Die Eurokrise in Zahlen (I) – Wie Musterschüler zu Problemkindern wurden
Mit steter Regelmäßigkeit behaupten die deutsche Regierung und viele deutsche Medien, dass die Eurokrise eine direkte Folge des finanzpolitischen Schlendrians einiger Eurostaaten sei. Eine unwahre Aussage wird jedoch nicht wahrer, wenn man sie regelmäßig wiederholt. Ein Blick auf die statistischen Daten der OECD reicht aus, um diese Aussage zu widerlegen. Das Gegenteil ist vielmehr der Fall – am Vorabend der Finanzkrise galten die heutigen Problemkinder noch als finanzpolitische Musterschüler. Von Jens Berger
“Eigentlich ist es unter Ökonomen weltweit unbestritten, dass eine der Hauptursachen — wenn nicht sogar die Hauptursache — der Krise — nicht nur jetzt, sondern schon 2008 — die zu hohe Verschuldung der öffentlichen Haushalte auf der ganzen Welt ist.”
Wolfgang Schäuble in einem Interview mit der ARD-Sendung Plusminus
Spekulanten und „Märkte“
Die Griechenlandkrise hat gezeigt, dass Staatsschulden sich in ein Damoklesschwert verwandeln können, wenn Spekulanten sich gegen ein Land verschwören. Nicht die Höhe der Schulden, sondern die Zinskosten sind es, die ein Land an den Rand der Zahlungsunfähigkeit treiben können. Diese Zinslast setzt sich aus der Höhe der Verschuldung und dem Zinssatz zusammen. Während die Höhe der Schulden von der Politik bestimmt wird, bestimmen die Akteure auf den Finanzmärkten den Zinssatz.
Finanzmärkte funktionieren nach dem Prinzip des Herdentriebs. Volkswirtschaftliche Rahmendaten gelten dort bestenfalls als ein Faktor von vielen, der die Herde in eine bestimmte Richtung treibt. Oft genügt bereits ein Gerücht oder eine Pressemeldung, die zwischen den Zeilen anders gelesen werden kann, um die Spekulanten zu logisch nicht nachvollziehbaren Aktionen zu treiben. Es ist jedoch auch keinesfalls auszuschließen, dass diese „Märkte“ von einigen wenigen Großspekulanten manipuliert werden, die ihr Spiel mit der Politik treiben und diese am Nasenring durchs Kasino führen.
Wenn Wolfgang Schäuble den Eindruck erweckt, dass die Krise durch volkswirtschaftliche Gründe ausgelöst wurde, so ist dies bereits – unabhängig vom Wahrheitsgehalt der Aussage – eine Manipulation, mit der unterstellt wird, dass die Akteure auf den Finanzmärkten rational agieren. Dem ist nicht so – die Finanzmärkte sind ein Tummelplatz für Spekulanten, deren Herdentrieb oft komplett irrational ist. Doch auch der volkswirtschaftliche Kern von Schäubles Aussage ist falsch.
Wer die Ursachen der heutigen Eurokrise herausfinden will, sollte bei seinen Beobachtungen zwei Perioden unterscheiden – die Zeit vor, und die Zeit nach dem bisherigen Höhepunkt der Finanzkrise im September 2008. Betrachtet man die finanzpolitischen Rahmendaten nahezu aller OECD-Staaten, so erkennt man zwischen den Jahren 2007 und 2008 eine deutliche Zäsur. Die „hohe Verschuldung“, die Wolfgang Schäuble für die Krise verantwortlich macht, entstand (mit Ausnahme von Japan) erst in der Periode nach dem September 2008. Am Vorabend der Krise hatte Europa kein Schuldenproblem – im Gegenteil, vor allem die Staaten, die heute Probleme mit ihrer Refinanzierung haben, galten noch im September 2008 als wahre Musterknaben.
Irland – der keltische Tiger endet als Bettvorleger
Irland war beispielsweise zu Beginn der 90er ungefähr in der Höhe seines Bruttoinlandsproduktes verschuldet und war damals zusammen mit Japan das am höchsten verschuldete Industrieland. Aus dem Sorgenkind wurde in den folgenden zwei Jahrzehnten der Klassenbeste. Am Vorabend der Krise betrug die irische Staatschuldenquote lediglich 19,8%*. In keinem anderen Eurostaat schlug die Finanzkrise jedoch derart vernichtend ein wie in Irland. Der Staat hat nicht nur mit den Auswirkungen auf die Realwirtschaft zu kämpfen, die in Folge der Krise um mehr als zehn Prozent geschrumpft ist, sondern die irische Regierung hat sich mit der Verstaatlichung der großen Banken an den Rand der Handlungsunfähigkeit manövriert. Seit der Krise stieg die Staatsschuldenquote um 40,9 Prozentpunkte – rechnet man die Garantien für den Bankensektor hinzu, so dürfte die Schuldenquote im Jahre 2013 mit 113% ihren Höchstwert erreicht haben [PDF – 85 KB].
