit des Pflegebeirats. Nach Beschluss der Bundesregierung soll das Gremium die Details der Pflegereform ausarbeiten, die sich um den Pflegebedürftigkeitsbegriff drehen. Gegen den Widerstand Gohdes dürfte es Gesundheitsminister Bahr (FDP) kaum gelingen , die Expertenrunde zur Mitarbeit zu gewinnen.
Auch die Opposition, Gewerkschaften und Sozialverbände kritisieren die – jetzt vorgelegten – Pläne scharf (“Pflegereform bleibt Stückwerk“).
Dabei ging es Gesundheitsminister Bahr ( FDP ) wohl vor allem darum gegenüber seiner Klientel Vollzug zu melden , denn die angekündigte steuerliche Förderung einer privaten ergänzenden Vorsorge bringt nichts für die Lösung der anstehenden Probleme, aber sie ist vor allem eine weitere Subvention für die privaten Versicherungen. Dieser “geriesterte Pflege-Bahr” würde außerdem nur die Versicherten wieder mehr belasten – und wie schon bei der “Riester-Rente” – die Bezieher geringer Einkommen ausklammern, weil diese überfordert sind. Vgl. auch “Nach dem Flop der Riester-Rente nun auch noch den Pflege-Bahr“.
Die “Vorgeschichte” dieser Eil-Entscheidung: heftigste Lobby-Arbeit
Es galt also die Pflegeversicherung – wie vorher schon erfolgreich die “Riester”-Rente – für eine Privatisierung “sturmreif” zu schießen.
Nur befinden wir uns heute nicht mehr in den frühen Jahren dieses Jahrhunderts , wo die Attacken der Finanz-Lobby noch einfach durchgezogen werden konnten – und sehr wenig “Aufklärung” dagegen stand. Heute ist Kritik schon bis in die sozialpolitsche Fachliteratur vorgedrungen. Siehe z.B. das hervoragende Werk des Zeitgeschichtlers Hans-Günter Hockerts “Der deutsche Sozialstaat – Entfaltung und Gefährdung seit 1945”. Hockerts widmet nicht nur der Propaganda der Finanzbranche einen eigenen Abschnitt – auch Albrecht Müller mit der Reformlüge zitierend – “Die Finanzbranche erwacht: “Megageschäft Altersvorsorge” (S. 305 ff.), sondern auch noch den “schillernden Leitbegriff “Generationengerechtigkeit” (S. 310 ff.) auf seinen unseriösen Hintergrund durchleuchtet.
Neben dieser fachwissenschaftlichen Literatur haben natürlich gerade die Nachdenkseiten viel zur Aufdeckung und Durchleuchtung dieser Machenschaften beigetragen , wenn wieder einmal jetzt auch noch die Pflegeversicherung zur Privatisierung “sturmreif” geschossen werden sollte – etwa durch den als „Wissenschaftler-Lobbyisten“ Rafelhüschen.
Und falls das zur Meinungsmanipulation noch nicht ausreichen sollte, konnte dann auch noch eine manipulierte Forsa-Umfrage mit herangezogen werden.
Vor diesem Hintergrund nimmt es nicht Wunder, wenn ein ausgewiesener Experte und Mann der sozialen Praxis wie Jürgen Grohde (zur Person siehe z.B. hier) nicht zum bloßen Alibi für die Privatisierungs-“Spielchen” der schwarz-gelben Koalition mehr sich hergeben will. So warnte er schon am 5. November vor einer Riesenenttäuschung bei der Pflegeversicherung.
Und das schägt sich dann auch in der Presse inzwischen – ein wenig – nieder.
Die Süddeutsche widmet der Pflegeversicherung heute nicht nur auf der Seite Drei eine Story, die zum Ergebnis kommt: “Eigentlich sollte die Pflegereform demenzkranken Menschen helfen – der Beschluss der Regierung aber zeigt, dass sie an vieles (na, was denn? V.B.) denkt, nur nicht an die Betroffenen”. Und in dem Kommentar “Pflege-Bahr und Mini-Bahr” kommt die Zeitung zu dem Schluss, dass Bahr dieser “Coups” wohl zur Zeit gelingen konnte, weil in den Zeiten der “Schuldenkrise” anderes mehr interessiert.
So verkommt dieser Regierung vom Mindestlohn bis zur Bankenregulierung alles zur bloßen “Placebo-Politik” – für den reinen “Schein”.