Hinweise des Tages

Jens Berger
Ein Artikel von:

Hier finden Sie einen Überblick über interessante Beiträge aus anderen Medien und Veröffentlichungen. Wenn Sie auf “weiterlesen” klicken, öffnet sich das Angebot und Sie können sich aussuchen, was Sie lesen wollen. (CR/WL/JB)

Hier die Übersicht; Sie können mit einem Klick aufrufen, was Sie interessiert:

  1. Orwell 2.0
  2. Freihandelsgespräche zwischen EU und USA: Lecker Chlorhühnchen auf dem Vormarsch in Europa
  3. Hartz IV
  4. Politik des Argwohns
  5. Wie die Gerichte die Leiharbeit zähmen
  6. Sanktionen gegen Siedler: Israel empört über die EU
  7. Helft Syrien jetzt
  8. Mit dem Heil der Kirche
  9. Der Umbau der Werkbank wird schmerzhaft
  10. Demoskopische Wahlpolitik
  11. »›Kamera aus oder ich schieß’‹, hieß es«
  12. Ergänzung zum Hinweis des Tages vom 19. Juli 2013 Nr. 11 – China’s Ponzi Bicycle Is Running Into A Brick Wall
  13. Zu guter Letzt: Eine Glosse über Stromversorger im Besonderen und Systemrelevanz im Allgemeinen

Vorbemerkung: Wir kommentieren, wenn wir das für nötig halten. Selbstverständlich bedeutet die Aufnahme in unsere Übersicht nicht in jedem Fall, dass wir mit allen Aussagen der jeweiligen Texte einverstanden sind. Wenn Sie diese Übersicht für hilfreich halten, dann weisen Sie doch bitte Ihre Bekannten auf diese Möglichkeit der schnellen Information hin.

  1. Orwell 2.0
    1. Schnüffelsoftware “XKeyscore”: Deutsche Geheimdienste setzen US-Spähprogramm ein
      Angela Merkel und ihre Minister wollen erst aus der Presse von den Spähprogrammen der US-Regierung erfahren haben. Doch nach Informationen des SPIEGEL nutzen deutsche Geheimdienste eines der ergiebigsten NSA-Werkzeuge selbst.
      Der deutsche Auslandsgeheimdienst BND und das im Inland operierende Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) setzen eine Spähsoftware der amerikanischen NSA ein: “XKeyscore”. Das geht aus geheimen Unterlagen des US-Militärgeheimdienstes hervor, die der SPIEGEL einsehen konnte. Das BfV soll damit den Dokumenten des Whistleblowers Edward Snowden zufolge die NSA bei der gemeinsamen Terrorbekämpfung unterstützen. Der BND sei für die Schulung des Verfassungsschutzes im Umgang mit dem Programm verantwortlich.
      Quelle: Spiegel Onlien

      Anmerkung WL: Entweder wollten Merkel und ihre Minister nichts wissen oder sie wussten davon und haben es verschwiegen. Man kann sich aussuchen, was schlimmer ist. Von parlamentarischer Kontrolle ist sowieso keine Spur.

      Weitere Anmerkung JK: Von all dem will Merkel nichts gewusst haben? Bekanntlich untersteht der BND unmittelbar dem Kanzleramt. Merkel scheint den Bezug zu Amt und Realität völlig verloren zu haben. Entweder sie hat die Öffentlichkeit seit Wochen bewusst belogen und die Grundrechte der deutschen Bürger an die USA verkauft oder sie hat wirklich keine Ahnung was der BND und andere Geheimdienste treiben. WIe mann es dreht und wendet Merkel muss zurücktreten! Es gab schon Bundeskanzler, die wegen weniger ihre Demission einreichten.

    2. NSA-Überwachung: Die Mathematik des Terrorverdachts
      Die Spähprogramme Prism und Tempora sollen Terroranschläge verhindern helfen. Doch den US-Geheimdiensten gehen dabei zwangsläufig auch Unschuldige ins Netz. Mathematische Berechnungen zeigen: Für jeden zu Recht verdächtigten Terroristen dürften es Tausende sein. (…)
      Füllt man den Satz von Bayes, eine vergleichsweise übersichtliche Formel, mit diesen Werten, dann erhält man das mickrige Ergebnis 0,0001. Anders ausgedrückt: Von rund 10.000 Zielpersonen, die von den Algorithmen der Geheimdienste als gefährlich eingestuft werden, ist nur einer ein Terrorist. (…)
      Für die Spähprogramme Prism und Tempora bedeutet das: Wie sorgfältig die Geheimdienste ihre Suchsysteme auch gestalten, die Algorithmen werden angesichts von Millionen überprüften Menschen immer wieder auch bei Unschuldigen Alarm schlagen – möglicherweise bei Tausenden.
      Quelle: Spiegel Online

      Anmerkung JB: Wer sagt eigentlich, dass es bei den gigantischen Überwachungsprogrammen „nur“ um die Terrorismusabwehr geht? Es liegt auf der Hand, dass die NSA die wertvollen Daten wohl auch zur Wirtschaftsspionage und zur Überwachung politisch Unbequemer nutzt. Ansonsten wären die Zahlen von SPIEGEL Online auch kaum zu fassen. Nach Aussagen des NSA-Whistleblowers sind zwischen 500.000 und einer Million US-Bürger auf den „Ziellisten“ der NSA aufgeführt – nach dem vom SPIEGEL angewendeten Satz hieße dies, dass es allein in den USA zwischen 50 und 100 Terroristen gibt. Wer soll das glauben?