Diese 113% wären prinzipiell kein all zu großes Problem, wenn Irland seine eigene Währung, eine eigene Notenbank hätte. Ein Land, das in seiner eigenen Währung verschuldet ist, kann diese Schulden im Fall einer Krise immer durch neu geschöpftes Geld bedienen. Dies führt jedoch zu einer Abwertung der Währung und vielleicht zu Inflation. Was für die Bevölkerung nicht unbedingt schlecht sein muss, ist jedoch für Spekulanten schlecht – kein Spekulant hat ein Interesse daran, Papiere zu erwerben, die in einer Währung ausgestellt sind, der eine Abwertung droht.
In einer Währungsunion hat ein einzelner Staat jedoch nicht diese Ausweichmöglichkeiten und das wissen natürlich auch die Spekulanten, die die Zinsen für irische Staatsanleihen immer weiter in die Höhe getrieben haben. Bei einem Zinssatz von mehr als 6% ist es nahezu unmöglich, eine solch hohe Zins- und Schuldenlast zu bedienen, geschweige denn abzubauen. Dazu bedürfte es Wachstumsraten, die über dem Zinssatz liegen. Um die hohen Risikoprämien (z.Zt.: 11,7%) zu umgehen, musste Irland daher als zweites europäisches Land die Hilfe des europäischen Stabilitätsmechanismus in Anspruch nehmen, die jedoch keine langfristige Rettung darstellt, da der effektive Zinssatz mit 5,9% immer noch vergleichsweise hoch ist. Zum Vergleich: Deutschland zahlt für seine Schulden mit rund 2,7% weniger als die Hälfte. Die irische Krise ist also keine Ursache, sondern ein Produkt der Finanz- und Wirtschaftskrise.
Spanien – von den „Märkten „angezählt“
Auch die spanische Krise ist ein Produkt der Finanz- und Wirtschaftskrise. Spanien konnte seine Staatsschuldenquote seit der Einführung des Euros von fast 50% auf 30% im Jahre 2007 reduzieren. Am Vorabend der Krise konnte Spanien in nahezu allen finanzpolitischen Kennzahlen bessere Werte vorweisen, als Deutschland, Frankreich oder Großbritannien – das Wirtschaftswachstum und der Haushaltsüberschuss waren höher, die Staatsverschuldung niedriger. Die Finanz- und Wirtschaftskrise traf Spanien jedoch hart. Auch wenn die Wirtschaft in den zwei Folgejahren mit vier Prozent weniger schrumpfte als in Deutschland, so lief mit der steigenden Arbeitslosigkeit und durch die Kosten der Bankenrettungen der Staatshaushalt aus dem Ruder. In den Jahren 2008 bis 2010 stieg die Staatsschuldenquote um 21,7 Prozentpunkte auf 51,7%.
Doch weder die Staatsverschuldung noch andere Indikatoren geben eine rationale (ökonomisch fundierte) Erklärung dafür, warum ausgerechnet Spanien kein großes Vertrauen an den Finanzmärkten genießt. Das Land am Ebro steht in allen Disziplinen besser da als Großbritannien und muss dennoch – anders als Großbritannien – für seine Staatsanleihen einen signifikant höheren Risikoaufschlag bedienen.
Die Gründe für dieses Paradoxon hat Paul De Grauwe von der Universität Leuven in einem klugen Aufsatz herausgearbeitet [PDF – 800 KB]. Anders als Großbritannien kann Spanien (wie Irland) auf seine Verschuldung nicht durch eine souveräne Finanz- und Notenbankpolitik reagieren. Staaten, die in ihrer eigenen Währung verschuldet sind und die Zugriff auf eine eigene Notenbank haben, können nicht Bankrott gehen. Dies trifft jedoch auf die angeschlagenen Euroländer nicht zu, die auf Gedeih und Verderb Brüssel und der EZB ausgeliefert sind. Wenn die europäischen Regierungschefs sich weigern, einen verlässlichen „Rettungsmechanismus“ zu verabschieden, der eine kollektive Haftung für die Schulden eines Mitgliedsstaates übernimmt, besteht immer die Möglichkeit eines realen Zahlungsausfalls, wenn ein einzelnes Land Opfer der Spekulation wird. Das Krisenmanagement der Eurozone hat sich diese Option stets offengehalten – vor allem Angela Merkel und Wolfgang Schäuble schafften und schaffen es nicht, an einem Mikrophon vorbeizugehen, ohne den unkritischen Medien zu vermelden, dass die Option einer Umschuldung zwar nicht angestrebt, aber keinesfalls auszuschließen ist. Daher ist es auch gar kein Wunder, wenn die Spekulanten einen Risikoaufschlag verlangen und ihn auch bekommen.
