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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Leseproben
Datum: 20. August 2009 um 12:05 Uhr
Rubrik:
Verantwortlich: Administrator
Leseproben zu “Meinungsmache. Wie Wirtschaft, Politik und Medien uns das Denken abgewöhnen wollen”
Auch unter Gleichgesinnten ist es nicht leicht, skeptisch zu sein.
Der Kopf rät zum Misstrauen, und das Gefühl verlangt nach Vertrauen.
Zum Zweifeln muss man sich entschließen und es gemeinsam mit anderen systematisch betreiben. Dabei hilft die Kenntnis der Methoden der Manipulation, die oben ausführlich beschrieben sind:
Wer diese Tipps kennt und beachtet, wird Meinungsbildungsvorgänge leichter durchschauen. Das ist eine wichtige Basis für den Aufbau einer Gegenöffentlichkeit.
Wie man Mehrheiten gewinnt
Angela Merkel und die Union können sicher sein, dass ihre Machterhaltungs- und Machtsicherungsstrategie von den Medien und Meinungsmachern nicht gestört, sondern unterstützt und gefördert wird. Das lässt sich an zwei zentralen strategischen Linien zeigen:
Beide Fragen sind miteinander verbunden. Wie diese Ziele zu erreichen sind, lässt sich am besten dann nachvollziehen, wenn wir uns in die Rolle von Strategen der Union versetzen.
Erstens: Neue Wählergruppen erschließen
Als Planer einer Volkspartei weiß man, dass man den für den Führungsanspruch notwendigen Wähleranteil von 40 Prozent plus nur dann erreicht, wenn man ein breites Spektrum anspricht, den Mittelstand und die sich der Wirtschaft nahe Fühlenden genauso wie die Arbeitnehmer und ihre Familien; Menschen, die an traditionellen Familienstrukturen hängen, genauso wie Personen mit einem emanzipatorischen und individualistischen Lebensstil; Menschen, die den technischen Fortschritt hochhalten und alles realisieren wollen, was möglich ist, genauso wie ökologisch engagierte Kreise.
Als Planer von CDU und CSU weiß man, dass die andere Volkspartei, die SPD, dann hervorragende Wahlergebnisse erreicht hat, wenn sie diese Breite der Ansprache beherrschte, so zuletzt 1998, als Schröder und Lafontaine gemeinsam Wahlkampf machten und der eine, Gerhard Schröder, eher die Aufsteiger ansprach, während der andere, Oskar Lafontaine, eher die an sozialer Gerechtigkeit und an ökologischer Erneuerung Interessierten ansprach. Auch Helmut Schmidts äußerst knapper Wahlsieg von 1976, als Helmut Kohl für die Union 48,6 Prozent erreichte, war der Arbeitsteilung mit dem Parteivorsitzenden Willy Brandt zu verdanken. Wenn es diese Arbeitsteilung zwischen Brandt und Schmidt nicht gegeben hätte, dann hätte Helmut Schmidt die Kanzlerschaft schon 1976 an Helmut Kohl verloren. Und das herausragende Ergebnis der SPD von 1972 ist ohne eine breit angelegte Zielgruppenplanung gar nicht denkbar[1]
Auch die CDU und vor allem die CSU haben ihre großen Erfolge nur dann geschafft, wenn sie über den engeren Bereich traditionell wirtschaftsfreundlicher Wählerinnen und Wähler hinaus die Arbeitnehmerschaft bis hin zu gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern anzusprechen vermochten. Früher gab es dafür einen starken Arbeitnehmerflügel – lange Zeit versammelt um Hans Katzer, später um Norbert Blüm. Auf dem Leipziger Parteitag im Dezember 2003 jedoch wurde Norbert Blüm ausgepfiffen; Angela Merkel und die CDU legten sich auf einen einseitig wirtschaftsfreundlichen, neoliberalen Kurs fest. Das kam beim CDU-Wirtschaftsflügel gut an, aber es war nach Meinung einiger Kenner der Materie eine der Ursachen dafür, dass CDU und CSU bei der Bundestagswahl 2005 ihr selbstgestecktes Ziel, gemeinsam mit der FDP die neue Regierung zu bilden, nicht erreichten.