    3. Merkel und die NSA-Affäre: Phrasen statt Antworten
      Man kann nicht behaupten, Angela Merkel hätte sich keine Mühe gegeben. Sie hat einen langen Vortrag gehalten über die Bedeutung der Freiheit in diesem Land, sie hat ihr hundertprozentiges Interesse an der Aufklärung der Spähvorwürfe gegen die Amerikaner beteuert, sie hat dafür sogar ihre persönliche Verantwortung als Chefin dieser Regierung benannt.
      Man würde der Bundeskanzlerin das alles gerne abnehmen, ihren erklärten Willen, Licht in das Geheimdienst-Dunkel der NSA-Affäre zu bringen, ihre angebliche Bereitschaft, dafür auch den wichtigsten Partner selbstbewusst zur Rede zu stellen. Und doch bleibt nach ihrem Auftritt an diesem Freitag der Eindruck: Angela Merkel meint es nicht ernst.
      Und das ist nicht nur so ein Gefühl. Nein, die Erfahrungen der vergangenen Wochen zeigen: Sie kann es nicht ernst meinen. Mehr als sechs Wochen ist es her, dass die Berichte über das flächendeckende Ausspähprogramm Prism in der Welt sind. Doch bis heute hat die Bundesregierung keine eigenen Erkenntnisse vorzuweisen. Mein Name ist Hase, ich weiß von nix – so lautet seit den ersten Enthüllungen die Devise der deutschen Behörden. Bis heute. Das ist, man muss es so sagen, erbärmlich.
      Quelle: Spiegel Online

      Anmerkung J.K.: Erstaunlich, so ein Kommentar im Spiegel? Dem führenden neoliberalen Propagandamedium, das bisher nicht ansatzweise am Leitbild der “marktkonformen”, über allem schwebenden Kanzlerin zu kratzen wagte. Hoffentlich sind das nicht auch nur Nebelkerzen der Chefredaktion um kritischen Journalismus zu simulieren.

      Passend dazu: Merkels Erzählungen
      Die Bundeskanzlerin redet bei ihrem Auftritt zur NSA-Affäre zu vieles schön. Es ist erstaunlich, wie ruhig die deutsche Öffentlichkeit sich dieses Schauspiel bieten lässt.
      Nur gute Nachrichten von Angela Merkel an diesem Freitag: Deutschland ist ein Rechtsstaat. Die Amerikaner sollen aufklären, sind aber tolle Freunde. Genau wie alle Ministerinnen und Minister, die sich nicht nur untereinander notorisch mögen, sondern auch das „vollste Vertrauen“ der Chefin genießen. Was natürlich auch für den Verteidigungsminister gilt, der halt nicht immer alles über Drohnen wissen kann, was er vielleicht schon mal wusste. So wie die Kanzlerin nicht alles wissen kann, was vielleicht ihr Kanzleramtsminister weiß. (…)
      Es ist erstaunlich, wie ruhig die deutsche Öffentlichkeit sich dieses Schauspiel bieten lässt. Die Mehrheit findet das Handeln der Regierung – derzeit in der NSA-Affäre – unzureichend, wird sie aber wahrscheinlich wieder wählen. Und die Vermutung liegt nahe, dass das an dem Geschick liegt, mit dem Schwarz-Gelb die Lasten der Krise scheinbar von uns ferngehalten hat.
      In diesem Zusammenhang darf eine Aussage vom Freitag als Höhepunkt Merkel’scher Chuzpe gelten: Facebook habe seine Europa-Zentrale in Irland, da sei halt der deutsche Einfluss in Sachen Daten-Weitergabe begrenzt. Das sagt dieselbe Politikerin, die dem ganzen Kontinent fast nach Belieben ihren wirtschaftspolitischen Kurs aufzwingt.
      Wie lange sollen wir ihr noch glauben?
      Quelle: Frankfurter Rundschau

      Anmerkung C.R.: Tragisch ist an dem ganzen Vorgang zum NSA-Skandal, dass die Opposition aus SPD und Bündnis90/Die Grünen nicht viel glaubwürdiger dasteht.