Die Angst vor einem Staats-Bankrott wird auf diese Art und Weise zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Aus Angst vor einer Zahlungsunfähigkeit verlangen die Spekulanten immer höhere Zinsen und als Folge der höheren Zinsen geraten die Staaten in eine Abwärtsspirale aus von der Europäischen Kommission, der EZB und dem IWF diktierten Sparprogrammen, die die fiskalische Lage abermals verschlechtern und die Zinsen weiter in die Höhe treiben. Nur die beherzten Interventionen der EZB konnten bislang verhindern, dass die Zinsen für spanische Anleihen ein Niveau erreichen, zu dem das Land sich nicht mehr selbstständig refinanzieren kann. Schon heute muss Spanien, dessen Staatsschuldenquote nur unwesentlich über der deutschen liegt, gemessen am Bruttoinlandsprodukt mehr als doppelt so viel Geld für den Zinsdienst aufbringen. Nicht nur das – Spanien muss auch noch relativ mehr Geld für den Zinsdienst aufbringen, als das fast viermal so hoch verschuldete Japan.
Italien – die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone wankt
Im Unterschied zu Irland und Spanien war Italien bereits vor dem Beginn der Finanzkrise relativ hoch verschuldet. Der finanzpolitische Schlendrian, den deutsche Medien den Südländern gerne unterstellen, ist jedoch eine Legende. Italien meldete zwar seit Einführung des Euros jedes Jahr ein Haushaltsdefizit – da die Wirtschaft des Landes jedoch schneller als die Schulden wuchs, baute Italien seine Staatsschuldenquote de facto zwischen 1995 und 2007 um 17,9 Prozentpunkte ab. Mit Ausnahme des Jahres 2005 gab es kein Jahr, in dem die italienische Staatsschuldenquote nicht abgenommen hätte.
Dank der relativ günstigen Zinsrate, die meist nur 0,2 bis 0,3 Prozentpunkte über der deutscher Staatsanleihen lag, deshalb stellte dies nie ein übergroßes Problem dar – Italien hatte sich bis zur Finanzkrise an seine relativ hohen, aber immer auch refinanzierbaren, Zinslasten gewöhnt. Erst die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise haben Italien ins Wanken gebracht.
Während die Zinsen für Staatsanleihen Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Japans und der USA in Folge der Krise stark nachgaben, musste Italien seit der Krise mit deutlich höheren Zinsen kämpfen. Dennoch gibt es eigentlich keinen Grund, Italien in die Gruppe der potentiellen „Bankrottkandidaten“ einzureihen. Mit einem Anwachsen der Staatsschuldenquote um 2,2% nahm Italien im letzten Jahr einen der Bestwerte innerhalb der Gruppe der OECD-Staaten ein. Die gefährliche „Risikoprämie“ ist vielmehr eine Folge des Herdentriebs. Die Spekulanten haben erkannt, dass die Eurozone angreifbar ist und ihre Spekulationsgewinne letztlich von der EU abgesichert werden. Dies war der Startschuss, reihum Länder zum Anschuss freizugeben.
Durch seine relativ hohe Verschuldung ist Italien jedoch besonders gefährdet, bei nachlassendem Wachstum und gleichzeitig steigenden Zinsraten in Schieflage zu geraten. Diese Gefahr wird von den Spekulanten natürlich wahrgenommen, was – auch hier handelt es sich um eine selbsterfüllende Prophezeiung – die die Zinsraten erst Recht unter Druck gesetzt hat. Da auch Italien dank der Währungsunion keine souveräne Finanz- und Währungspolitik betreiben kann, ist das Land genauso wie Spanien auf die Interventionen der EZB angewiesen. Der Befreiungsschlag für beide Länder wäre die Einführung von Eurobonds, die die Zinsrate für neue Schulden, mit denen die auslaufenden Staatsanleihen abgelöst werden, signifikant drücken würden. Dennoch ist auch im Falle Italiens in der zurückliegenden Zeit kein finanzpolitischer Schlendrian auszumachen, der für die aktuelle Krise verantwortlich gemacht werden könnte. Die drittgrößte Volkswirtschaft der Eurozone ist vielmehr ein Opfer der Turbulenzen an den „Märkten“, die zu einem Auseinanderdriften der Zinsraten führten.
