WZB-Studie: Studiengebühren sollen keinen negativen Effekt auf die Studierneigung haben – oder: wie die gewählte Untersuchungsmethodik zum erwünschten Ergebnis führt
Wieder einmal wurde eine Studie angefertigt, die belegen soll, dass Studiengebühren „keinen signifikant negativen Effekt auf die Studierneigung“ weder insgesamt noch bei Studienberechtigten aus „schichtniedrigen“ Familien oder bei Frauen haben. Diesmal ist das an und für sich seriös geltende „Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung“ (WZB) dieser Frage nachgegangen [PDF – 240 KB].
Statt in den sozialwissenschaftlichen Instrumentenkasten zu greifen, hätten die Autoren aber besser ein paar Gespräche mit Studienberechtigten geführt, deren Eltern nicht in der Lage sind, einen monatlichen Wechsel für das Studium ihrer Kinder auszustellen. Diese ganz einfache Methode hätte zu realistischeren Ergebnissen geführt. Von Wolfgang Lieb
Als Motivation für ihre Studie geben die Autorin Tina Baier und ihr sozialwissenschaftlicher Kollege Marcel Helbig an, dass es bisher keine empirisch abgesicherten Ergebnisse bezüglich der Wirkung von Studiengebühren gebe.
Über ihren Befund hinaus, dass es keine negativen Effekte der Studiengebühr auf die Studierneigung gebe, gingen die Ersteller der Studie – offenbar selbst verwundert – der Frage nach, wie sich denn ein nicht vorhandener „Studiengebühreneffekt“ erklären lasse.
Bisherige Befragungen etwa in einer Studie des Hochschulinformationszentrums (HIS) von Christoph Heine et al., wonach sich mindestens 1,4 und maximal 4,4 Prozent der Studienberechtigten durch die Einführung von allgemeinen Studiengebühren von der Aufnahme eines Studiums abschrecken lassen und wonach die Abschreckungswirkung mit der sozialen Herkunft korreliere [PDF – 660 KB], werden als methodisch fragwürdig abgetan, u.a. weil die Fragestellungen „suggestiven Charakter“ gehabt hätten.
Zunächst stützen sich die Autoren auf eine differenzierende Auswertung Datensätze der Studienberechtigten-Panels des Hochschulinformationssystems (HIS) der Jahre 1999 bis 2008 und gelangen dabei zu einem „ersten Hinweis darauf, dass sich der Effekt der Studiengebühren keinesfalls so eindeutig negativ zeigt, wie zu Weilen prognostiziert wurde“. (S. 12) In verschiedenen Modellrechnungen habe sich gezeigt, dass die Ergebnisse weder einen negativen Effekt von Studiengebühren auf die Studierabsicht allgemein, noch auf die Studierneigung von sozial benachteiligten Studienberechtigten oder von Frauen hätten.
Die Studie schränkt zwar ein, dass damit kein kausaler Effekt von Studiengebühren identifiziert werden könne und weitere (unbeobachtete) Faktoren eine Rolle spielen könnten. Nach einer spezifischen Schätzmethode (DiD) gelangen sie aber dennoch zu dem für sie selbst unerwarteten Ergebnis, dass „Bundesländer, die Studiengebühren eingeführt haben, …einen leichten Anstieg an Studienberechtigten mit Studierabsicht im Vergleich zu Ländern, die keine Studiengebühren eingeführt haben“ verzeichnen. Die Autoren räumen allerdings ein, dass dieser Effekt statistisch nicht signifikant sei. Nach den von ihnen herangezogenen Methoden sei aber kein negativer Effekt von Studiengebühren auf die Studierneigung feststellbar. (S. 18)
Das „verwundert“ selbst die Ersteller der Studie, „wurde doch zunächst davon ausgegangen, dass die Studienentscheidung das Ergebnis eines rationalen Entscheidungsprozesses ist, in dem individuell Kosten und Nutzen aufgewogen“ würden, und die Einführung von Studiengebühren sich direkt auf die Kosteneinschätzung auswirke. (S. 19)
(Anmerkung WL: Mir ist kaum ein Studierender bekannt, der seine Studienentscheidung vor allem auf ein Kosten-Nutzen-Kalkül abstellte.)