    4. Menschen sind mit Datenschutz überfordert
      Das Thema Datenspionage beherrscht derzeit die öffentliche Diskussion: Erst sorgten die Ausspähungsprogramme Prism und Tempora für Aufregung. Nun heizt Facebooks Graph Search, das Nutzern die Suche nach Interessen von anderen Personen ermöglicht, die Debatte um Datensicherheit und Privatsphäre im Internet weiter an. Warum Internetnutzer ihre Daten nur begrenzt schützen können, erklärt Dr. Zinaida Benenson, Lehrstuhl für Informatik 1 – IT-Sicherheitsinfrastrukturen der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg (FAU), im Gespräch mit „FAU aktuell“.
      Wie gut schützen deutsche Bürger ihre Daten und ihre Privatsphäre im Internet?
      Deutsche Bürger sind genauso wie alle anderen Menschen mit dem Schutz ihrer Daten und ihrer Privatsphäre restlos überfordert. Allein in Facebook muss man seine Einstellungen an mindestens fünf Stellen anpassen, um seine Daten nur für die Facebook-Freunde verfügbar zu machen. Einige Umfragen und Experimente, die wir in der letzten Zeit durchgeführt haben, zeigen, dass die meisten sich weder mit der Sichtbarkeit ihrer eigenen Daten auf Facebook noch mit dem Zugriff der Smartphone-Apps auf ihre Daten auskennen.
      Daran sind meiner Meinung nach nicht die Benutzer schuld, sondern die unübersichtlichen Einstellungen und schwer verständlichen Informationen der Anbieter. Zum Beispiel wird bei der Installation jeder Android-App angezeigt, auf welche Daten diese zugreift. Diese „Android Permissions“ sind allerdings so technisch formuliert, dass selbst Informatiker Schwierigkeiten haben, sie zu verstehen.
      Ein anderes Beispiel sind die Datenschutzrichtlinien von Facebook, die sehr kompliziert formuliert sind. Da ist es nicht verwunderlich, dass laut einer Umfrage die meisten Benutzer glauben, dass ihre Daten vollständig Facebook gehören. Tatsächlich geben sie Facebook jedoch nur die Erlaubnis die Daten zu nutzen, auch wenn diese Nutzung sehr umfangreich ausfällt.
      Quelle: idw
  2. Freihandelsgespräche zwischen EU und USA: Lecker Chlorhühnchen auf dem Vormarsch in Europa
    Vergesst Prism und die Internetüberwachung, freut euch über neue Wachstumschancen: Unter diesem Motto hat die EU-Kommission eine Charmeoffensive zu dem umstrittenen Freihandelsabkommen mit den USA gestartet. Doch nach einem ersten Treffen in Brüssel zeigten sich Umweltschützer, Gewerkschafter und Menschenrechtler unzufrieden: Die Industrielobby dominiere die Agenda, die EU sei nicht zu Garantien im Verbraucherschutz bereit. “Der Chlorhühnchenstreit ist noch lange nicht gegessen”, sagte Jürgen Knirsch von Greenpeace.
    Quelle: taz
  3. Hartz IV
    1. Die sture Sachbearbeiterin
      Jobcentermitarbeiterin, leistete stillen Widerstand gegen die Missstände bei der Umsetzung von Hartz IV. Ihrer kritischen Blogs wegen ist sie nun von ihrer Arbeit freigestellt worden. “Weil ich zum Beispiel behaupte, dass die 1-Euro-Jobs Ausbeuterjobs sind”, konkretisiert Inge Hannemann. Kritik, die sie nie verheimlichte, die sie aber auch nicht zurücknehmen wollte, als sie vom Arbeitgeber dazu aufgefordert wurde. Und nicht zuletzt Kritik, zu der sie schriftliche Belege habe. Die Zweifel, die zu ihrer Freistellung führten, kamen im Sommer 2006, erinnert sich die zierliche, viel jünger wirkende Frau, als die Reformen von Hartz IV verschärft wurden. Sie stieß sich an den Sanktionen, die intern als “erzieherische Maßnahmen” deklariert wurden, und an dem gegenseitigen Misstrauen, das die Beratungsgespräche seither dominierte. Vergeblich suchte sie das Gespräch mit ihren Vorgesetzten, einzig bei den Kollegen habe es einige gegeben, die ähnlich dachten. Doch der Tenor war ernüchternd: “Was können wir schon ändern?” Anders als viele ihrer Arbeitskollegen sanktionierte sie fehlbare “Kunden” nur, wenn es nicht anders ging, verschob Termine und besuchte ihre Schützlinge zu Hause, um nach den Gründen ihrer Abwesenheit zu suchen. Erstgespräche deklarierte sie systematisch als “Kennenlerngespräche”, um den Hilfeholenden die Angst zu nehmen; setzte sich mit ihnen bewusst an einen extra Tisch, um in die Augen der Menschen statt in ihren PC zu blicken. Ihre ganz persönliche Erfahrung ist: Das Misstrauen, das vom Jobcenter ausgeht, entwürdigt die Menschen, diskriminiert die sowieso schon Schwachen. Und: Misstrauen ist in den wenigsten Fällen angezeigt. “Natürlich gibt es Leistungsmissbrauch”, meint Hannemann, auch sie hatte schon solche Fälle erlebt, “doch sie sind sehr selten.” Wichtiger als die Zahlen sind ihr ohnehin die Menschen, eigentlich auch ein Grundsatz der Jobcenter: “Wir arbeiten nicht für Zahlen, sondern für Menschen.” Dieser Satz hat sich bei Hannemann eingebrannt, sie erwähnt ihn immer wieder.
      Im April 2011 fing die Arbeitsvermittlerin an, nach Feierabend harmlose Beiträge über Hartz IV und Arbeitsrecht, aber auch über persönliche Vorlieben zu schreiben. Ein Jahr später startete sie “altonabloggt”, ein offen kritisches Blog zu Hartz IV und den Missständen in den Jobcentern – natürlich steht im Impressum deutlich ihr Name. Im Februar 2013 veröffentlichte sie dort einen Brandbrief an die Bundesagentur für Arbeit, in dem sie die Besonderheit ihrer Position als interne Kritikerin nutzte, um entschieden auf ein Ende der Sanktionspraxis von Hartz IV hinzuwirken. Ihr Ziel ist die Wiedereinrichtung eines nicht antastbaren Existenzminimums und die Rückkehr zu einer Arbeitsvermittlung auf Augenhöhe. Die aufsässige Sachbearbeiterin, die vielmehr eine kluge Strategin ist, weiß genau, was sie tut. Sie ist selbstbewusst genug zu glauben, dass sie nichts zu verlieren hat, dass sie irgendwo schon unterkommen wird: “Im Verhältnis zu der Willkür, die ich gesehen habe, liegt mein Risiko im Promillebereich.”
      Quelle: taz

      Dazu passend: Ratgeberschmiede des Tages: Jobcenter Pinneberg
      Legendär die Überlebenstricks, die Berlins Exfinanzsenator Thilo Sarrazin von Hartz IV Betroffenen gab. Jetzt nahm das Jobcenter Kreis Pinneberg seinen Ball wieder auf, und zwar in Form eines comicartig gestalteten Ratgebers für ALG-II-Bezieher. Sparen kann man sich den Experten zufolge einiges. Zum Beispiel eine Menge Wasser im sanitären Bereich: Da helfe es, »ein paar Steine in den Spülkasten zu legen«. Auch im Supermarkt heißt es, achtsam sein: »Gehen Sie nie hungrig einkaufen. Denn dann landen meist mehr Lebensmittel in Ihrem Einkaufswagen, als Sie zeitnah verbrauchen können.« Man erfährt bei dieser Gelegenheit auch, dass Leitungswasser nicht nur billiger ist, sondern »oft eine bessere Qualität hat als Mineralwasser« oder andere Getränke. Wenn Sie noch wohnen, sollten Sie überlegen, das zu ändern: Im Internet kann man Mobiliar und andere Haushaltsgegenstände für gutes Geld versteigern. Und das Beste dabei: Der Erlös der Auktion ist »unschädlich«, d.h. er wird nicht einmal auf die Bezüge angerechnet. Die Lücken im Wohnzimmer kann man dann mit Trödel aus einem Sozialkaufhaus auffüllen. Ein paar Adressen werden da praktischerweise gleich mitgeliefert.
      Quelle: junge Welt