Griechenland und Portugal – keine Zukunft ohne Eurobonds
Wenn man Schäubles die Klage über die „hohen Staatshaushalten“ hört, mag man in erster Linie an die kleinen Europeripheriestaaten Griechenland und Portugal denken, die ohne die Interventionen der Eurozone bereits ihre Zahlungsunfähigkeit hätten erklären müssen. Portugal gehört zu den wenigen Euroländern, die ihre Staatsschuldenquote in den Jahren vor der Finanzkrise nicht senken konnten. Das Land zählte am Vorabend der Finanzkrise mit seiner Staatsschuldenquote von 66,6% jedoch auch nicht unbedingt zu den Ländern, denen man im Vergleich zu anderen Staaten ein echtes Schuldenproblem attestieren konnte. Dies trifft auf Griechenland (105,7%) schon eher zu. Aber auch Griechenland baute jedoch seine Staatsschuldenquote seit Einführung des Euros kontinuierlich ab, was vor allem dem hohen Wirtschaftswachstum des Landes zu verdanken war.
Beide Länder wären als finanzpolitisch souveräne Staaten wohl auch über die Folgen der Finanz- und Wirtschaftskrise hinweggekommen – Staaten wie Israel oder Ungarn weisen ganz ähnliche Schuldenquoten wie Portugal auf, ohne in Turbulenzen geraten zu sein. Dies hätte jedoch für Griechenland und Portugal eine höhere Inflation und eine Abwertung der Landeswährung bedeutet. Dieser Weg ist jedoch durch die Währungsunion versperrt, was durch die Spekulation an den „Finanzmärkten“ quittiert wurde. Zu den – angesichts der realen Gefahr einer Umschuldung keinesfalls unrealistisch hohen – Zinsraten, die von den Spekulanten für griechische und portugiesische Anleihen gefordert werden, kann sich kein Staat der Welt über längere Zeit refinanzieren. Das heißt jedoch nicht, dass die beiden Staaten zwingend in den Staatsbankrott gehen müssen.
Ein Ausstieg aus dem Euro ist jedoch keine wünschenswerte Option, da die Altschulden in Euro erhalten bleiben und ihr relativer Wert durch die zu erwartenden Abwertungen nur noch weiter steigen würde. Eine echte Option stellt jedoch die Einführung von Eurobonds dar. Vor allem Portugal würde davon profitieren, da das Land selbst unter dem Schirm der „Rettungsprogramme“ weitaus höhere Zinsen zahlen muss, als bei dem zu erwartenden Zinskurs der Eurobonds. Ein echter Befreiungsschlag für die angeschlagenen Euroländer wäre jedoch erst eine weitere Senkung des Zinsniveaus, durch die diese Staaten in die Lage versetzt wären, nicht nur die Zinsen zu bedienen, sondern auch die Gesamtverschuldung abzubauen. Eine Möglichkeit dies zu erreichen, wäre z.B. auch eine direkte Staatsfinanzierung über die EZB.
In keinem Staat der Eurozone sind vor der Krise die „öffentlichen Haushalte ausgeufert“, wie es Finanzminister Schäuble wider besseren Wissens behauptet. Mit Behauptungen wie diesen, zündelt Schäuble jedoch am Fundament der Währungsunion. Anstatt den Herdentrieb Einhalt zu gebieten, indem man Spekulanten in die Schranken weist, heizt die deutsche Regierung Spekulationen gegen Euroländer durch ihre ideologische Borniertheit immer wieder an. Von den Medien, die die neoliberale Ideologie bereits bis zum Grad der Realitätsverdrängung verinnerlicht haben, wird dieses Zündeln nur all zu gerne weiterverbreitet und verstärkt – so lange, bis das Zündeln zu einem Flächenbrand führt.
Die Eurokrise ist vielmehr das direkte Ergebnis der Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise und den Konstruktionsfehlern der Währungsunion – dem Fehlen einer koordinierten Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik. Wenn deutsche Politiker diese Fakten leugnen, so mag dies damit zusammenhängen, dass Deutschland wegen der niedrigen Zinsen als relativer Gewinner der Krise gelten kann.
* Sofern nicht anders vermerkt, beziehen sich alle Zahlen auf den statistischen Dienst der OECD. Mit Staatsschulden sind immer die Schulden der Zentralregierung gemeint und die Zinsraten beziehen sich auf langfristige (i.d.R. 10jährige) Staatsanleihen.
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