In dieser Situation wird man als Planer der CDU/CSU dringend empfehlen, zumindest eine Imageerweiterung vorzunehmen, die sowohl den sozialen als auch den ökologischen Bereich umfassen sollte. Als Stratege wird man auch empfehlen, diese Imageerweiterung an Personen festzumachen und zur Erleichterung der Meinungsbildung Konflikte zwischen einzelnen Personen und Gruppen zuzulassen. Als Zuschauer und Zuhörer kennen wir die Ergebnisse dieser strategischen Planung:
Die Image-Erweiterung der Union seit dem Leipziger Parteitag vom Dezember 2003 ist professionell gemacht und sehr erfolgreich. Es waren zwar auch einige sachliche Korrekturen notwendig wie etwa beim Arbeitslosengeld I, aber diese Korrekturen betrafen nie den Kern der eigenen Position. Trotzdem hat es die Union erreicht, dass gesagt und geglaubt wird, Angela Merkel und ihre Partei hätten sich von Leipzig wegbewegt, der Dresdner Parteitag von 2007 habe die „Rückwende zum Sozialen“ eingeleitet, wie die FAS schreibt.[2] Das geht so weit, dass einige Wissenschaftler und auch Vertreter der Jungen Union warnend von einer Sozialdemokratisierung der Union sprechen. Und Friedrich Merz geißelt den angeblichen Linksruck der Union. [3]
Doch all das ist nicht das Spiegelbild der faktischen Politik, es sind Ergebnisse von Meinungsmache. Die politische Realität ist gekennzeichnet von Mehrwertsteuererhöhung und Unternehmensteuersenkungen, von Privatisierung und Ausverkauf, von Härte gegenüber den Schwächeren, von der Auslieferung unserer Universitäten an die Wirtschaft und von Rettungsschirmen für die Großen der Finanzindustrie. An der Agenda 2010 wird nur verbal gerüttelt. Tatsächlich stehen vermutlich neue Reformen dieser Art ins Haus. Tatsächlich hat die Regierung Merkel nichts getan zur besseren Kontrolle von Hedgefonds und der anderen großen Finanzgruppen. Ganz im Gegenteil: Sie werden weiter gefördert. Man hat den Eindruck, dass die Finanzwirtschaft nicht nur nahe am Ohr des sozialdemokratischen Finanzministers, sondern auch an dem der Bundeskanzlerin ist.
„Ist Leipzig Geschichte?“ fragte die Zeit in einem Bericht über den Dresdner Parteitag.[4] Der Vorsitzende des Wirtschaftsrats der Union, Kurt Lauk, antwortete: „So ein Quatsch!“ Eine Abkehr von Leipzig? „Schauen Sie doch mal in den Leitantrag, den die CDU auf diesem Parteitag verabschiedet hat!“ Der sei ein Spiegelbild der Forderungen des Wirtschaftsrats. Das würde man bei der ganzen Sozialrhetorik bloß nicht so mitbekommen, berichtete die Zeit.
An den Äußerungen und Aktionen eines der Strategen der Union, von Heiner Geißler, werden die Konzeption und der Erfolg der Strategie des breiten Auftritts besonders deutlich: So ist Geißler zum Beispiel 2007 der Organisation attac beigetreten und hat wenig später verlautbart, die Ziele von attac und von Angela Merkel seien identisch. Damit hat er den Aktionsradius der Bundeskanzlerin erweitert und ihr ein Terrain von Personen und Gruppen zugänglich gemacht, das ihr und der Union bisher verschlossen war.
Geißler betreibt diese Strategie zur Image-Erweiterung für seine Partei konsequent und mit bemerkenswerter Phantasie. In einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung beispielsweise sagte er, Schröder habe mit der Agendapolitik die Seele der SPD verkauft, die Agenda 2010 habe Millionen Menschen enteignet und arm gemacht, und es sei Schröder und nicht Oskar Lafontaine, der dafür gesorgt habe. Der Kapitalismus sei nicht die Wirtschaftsform des Grundgesetzes, meinte Geißler, er könne sich einen humanen Sozialismus vorstellen; seine Parole für die Union wäre „Solidarität statt Kapitalismus“.[5] Nach der Lektüre solcher Sätze wundere ich mich nicht mehr sehr darüber, dass ein so kritischer Zeitgenosse wie Günter Wallraff sagt, er stimme heute in vielen Dingen politisch mit Heiner Geißler überein.
Dass auch Günter Wallraff von Rüttgers „sozialen Vorschlägen“ spricht, zeigt, wie erfolgreich die Imageprägung ist.