      Und: Inge Hannemann: Die spätrömische Dekadenz lebt weiter
      Der Ratgeber “Arbeitslosengeld II” des Jobcenters Pinneberg (Schleswig-Holstein, Rande Hamburg) sorgte in den letzten Tagen für großen öffentlichen Wirbel. Heinrich Alt, Vorsitzender Grundsicherung der Bundesagentur für Arbeit, twitterte: “Jobcenter Pinneberg hat einen tollen #ALG2 Ratgeber herausgegeben.” Politiker, Erwerbslose und deren Verbände sprechen von Diskriminierung, Peinlichkeit und beschämend. Selten hat es ein Jobcenter in so rasender Geschwindigkeit in die Medien bis ins Ausland geschafft…
      Quelle: Wirtschaft und Gesellschaft

    2. Hartz-IV-Sanktionen verfassungswidrig?
      Streitgespräch zwischen Wolfgang Nešković (Richter am Bundesgerichtshof a. D., unabhängiger Bundestagsabgeordneter) und Prof. Dr. Uwe Berlit (Vorsitzender Richter am Bundesverwaltungsgericht).
      Die Frage der Verfassungskonformität der Sanktionsregelungen ist — wenngleich faktisch nur aus Sicht einer kleinen Minderheit der JuristInnen — seit Jahren umstritten. Während das Gros der JuristInnen der Meinung ist, es käme “nur” auf eine verfassungskonforme Anwendung der Regeln an, sieht besagte Minderheit vor allem Teilbereiche als nicht verfassungskonform an. Nešković/Erdem dagegen argumentieren, die Sanktionsregelungen seien grundsätzlich verfassungswidrig.
      Angesichts der folgenschweren und bis in die Arbeitswelt reichenden Wirkungen von Sanktionen, hofften wir, mit dem Streitgespräch einen (wenn auch kleinen) Impuls zu einer längst fälligen Debatte zu geben. Ob dies gelungen ist, mögen andere beurteilen.
      Quelle: Streitgespräch vom 25.6.2013 auf YouTube
  4. Politik des Argwohns
    Die Asylzahlen steigen, und sie werden das weiter tun. Die Regierung sollte endlich deutlich machen, dass das kein Grund zur Panik ist, statt xenophobe Ängste zu schüren. (…)
    Es ist kein Wunder, wenn sich der migrationspolitische Rollback auch gesellschaftlich niederschlägt. Dass die Deutschen, wie die Bertelsmann-Stiftung dieser Tage mahnte, im Vergleich zu Bürgern anderer Staaten immer weniger bereit sind, Vielfalt im Alltag zu akzeptieren, ist nicht nur sozial und verfassungsrechtlich bedenklich. Eine Exportnation mit wachsendem Arbeitskräftemangel kann sich ein derart grassierendes Nein zu Diversität nicht leisten, es droht, zu einem Standortnachteil erster Ordnung zu werden. Verantwortlich dafür sind vor allem diejenigen, die Migrationspolitik am liebsten mit xenophoben Warnbotschaften betreiben.
    Quelle: Frankfurter Rundschau
  5. Wie die Gerichte die Leiharbeit zähmen
    Vor zehn Jahren ermöglichte die SPD Leiharbeit im großen Stil. Die boomende Branche geriet schnell in Verruf: durch Dumpingtarife, durch den Ersatz von Stammbelegschaften, und weil Sozialstandards oft mit Füßen getreten wurden. Arbeitsrichter setzen dem Missbrauch nun Grenzen. (…)
    Die Bundesarbeitsrichter in Erfurt schlugen in diesem Jahr mit einer bemerkenswerten Serie von Urteilen Pflöcke ein, an denen Ver- und Entleihfirmen nach Einschätzung von Arbeitsrechtlern nicht mehr vorbeikommen. Seit Januar ging es Schlag auf Schlag: Das Bundesarbeitsgericht (BAG) urteilte, dass Leiharbeitnehmer in den Entleihfirmen mitzählen – bei der Größe des Betriebsrats ebenso wie bei den Regeln für den Kündigungsschutz.
    Wenn Kleinbetriebe durch Leiharbeiter die Schwelle von zehn Arbeitnehmern übersteigen, gibt es für die Stammbelegschaft Kündigungsschutz, wie Gerichtssprecherin Inken Gallner erklärt. Die Betriebsratsentscheidung des BAG werde 2014 Wirkung zeigen, sagt Thomas Klebe, Chefjurist beim Vorstand der IG Metall in Frankfurt. “Bei den anstehenden Betriebsratswahlen wird es größere Arbeitnehmervertretungen geben.” Manche Metall-Firmen hätten einen Leiharbeiteranteil von 20 bis zu 30 Prozent. (…)
    Zudem pochten die Bundesarbeitsrichter erneut auf gleiche Bezahlung von Leiharbeitern wie für die Stammbelegschaften, wenn es keinen gültigen Tarifvertrag gibt. Für Bewegung hatten sie bereits mit einem Grundsatzurteil 2010 gesorgt, als sie der Tarifgemeinschaft Christlicher Gewerkschaften für Zeitarbeit (CGZP) das Recht auf Abschluss von Tarifverträgen absprachen – meist waren Dumpingkonditionen vereinbart worden. Das Urteil sorgte für neue Tarife in der Verleihbranche und eine Klagewelle auf Lohnnachzahlungen in Millionenhöhe.
    Im Juli sorgten die obersten deutschen Arbeitsrichter für Aufsehen, weil sie Betriebsräten ein Vetorecht einräumten, wenn Leiharbeiter in ihrem Unternehmen dauerhaft eingesetzt werden sollen. Noch haben die Richter ihr Pulver für dieses Jahr nicht verschossen: In einem nächsten Schritt könnte das BAG dafür sorgen, dass dem Dauereinsatz von Leiharbeitern in Unternehmen ein Riegel vorgeschoben wird. (…)
    Manches arbeitnehmerfreundliche Urteil verpufft womöglich auf lange Sicht: Arbeitgeber, die Löhne drücken wollen, haben längst neue Wege gefunden. Vor allem einfache Jobs, etwa Regaleinräumen im Supermarkt, werden schon jetzt immer häufiger über Werkverträge an Fremdfirmen vergeben. Damit lassen sich auch die Lohnuntergrenzen, die für viele Leiharbeiter gelten, unterlaufen.
    Quelle: Spiegel Online
  6. Sanktionen gegen Siedler: Israel empört über die EU
    Der israelische Ministerpräsident Netanyahu hat am Dienstagabend überrascht und verärgert auf die Ankündigung neuer EU-Richtlinien zur Zusammenarbeit mit Israel reagiert. Die Tageszeitung «Haaretz» hatte deren offizielle Publikation durch die EU für Freitag angekündigt. Sie untersagen die Kooperation mit israelischen Institutionen jenseits der grünen Linie durch EU-Institutionen, sind allerdings entgegen ersten Meldungen nicht bindend. Auch ist der Handel nicht davon betroffen. Die Regelung soll am 1. Januar 2014 in Kraft treten. Netanyahu will nun ihre offizielle Publikation hinauszögern. In Israel weckte die Ankündigung, dass weitere Massnahmen folgen könnten, Ärger. Die neuen Richtlinien reflektieren weitgehend die bestehende Politik der EU und wurden im Rahmen des neuen Budgets 2014–2020 verfasst. Sie waren also nicht als Druckmittel für die Bemühungen des amerikanischen Aussenministers um Friedensverhandlungen gedacht, wie zunächst vermutet wurde. Die Reaktionen von Israels Politikern liessen angesichts der nahezu hysterischen und teilweise falschen Berichterstattung in israelischen Medien nicht auf sich warten. Wirtschaftsminister Naftali Bennett, Chef der Nationalreligiösen und Befürworter einer Annexion weiter Teile Cisjordaniens, sagte, der EU-Entscheid sei wirtschaftlicher Terror gegen die Chancen auf einen Frieden. Letzte Woche hatte er noch über Warnungen vor einer drohenden internationalen Isolation gespottet. Eine der Warnenden war Justizministerin Livni gewesen, die auch für das Dossier der Friedensverhandlungen zuständig ist. Sie meinte, es sei unglücklich, dass Israel an diesen Punkt gelangt sei, doch der EU-Entscheid sei ein Weckruf, dass die diplomatische Stagnation nicht weitergehen könne. Der schwedische Aussenminister sagte in Reaktion auf den israelischen Aufschrei, es sollte niemanden überraschen, dass die EU das Völkerrecht unterstütze. Nach internationalem Konsens ist Cisjordanien besetztes Gebiet. Die Grenzen von 1967 sollten die Basis für eine Zweistaatenlösung bilden. Die gegenwärtige israelische Regierung hat sich von dieser Position entfernt. Kommentatoren in israelischen Tageszeitungen kritisierten die Regierung, dass sie überrascht reagierte. Die EU hatte in der Tat schon länger die Siedlungspolitik gerügt. Dass sich Israel daran gewöhnt hat, Kritik einzustecken, auf die keine handfesten Konsequenzen folgen, hat aber mit einer entsprechenden Politik Europas und der USA zu tun.
    Quelle: NZZ

