Eurokrise in Zahlen (II) – Krisengewinnler Neoliberalismus
Während die Welt unter dem Joch der Spekulation an den Finanzmärkten leidet, konnte Deutschland seine finanzpolitische Situation in den letzten beiden Jahren merklich verbessern. Beleg dafür sind die deutlich gesunkenen Zinsen für Staatsanleihen, von denen nicht nur Deutschland, sondern auch andere Länder profitieren, die in den Turbulenzen der Finanzkrise als sicherer Hafen gelten. Anstatt diesen positiven Effekt dazu zu nutzen, zumindest im eigenen Lande die Krisenfolgen zu mildern, nutzt Deutschland die Gunst der Stunde, um ganz Europa auf den neoliberalen Kurs deutscher Schule zu zwingen. Die Folgen dieser Politik sind verheerend – auch für Deutschland. Von Jens Berger
Wenn Politiker und Journalisten den Eindruck vermitteln wollen, dass die Folgen der Finanzkrise zu einem „fundamentalen Vertrauensverlust“ in den Staat geführt hätten, dann ist dies fundamentaler Unsinn. Wie etwa aus den Daten der OECD hervorgeht, hat die Finanzkrise entgegen allem Krisengerede dazu geführt, dass die Zinssätze und damit die Renditen für die Staatsanleihen der großen OECD-Staaten signifikant gesunken sind. Aktuell liegt der Zinssatz zehnjähriger Bundesanleihen erstmals unter 2,0% – die von den USA aufgelegten inflationsindexierten Staatsanleihen (TIPS) erzielen sogar negative Renditen. Die Anleger misstrauen den Staaten demnach nicht, sondern vertrauen ihnen so stark, dass sie ihnen ihr Geld zu einem Zinssatz leihen, der oft niedriger als die Inflationsrate liegt. Wenn irgendwo ein „fundamentaler Vertrauensverlust“ auszumachen ist, dann gilt er gegenüber den Banken, die sich noch nicht einmal selbst vertrauen und ihre liquiden Mittel lieber zum Einlagezinssatz von nur 0,75% bei der EZB parken, als sie anderen Banken zu einem höheren Zinssatz zu leihen.
Dass und warum einige Staaten, wie beispielsweise Italien oder Spanien, aufgrund einer grotesken Spekulationssituation nicht gleichfalls von diesem Vertrauensgewinn profitieren können, zeigten wir bereits im ersten Teil dieser Analyse.
Zinslast im Sinkflug
Bereits im Jahre 2002 entzogen die Ratingagenturen Moodys und Standard and Poors Japan das heißbegehrte AAA und ordneten die Bonität somit zwischen der Botswanas und der Estlands ein. Neun Jahre später kann sich Japan immer noch zu einem Zinssatz refinanzieren, der weltweit seinesgleichen sucht. Nach Herabstufung der Bonität stiegen die Zinsen für japanische Staatsanleihen nicht etwa an, sondern sanken auf das bis dato historische Minimum von 1,0%. Heute liegt der Zinssatz für japanische Staatsanleihen bei 0,9%. Japan zahlt für jeden Yen Schulden also weniger als ein Drittel dessen, was Frankreich für jeden geliehenen Euro zahlt. Damit relativiert sich auch die Auswirkung der im Verhältnis zu allen anderen vergleichbaren Ländern gigantischen japanischen Verschuldung auf den Haushalt der Tokyoter Zentralregierung.
Auch Deutschland profitiert bei der Betrachtung der Zinslast von der Krise. Im Jahre 2007 betrug die Gesamtverschuldung des Bundes 962 Mrd. Euro. Dies entsprach 39,55% des Bruttoinlandsproduktes. Für die Zinslasten musste der Bundeshaushalt damals 38,8 Mrd. Euro bereitstellen – dies entspricht rechnerisch einem durchschnittlichen Zinssatz von 4,0% und einem Anteil von rund 1,7% gemessen am Bruttoinlandsprodukt.