Dass trotz erhöhter Kosten durch die Studiengebühr kein abschreckender Effekt eingetreten sei, erscheint auch den Autoren erklärungsbedürftig. Statt nun aber Studierende einfach zu befragen, stützen sich die beiden Autoren zur Erklärung lieber auf die Rational-Choice-Methode, bei der sich die Entscheidung für oder gegen ein Studium als Summe eines rationalen Abwägungsprozesses der Kosten und Nutzen sowie der Erfolgswahrscheinlichkeit ergibt. „Der Theorie folgend“ müsse eine Neubewertung des Studiums von Seiten der Studienberechtigten stattgefunden haben, die den negativen Effekt der Kosten ausgleiche – so ihre Erklärung. Es liege die Vermutung nahe, dass Studienberechtigte, „wenn sie schon Studiengebühren entrichten müssen, dies auch mit einer Qualitätssteigerung bezüglich der Hochschulbildung assoziieren“, diese Qualitätssteigerung solle dann auch eine positive Signalwirkung des Bildungszertifikats haben, was sich wiederum positiv in den individuell antizipierten Arbeitsmarktchancen niederschlagen solle. Die Autoren gehen sogar noch einen Schritt weiter und wollen „Anhaltspunkte“ dafür haben, dass „es vor allem bei Nicht-Akademikerkindern zu einem Anstieg der Ertragsaussichten eines Studiums gekommen ist.“ (S. 22)
Dass es durch die im Rahmen des Bologna-Prozesses eingeführten Bachelor-Studiengänge zu einer Qualitätssteigerung des Studiums und zu einer Verbesserung der Berufsaussichten oder gar zu höheren beruflichen Erträgen von Hochschulabsolventen gekommen sein soll, widerspricht nun allerdings nahezu allen dazu vorliegenden Befunden.
Um aber dennoch die Hypothese eines Anstiegs der Ertragsaussichten eines Studiums bestätigen zu können, zieht die Studie eine Kosten-Nutzen-Befragung über die Berufsaussichten bezüglich eines Studiums in Relation zu denen der Berufsausbildung heran, wonach – wie sollte es auch anders sein – bei einem Studium ein höherer Ertrag erwartet wird.
Nun mag es zwar angesichts der allgemein schwierigen Arbeitsmarktlage und aufgrund der allgemein üblichen Werbung für eine höhere Bildung zur Verbesserung der Berufschancen vielleicht gerade bei Nicht-Akademikerkindern dazu gekommen sein, dass sie sich durch ein Studium eine Verbesserung ihrer Berufschancen erhoffen, aber spätestens bei diesen doch sehr weit abgeleiteten Schlussfolgerungen für die Studierabsicht (trotz Studiengebühren) wird deutlich, dass hier eher die angewandte Methode (eben Rational-Choice) das Ergebnis der Untersuchung bestimmte als die Wirklichkeit. Obwohl die Autoren behaupten ihre Ergebnisse seien „empirisch abgesichert“, sind die Befunde dieser Studie eher das Ergebnis der gewählten Untersuchungsmethodik, als dass sie eine reale Aussagekraft hätten.
Fairerweise schränken die Autoren ihr Ergebnis selbst ein, indem sie abschließend bemerken, dass ihre Befunde nicht zu dem Fazit verleiten sollten, dass Studiengebühren per se keinen negativen Effekt auf die Studierneigung hätten. So könnten etwa Aussagen darüber, wie sich die Studierneigung verändere, wenn Studiengebühren (über die angenommenen 500 Euro pro Semester) erhöht würden, aus den Ergebnissen nicht ableiten lassen. (S. 23) Sie wollen auch nicht ausschließen, dass Wanderungsbewegungen der Studierenden in gebührenfreie Länder einen relevanten Aspekt bei ihrer Untersuchung darstellen könnten, der nicht erfasst worden sei. In wissenschaftlicher Selbstbeschränkung weisen die Autoren darüber hinaus darauf hin, dass bei den von ihnen festgestellten Veränderungen bei der Bewertung eines Studiums auf andere Entwicklungen als die Erhebung von Studiengebühren, wie etwa die Debatte um den Fachkräftemangel zurückzuführen ist. Auch die Umstellung auf das Bachelor- und Mastersystem könne zu einer Neubewertung des Studiums geführt haben.