    Anmerkung Orlando Pascheit: Mit jenseits der grünen Linie ist gemeint, dass die EU-Kommission keine israelischen Projekte im besetzten Westjordanland, dem arabischen Ostteil Jerusalems und den 1967 von Israel eroberten Golanhöhen unterstützen wird. Wie das Wall Street Journal schreibt, sind in den vergangenen sieben Jahren etwa 800 Millionen Euro an Finanzhilfen aus Brüssel nach Israel geflossen.
    Allein für Forschungsprogramme in Israel stellte die EU in den vergangenen Jahren mehr als 100 Millionen Euro zur Verfügung. Allerdings dürfte der Anteil für die besetzten Gebiete in allen Bereichen der Zusammenarbeit marginal sein. “Mir ist nur ein einziges Projekt bekannt, das heute überhaupt noch gefördert wird”, erklärte David Chris, Sprecher der EU-Vertretung in Tel Aviv, am Mittwoch auf telefonische Anfrage. “Davon abgesehen geht es um null Euro.” Seit Jahren schon halte sich die EU daran, keine Projekte in den besetzten Gebieten zu fördern. Die am Mittwoch von Haa’retz veröffentlichten Richtlinien bildeten lediglich einen formalen Rahmen. “Die Regelungen gelten für EU-Institutionen”, betonte der Sprecher, “nicht für die EU-Mitgliedstaaten.”
    Die Krux liegt woanders. Für das anstehende EU-Rahmenprogramm für Forschung und Innovation „Horizont 2020“ würde das z.B. israelische Wissenschaftler betreffen. Es ist kaum anzunehmen, dass die israelische Regierung ein Dokument unterschreiben wird, das erwähnt, dass die nach 1967 besetzten Gebiete (einschließlich Ostjerusalem) von einer Förderung ausgeschlossen bleiben. Andererseits dürften einzelne Institutionen wie z.B. Universitäten kein Problem damit haben, bei der Bewerbung um EU-Fördermittel zu erklären, dass die besetzten Gebiete nicht involviert wären. Die Reaktion der konservativen Presse – so schreibt ‘Israel Hajom’, dass die EU mit ihrer Entscheidung “den Siedlern einen gelben Stern anheftet” – und von Regierungsmitgliedern sowie Parlamentariern, zeigen, dass die nochmalige Klarstellung der EU angebracht war. Die Rede Benjamin Netanjahus von der verloren gegangenen Neutralität Europas ist nicht korrekt. Schließlich ist die Nichtanerkennung der Besatzung der Golanhöhen, des Westjordanlandes, des Gazastreifens und Ostjerusalems Gebiete seit Jahren offizielle Politik der EU. Im Übrigen haben die Außenminister der Europäischen Union bereits am 10. Dezember 2012 ihre Verpflichtung bekräftigt, dass alle Abkommen mit Israel eindeutig und explizit auf die Nichtanwendbarkeit in den von Israel 1967 besetzten Gebieten hinweisen. Die neue Förderrichtlinien stellen nur die bürokratische Umsetzung von Punkt 4 des Außenministertreffens dar.
    Wer behauptet, dass die jetzige Klarstellung die Verhandlungen des US-Außenminister John Kerry torpediere, verkennt dass mit Mitgliedern der Regierung wie dem israelische Minister für Bau- und Wohnungswesen eine Zweistaatenlösung nie zustande kommen wird. Vor wenigen Tagen wurde die geplante Errichtung von 900 neuen Wohneinheiten im Westjordanland bekannt. Uri Ariel Reaktion ist deutlich: Die EU trete in die Fußstapfen des “Dritten Reiches … Das ist eine rassistische Entscheidung, die das jüdische Volk diskriminiert und an den Boykott gegen Juden vor mehr als 66 Jahren erinnert.” Seine Partei HaBayit HaYehudi (Jüdisches Heim), welche bei der letzten Knessetwahl 12 Mandate erhielt, lehnt einen eigenständigen Palästinenserstaat grundsätzlich ab und befürwortet den Ausbau jüdischer Siedlungen. Die Position der Justizministerin und Regierungsbeauftragten für Friedensverhandlungen Zipi Livni, die die Richtlinie als Weckruf bezeichnete, ist in der gegenwärtigen Regierung allerdings äußerst schwach. Ihre Partei Hatnua (Die Bewegung) erreichte in der Knessetwahl 2013 sechs Sitze bzw. 4,99 Prozent.
    Der Handel ist in den EU-Richtlinien nicht angesprochen, denn die EU erhebt auf Einfuhren aus den besetzten Gebieten bereits Zölle, auf Importe aus dem anerkannten Staatsgebiet Israels kaum. Allerdings sind die Produkte für europäische Zollbeamte nur schwer zu unterscheiden, da sie, egal woher, das Label “Made in Israel” tragen. Derzeit wird seitens der EU die einheitliche Kennzeichnungspflicht für israelische Waren aus dem besetzten Land diskutiert. Kunden könnten dann entscheiden, ob sie Produkte “Made in Israeli settlements” und “East-Jerusalem” kaufen möchten oder nicht, wie es in Dänemark, Holland und Großbritannien bereits Praxis ist. Israel importiert 34 Prozent aller Importe aus der EU und bei den Exporten stellt die EU nach den USA mit 26 Prozent den zweitwichtigste Absatzmarkt. – Israel muss sich entscheiden, ob es die Besiedlung besetzter Gebiete neben den fundamentalistisch religiösen Aspekten weiterhin als sicherheitspolitische Notwendigkeit betrachten will oder in Betracht zieht, dass der palästinensisch-israelische Konflikt als Symbol der Mobilisierung für den Kampf der muslimisch – arabischen Welt gegen Israel und den Westen, nicht nur für radikale Islamisten, höchste Bedeutung zukommt. Ganz abgesehen, dass sich am Horizont auch wirtschaftliche Konsequenzen abzeichnen. Die Tageszeitung Haaretz berichtete, dass als „Investment-Komitees“ bekannte Beratungsfirmen, großen europäischen Banken und Fonds abgeraten hätten, Darlehen oder Hilfe an israelische Firmen zu vergeben, die in der West Bank tätig sind, darunter auch israelische Banken, die für Häuser Hypotheken vergeben, die dort gegen Internationales Recht errichtet werden. In seinem Artikel in der israelischen Tageszeitung beschrieb Yossi Verter das als „das Albtraum-Szenario“ und einen „wirtschaftlichen Tsunami.“ Immerhin hat Palästina aufgrund seines Nichtmitglied-Beobachterstatus bei der UNO jetzt Zugang hat zum Internationalen Strafgerichtshof ICC und könnte Klagen gegen Israel oder andere Rechtsgebilde beim ICC einreichen könnte, die an dessen Verstößen gegen internationales Recht beteiligt sind.