Im Jahre 2010 betrug die Gesamtverschuldung des Bundes 1.110 Mrd. Euro. Dies entsprach 44,40% des Bruttoinlandsproduktes. Die Schulden sind sowohl absolut als auch relativ gestiegen, die Zinslast ist jedoch merklich gesunken. Für die Zinslasten musste der Bundeshaushalt im letzten Jahr nur noch 33,1 Mrd. Euro bereitstellen – dies entspricht einem durchschnittlichen Zinssatz von 2,98% und einem Anteil von rund 1,5% des Bruttoinlandsproduktes. Bei der letzten Auktion für Bundesanleihen [PDF – 20 KB] erzielten die 10-jährigen Papiere sogar nur eine Rendite von 2,15%. Die Finanzkrise hat somit nicht nur zu einer nur geringfügig höheren Gesamtverschuldung, sondern sogar zu einer signifikanten Reduzierung der relativen und absoluten Kosten für die Verschuldung geführt.
Meinungsmache im Sinne der Schock-Strategie
Das populärere Vorurteil, nach dem Deutschland aufgrund der Schuldenproblematik keinen Spielraum hätte, um haushaltspolitisch gegen die massiven Folgen der Finanzkrise anzukämpfen, ist bei näherer Betrachtung nicht mehr haltbar. Doch statt mittels antizyklischer Finanz- und Wirtschaftspolitik die Krisenfolgen einzudämmen, die Binnennachfrage zu stärken und damit als stärkste europäische Volkswirtschaft die dringend benötigte Rolle einer Wachstumslokomotive zu übernehmen, verfolgt die deutsche Regierung eine prozyklische Sparpolitik und nutzt ihren gewonnenen Einfluss darüber hinaus auch noch dazu, ihre neoliberale Schock-Strategie auf die gesamte Eurozone auszudehnen.
Wie leider kaum anders zu erwarten, klären die Medien nicht etwa über diesen offensichtlichen Widerspruch auf, sondern leisten der Regierung stattdessen propagandistische Schützenhilfe. Aus einer spekulationsbedingten Refinanzierungskrise einiger europäischer Staaten wird eine „Schuldenkrise“ gemacht. Jeder politische (und ökonomische) Gedanke, der der neoliberalen Schock-Strategie zuwider läuft, wird als „falsches Signal an die Märkte“ denunziert – gerade so, als seien die Spekulanten ein legitimer und legitimierter Schiedsrichter für volkswirtschaftliche Fragen. Anstatt Aufklärung zu betreiben, wird Meinungsmache betrieben.
Doch diese Strategie ist keinesfalls risikolos und zudem volkswirtschaftlich grotesk. Wer soll dem Vize-Export-Weltmeister Deutschland denn seine Waren abkaufen, wenn die gesamte industrialisierte Welt sich zu Tode spart? Schon heute lahmt die Wirtschaft vor allem deshalb, weil die Nachfrage aufgrund sinkender Reallöhne stagniert. Wie sollen Länder wie Griechenland, Spanien oder Portugal ihre Defizite abbauen, wenn Deutschland seine Überschüsse nicht verringern will? Wer soll überhaupt Defizite machen, wenn alle europäischen Staaten Überschüsse erzielen sollen? Die Überschüsse einiger Staaten müssen immer auch zwingend die Defizite anderer Staaten sein.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die deutsche Hegemonialpolitik nicht nur die europäische Währungsunion, sondern auch die europäische Integration und sogar den europäischen Gedanken an die Wand fahren wird. Wenn Angela Merkel denkt, ganz Europa und vielleicht sogar die ganze Welt würde sich von Deutschland einen selbstzerstörerischen Sparkurs aufzwingen lassen und dessen katastrophale Auswirkungen folgenlos hinnehmen, dann könnte sie sehr bald von ihrem hohen Ross gestoßen werden. Sie sägt nicht nur der extrem exportlastigen deutschen Wirtschaft den Ast ab, sondern sie isoliert Deutschland auch politisch von seinen Nachbarn und zerstört das über Jahrzehnte mühselig aufgebaute Vertrauen in das europäische Einigungswerk. Wir wären wieder in den Zeiten vor 1914 angekommen und damit um hundert Jahre zurückgeworfen.