Tina Baier und Marcel Helbig gehen also selbst sehr vorsichtig mit den Ergebnissen ihrer Studie um. Man sollte also nicht sie kritisieren, wenn ihre Studie von den Gebührenbefürwortern propagandistisch als Bestätigung ihrer Gebühren-Politik missbraucht wird. Was zu erwarten ist.
Was in dieser Studie allerdings völlig ausgeblendet ist, das ist der ganz allgemeine bildungspolitische Befund, dass die Studienanfängerquote in Deutschland nach wie vor deutlich unter dem OECD- und unter dem EU19-Durchschnitt liegt.
Quelle: OECD-Veröffentlichung „Bildung auf einen Blick“ 2010, S. 11 [PDF – 900 KB]
Außerdem vernachlässigt die Studie, obwohl sie gerade die Auswirkungen von Studiengebühren auf die „schichtniedrigen Familien“ in den Vordergrund stellt, den skandalösen Befund, dass nur 11 Prozent der Studierenden aus Elternhäusern mit Hauptschulabschluss stammen und dieser Anteil sogar rückläufig ist und nach wie vor nur 15 Prozent der Studierenden aus der „niedrigen sozialen Herkunftsgruppe“ kommen.
Solange die Studienanfängerquote in Deutschland vergleichsweise so niedrig liegt und solange es um die soziale Chancengleichheit so schlecht steht, ist jeder – auch von den Autoren der Studie eingeräumte – negative Anreiz durch eine Erhöhung der Studienkosten, also auch über Studiengebühren ein Irrweg.
Die Studiengebühren (von in der Studie angenommenen 500 Euro pro Semester oder 1000 Euro pro Jahr) sind bei den für einen Durchschnittsstudenten vom Deutschen Studentenwerk [PDF – 2.5 MB] errechneten privaten Kosten pro Jahr von rd. 9.100 Euro (Sozialerhebung S. 251ff.) nur ein Teil der finanziellen Belastung für ein Studium, aber – wie leicht erkennbar – eine erhebliche Zusatzbelastung.
Nach Erhebungen des deutschen Studentenwerks bezeichnen 40% der Studierenden ihre Studienfinanzierung als unsicher. Die Kosten für ein Studium sind also für einen großen Teil der Studierenden von vorneherein eine Risikobarriere. Gerade für Schüler, die über ein Studium nachdenken, haben Studiengebühren eine besonders hohe Abschreckungswirkung. Für Schüler, bei denen ein Elternteil Akademiker/in ist, wird die Finanzierung eines Studiums als ein viel geringeres Problem wahrgenommen als in einem nichtakademischen Elternhaus. Während für Kinder aus Akademikerfamilien schon aus Gründen des Statuserhalts die Aufnahme eines Studiums sozusagen von vorneherein selbstverständlich ist, bewerten Familien aus benachteiligten sozialen Schicken Entscheidungen für weiterführende Bildungsgänge in der Regel (subjektiv) als riskanter. Außerdem sind sie im Verhältnis zu den verfügbaren Ressourcen mit höheren Kosten behaftet.
Studiengebühren sind aber nicht nur eine Barriere zur Aufnahme eines Studiums, sie sind auch mitursächlich für Studienabbrüche. 19% der Studienabbrecher scheitert letztlich an der Finanzierung des Studiums.
Welche Barriere die privaten Kosten für die Aufnahme eines Studiums darstellen, hätte man auch schon 2005 man aus der historischen Entwicklung ablesen können, nämlich darin, dass sich seit der Verbesserung des BaföG durch die Bundesregierung im Jahre 1999 der Anteil der Studierenden pro Jahrgang bis 2006 von 27,7 auf 35,7% erhöht hat.
Fazit: Auch diese Studie hätte man sich ersparen können: Ein paar Gespräche mit Studierenden, die nicht mit einem auskömmlichen monatlichen Wechsel ihrer Eltern kalkulieren können, würden ein realistischeres Bild abgeben, über die negativen Effekte von Studiengebühren auf die Studierneigung.