  7. Helft Syrien jetzt
    Morgen ist es vielleicht zu spät. Die westliche Politik ist nicht nur kurzsichtig und verlängert den Konflikt, sie ist zutiefst unmenschlich Es gibt keine gleichgewichtigen Bösen in Syrien – so wie es die Mehrheit der westlichen Medien behauptet, im Kontrast zu den Berichten der UN und anderer internationaler Organisationen. Es gibt nur ein faschistisches Regime, das bereits mehr als 100.000 Syrer getötet hat, auf der einen Seite, und auf der anderen diverse revolutionäre Gruppen, von denen manche sich im Laufe des anhaltenden Konflikts radikalisiert haben. Und der Widerstand der syrischen Gesellschaft gegen diese Radikalisierung wird schwächer. US-amerikanische und westliche Politiker haben oft darauf bestanden, dass es keine militärische Lösung für Syrien geben kann. Aber wo ist die politische Lösung? Wann hat Baschar Assad in den letzten 28 Monaten und nach über 100.000 Toten ernsthafte Verhandlungen angeboten und sich bereit gezeigt, die Macht zu teilen? Die Wahrheit ist, es wird keine politische Lösung geben, solange Assad nicht zum Rücktritt gezwungen wird und mit ihm die Meister des Todes in seinem Regime. Liebe Freunde, ich wende mich heute an Sie, weil die syrische Tragödie sich zu einem der größten und gefährlichsten Probleme in der Welt ausgeweitet. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung sind auf der Flucht, innerhalb und außerhalb des Landes, Hunderttausende sind verletzt oder kriegsversehrt, und etwa 250.000 Menschen werden in den Gefängnissen auf unvorstellbare Weise gefoltert. Als Meinungsmacher in Ihren Ländern flehen wir Sie an: Üben Sie Druck auf Ihre Regierungen aus, damit Assad zurücktreten muss und das Regime fällt. Das ist die einzige humane und progressive Sache, die es zu tun gilt. Denn nichts ist reaktionärer in der Welt von heute als ein Regime, das die “eigene” Bevölkerung ermordet, Mörder und Söldner aus dem Ausland importiert, um einen sektiererischen Krieg zu führen, der nicht enden wird, bevor weitere Hunderttausend Menschen gestorben sind.
    Quelle: taz

    Anmerkung Orlando Pascheit: Man muss die Forderung nicht teilen, um das Leid zu begreifen. Aber was tun? Der Aufruf erschien bereits im Guardian, in Le Monde, an-Nahar und El Mundo.

  8. Mit dem Heil der Kirche
    Am 23. März 1933 erfüllte der Reichstag Hitlers lange gehegten Wunsch: Mit 444 gegen 94 Stimmen der SPD verabschiedete er das »Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich«. Es räumte der Regierung das Recht ein, Gesetze ohne die Mitwirkung des Reichstages und des Reichsrates zu erlassen. Damit entmachteten sich beide Einrichtungen selbst. Die Regierung konnte jetzt auch offen verfassungswidrige Gesetze erlassen. Am Abend desselben Tages ließ auch der Reichsrat das »Ermächtigungsgesetz« einstimmig passieren (siehe jW-Thema vom 22.3.2013). Im Rahmen der von Hitler verfolgten Legalitätstaktik kam der Unterstützung durch die katholische Zentrumspartei und ihren bayrischen Ableger, der Bayerischen Volkspartei, eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu. Nachdem die katholischen Parteien sich Anfang Juli dann selbst aufgelöst hatten, erkannte der Vatikan durch das Reichskonkordat vom 20. Juli 1933 als erster »Staat« Hitlerdeutschland völkerrechtlich an. Am 10. September 1933 wurde der Staatskirchenvertrag durch das Deutsche Reich ratifiziert. Hitler konnte stolz sein, hatte die katholische Kirche seinem Regime doch den höchstamtlichen Segen erteilt.
    Quelle: junge Welt

    Anmerkung C.R.: Der offizielle Beginn der Beziehung zwischen Nazi-Deutschland und dem Vatikan gerät angesichts des späteren Attentats auf Hitler leider allzu oft aus dem Blick. Auch der gelernte Theologe Joachim Gauck gedenkt als Bundespräsident offenbar lieber den Attentätern als an das Konkordat zu erinnern.
    Allgemeineres zum Thema Konkordat ist u.a. einem Essay von Ingrid Matthäus-Maier zu entnehmen: Mit Glauben ist kein Staat zu machen.

  9. Der Umbau der Werkbank wird schmerzhaft
    Doch Chinas Führung ist klar geworden: So geht es nicht weiter. Die Ansprüche der chinesischen Arbeitnehmer steigen. Will die Kommunistische Partei der Bevölkerung zu einem Wohlstand verhelfen, der mit dem der Menschen in den USA und Europa vergleichbar ist, muss sie Industrien für hochwertige Produkte schaffen, die höhere Löhne versprechen und stärker auf die Bedürfnisse der eigenen Bevölkerung eingehen.
    Dieser Strukturwandel ist nun voll im Gange. Die Löhne sind deutlich gestiegen – was dazu führt, dass die exportorientierte Industrie im großen Stil abwandert. Zugleich wird die chinesische Führung nicht müde, Reformen zu versprechen, die den Binnenkonsum stärken und nachhaltige sowie umweltfreundliche Industrien und Dienstleistungen versprechen. “Dieser Prozess ist jedoch schmerzhaft und braucht seine Zeit”, sagt der chinesische Ökonom Oliver Meng Rui von der China Europe International Business School in Schanghai. (…)
    Die Sorge, Chinas Schuldenproblem könnte zu einem Zusammenbruch der weltweiten Finanzindustrie führen, ähnlich wie nach der Lehman-Pleite, hat Ökonom Rui nicht. Zu Recht: Die chinesischen Schulden basieren auf Darlehen von Banken, die wiederum dem Staat gehören. Und der ist zumindest bislang stets zur Rettung eingesprungen. Aber selbst im Fall eines Bankencrashs blieben die Auswirkungen überschaubar. Denn das chinesische Finanzsystem ist vom Rest der internationalen Finanzmärkte nach wie vor weitgehend abgekoppelt.
    He Xiaoyu von der Zentralen Hochschule für Wirtschaft und Finanzen in Peking blickt trotz der aktuellen Probleme zuversichtlich auf Chinas Entwicklung. Die Wirtschaftsleistung habe sich in den vergangenen 30 Jahren mehr als verzwanzigfacht. He hält es für normal, dass das prozentuale Wachstum bei einer inzwischen so großen Volkswirtschaft abnimmt. “In absoluten Zahlen bleibt Chinas Wachstum aber beachtlich.”
    Quelle: taz.de
  10. Demoskopische Wahlpolitik
    Je näher der 22. September rückt, desto besser kommen die Meinungsforscher ins Geschäft; alle paar Tage warten die Medien mit scheinbar präzisen Ergebnissen zu der Frage auf. In welcher Weise veröffentlichte Umfrageergebnisse über Parteipräferenzen vor den Wahlen parteipolitische Hin- oder Abwendungen beeinflussen, darüber streitet man seit langem in der Politikwissenschaft. Als plausibel kann aber die Annahme gelten, dass es die Chancen einer Partei bei der Wahl mindert, wenn diese in der massenmedialen Verwertung der Wahldemoskopie gar nicht erst genannt wird. Ein existenzielles Problem ist das für diejenigen Parteien, bei denen ungewiss ist, ob sie die Fünfprozenthürde bei der Bundestagswahl überspringen können. Ein Blick auf den momentanen Stand: Bei der “Sonntagsfrage” geben die führenden Demoskopiefirmen (Allensbach, Emnid, Forsa, Forschungsgruppe Wahlen, GMS, Infratest-Dimap) nicht mehr sämtlich die ermittelten Werte für die Piratenpartei an – die Forschungsgruppe Wahlen und Infratest -Dimap verzichten darauf. Weshalb sie so verfahren, wollte ich von ihnen wissen. Matthias Jung (Forschungsgruppe Wahlen) gab mir Bescheid, sein Institut nenne in der Auswertung grundsätzlich nur die Parteien, die in der jeweiligen Umfrage einen Wert über 3 Prozent der Antworten erreicht hätten, bei “kleineren Werten” seien “inakzeptable relative Fehlerbereiche impliziert”. Melanie Kipp (Infratest-Dimap) erklärte mir die Abwesenheit der Piratenpartei ebenfalls methodisch: Die habe nicht den “Anteilswert von mindestens 3 Prozent” erreicht und sei daher nicht nennenswert, denn bei einer Zufallsstichprobe, wie sie Grundlage der “Sonntagsfragen” ist, müsse man mit einem “Zufallsfehler”, einer “Unschärfe” rechnen.
    In die eifrige Wiedergabe der “Sonntagsfrage”-Resultate in den Medien gelangt dieser Vorbehalt aber nahezu ausnahmslos nicht hinein, das Publikum nimmt also die Prozentzahlen für bare Politmünze. Und Demoskopen werden, wenn es um kleine und noch nicht etablierte Parteien geht, zu Politikgestaltern. Am Beispiel der Piratenpartei: Wenn diese bei einer “Sonntagsfrage” einen Wert knapp unter drei Prozent erreicht, steckt die erwähnte “Unschärfe” darin; es könnten also auch fast vier Prozent sein. Da kann sich dann die Demoskopiefirma entscheiden: Will sie diese Partei im veröffentlichten Resultat ihres Frageeifers nennen oder nicht. Das hat Folgen im Prozess der Herausbildung von Sichtweisen und Gefühlen der Kunden im Parteienmarkt.
    Quelle. Telepolis
  11. »›Kamera aus oder ich schieß’‹, hieß es«
    Pressefreiheit in Deutschland endete für Kameramann gegenüber dem US-Konsulat in Frankfurt am Main. Gespräch mit Romas Dabrukas
    Romas Dabrukas arbeitet als Kameramann für die Nachrichtenagentur Ruptly TV in Berlin. Diese bereitet internationale Nachrichten für Onlinemedien auf und gehört zur Mediengruppe Russia Today (RT-Television)
    In der Nacht zum Montag wollten Sie eine Aktion von Politkünstlern vor dem US-Konsulat in Frankfurt am Main filmen. Dabei wurden Sie von der Polizei mit vorgehaltener Schußwaffe an Ihrer Arbeit gehindert. Was ist vorgefallen?
    Etwa gegen zwei Uhr war ich in dieser Nacht im Auftrag der Nachrichtenagentur Ruptly TV, für die ich als Kameramann arbeite, vor dem amerikanischen Konsulat. Ich war gerade aus der nordirischen Hauptstadt Belfast zurückgekehrt, um in Frankfurt am Main diese Kunstaktion vor dem Konsulat zu filmen.
    Schon bevor alles losging, war plötzlich ein Aufgebot von etwa 20 Polizisten da; einige uniformiert, andere in Zivil. Die Künstler waren gerade vorgefahren. Sie hatten Technik dabei, um Bilder an die Gebäudewand zu projizieren. Wie ich gehört hatte, ging es darum, mit Lichtbildern gegen die Überwachung des amerikanischen Geheimdienstes NSA in Deutschland zu protestieren.
    Dann ging alles ziemlich schnell. Mehrere Polizeiwagen fuhren vor. Mit der Waffe in der Hand wurde ich aufgefordert, meine Kamera abzuschalten. »Kamera aus oder ich schieß’«, hieß es. Ich war schockiert, welche Zustände in bezug auf die Pressefreiheit in Deutschland herrschen. Zunächst dachte ich, vielleicht ist all das darauf zurückzuführen, daß ich nur einen litauischen Presseausweis bei mir hatte.
    Quelle: junge Welt
  12. Ergänzung zum Hinweis des Tages vom 19. Juli 2013 Nr. 11 – China’s Ponzi Bicycle Is Running Into A Brick Wall
    In this morning’s session, I found myself using various metaphors to explain pretty much the same points I made in today’s column.
    One of them was that in a way, China’s low-consumption high-investment economy was a kind of Ponzi scheme. Chinese businesses were investing furiously, not to build capacity to serve consumers, who weren’t buying much, but to serve buyers of investment goods — in effect, investing to take advantage of future investment, adding even more capacity. Would there ever be final buyers for what all this capacity could produce? Unclear. So, a kind of Ponzi scheme.
    Also, my worries are that China doesn’t know how to slow down — that it’s a bicycle economy that falls over if it stops moving forward.
    And of course I’ve argued that running out of peasants creates a wall.
    So, the Chinese Ponzi bicycle is running into a brick wall. Also, the fascist octopus has sung its swan song.
    Still not sure I’m living up to the world’s worst sentence, however.
    Quelle: The New York Times The Opinion Pages
  13. Zu guter Letzt: Eine Glosse über Stromversorger im Besonderen und Systemrelevanz im Allgemeinen
    Jetzt wird schon von Erpressung gesprochen. Was die Kritiker dabei überhaupt nicht begriffen haben: Es entwickelt sich grade eine neue Form der Ökonomie. Das hat angefangen mit den Banken. Die drohen seit 2008 immer mal wieder mit ihrer Systemrelevanz, daraufhin überweist ihnen der Staat ein paar Milliarden. Dann kam die Autoindustrie mit ihrer Systemrelevanz – gab’s die Abwrackprämie. Und nun sind die Energieerzeuger dran: Strom ist ja bei der Systemrelevanz Marktführer. Wenn’s ihn nicht gäbe, würden Sie mich jetzt gar nicht hören. (…)
    D.h. wer Strom liefert, kann eine amtliche Drohkulisse aufbauen. Und damit sind wir beim neuen Business-Modell: Profit erzielen, indem man dem Staat die eigene Wichtigkeit verklickert. Geld her, oder wir reißen das Gemeinwesen in den Untergang! Die New Economy ist tot, jetzt kommt die Threat-Economy. Drohungsliberalismus. Selbst die gelbsten Neoliberalen haben mittlerweile kapiert: Sie dürfen den Staat nicht abschaffen, sonst ist niemand mehr da, dem sie drohen können. Was nützt es einem Konzern, mit seiner Systemrelevanz zu fuchteln, wenn’s kein System mehr gibt? Wenn nur noch der Markt übrig ist. Dem braucht man mit selbstmitleidigem Gebluffe nicht zu kommen. Der hört sich das ein Quartal lang an und dann sagt er: Heult doch!
    Wo aber ein Staat ist, wächst das Rettende auch. Fragt sich, welche Branche als nächstes draufkommt, dass wir ohne sie nicht können. Es wundert mich eigentlich, dass die Brauereien noch stillhalten.
    Quelle: WDR 5

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