Welche Politik tatsächlich realisiert wird, zeigen dagegen die unverblümten Äußerungen von Innenminister Wolfgang Schäuble:
CDU-Präsidiumsmitglied Wolfgang Schäuble sagte, das Thema soziale Gerechtigkeit sei zwar bedeutsam, müsse aber ‚in der globalen Perspektive’ gesehen werden. Der Bundesinnenminister fügte hinzu: ‚Natürlich ist die Spanne zwischen denen, die bei uns nicht ruhig schlafen können, weil sie für ihr ererbtes Millionenvermögen Steuern zahlen müssen, und denen, die mit Hartz IV auskommen sollen, gewaltig. Aber wenn wir uns anschauen, wie die Lebenschancen für Chinesen, für Inder oder für Südamerikaner sind, relativiert sich das.[6]
Geißler ist ein exzellentes Demonstrationsobjekt für die Strategie, eine Volkspartei breiter aufzustellen. Man hat den Eindruck, die Medien und die sonstigen Beobachter vor allem in der Wissenschaft haben ihre Freude an dieser gekonnten Wahlkampfstrategie. Die eigentlichen Größen im Hintergrund, die Vertreter des Wirtschaftsrats der Union und der Wirtschaft insgesamt, wissen sehr genau, dass es in ihrem Interesse ist, wenn die Union ihr Image in Richtung Soziales und Ökologisches erweitert und zugleich mit wenigen Abstrichen jene Politik macht, die in ihrem und insbesondere im Interesse der nationalen und internationalen Finanzwirtschaft ist.
Zweitens: Neue Koalitionsoptionen erschließen
Gelingt diese Strategie zur breiten personellen und programmatischen Aufstellung und die gezielte Ansprache des Multiplikatoren- und Wählerpotentials links von der Union, ist damit zugleich die Grundlage für eine neue Koalitionsstrategie geschaffen, die in Hamburg schon realisiert worden ist: Die Verbreiterung des Images zielt auch darauf, die Bildung von schwarz-grünen Koalitionen zu erleichtern für den Fall, dass es mit der FDP alleine nicht reicht. Um schwarz-grüne Koalitionen zu ermöglichen, müssen Brücken im ökologischen und im sozialen Bereich geschlagen werden. Die Doppelstrategie der Union, einerseits die Sozialdemokratie voll für die Agenda 2010 und die unseligen Reformen haftbar zu machen und andererseits mit Hilfe von Rüttgers, Geißler und der CSU selbst ein soziales Image aufzubauen, dient diesem Zweck.
Für die einst undenkbare Koalition aus Schwarz und Grün haben nicht nur die genannten Personen Vorarbeit geleistet. Andere waren im Hintergrund damit beschäftigt, diese neue Koalitionsoption zu öffnen. Zum Beispiel der frühere Abteilungsleiter beim CDU-Vorstand und Mitarbeiter Geißlers in dessen Zeit als Generalsekretär, Warnfried Dettling, der mit seinen Artikeln – oft in der taz – in das linke und grüne Wählerpotential hineinwirkt. Oder der Politikwissenschaftler Joachim Raschke, der mit mehreren Beiträgen Schwarz-Grün in Hamburg mit vorbereitet hat. Als besonderes Prädikat einer schwarz-grünen Koalition hat Raschke herausgestellt, dass sich die beiden Parteien deutlich unterscheiden. Nach dieser neuen Theorie kommt es also bei Koalitionsbildungen nicht auf möglichst viele Gemeinsamkeiten und Schnittmengen an, sondern man muss sich ergänzen. Wenn man dieses Argument ein paarmal herumdreht, dann wirkt es sogar schlüssig. Jedenfalls nach einem ordentlichen Quantum Meinungsmache.
Ohne vorbereitende Meinungsbildung wäre der Brückenschlag von Hamburg nicht möglich gewesen und wären auch weitere Brückenschläge nicht möglich. Wie groß die Rolle der Meinungsmache im Vorfeld solcher politischen Entwicklungen ist, kommt einem erst dann so richtig zu Bewusstsein, wenn man sich die Gegenseite anschaut: die Optionsverengung auf Seiten der SPD und den Niedergang der SPD und ihres Personals bei Wahlen und Umfragen.
[«1] Eine Analyse dieser Zielgruppenplanung – später „Scheibchenmodell“ genannt – findet sich in Albrecht Müller: Willy wählen ’72, Annweiler 1997, S. 138 ff.
[«2] Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 26.11.2006
[«3] Spiegel-Online vom 23.4.2008
[«4] Die Zeit vom 4.12.2008
[«5] Süddeutsche Zeitung vom 14.7.2008
[«6] PR inside vom 16.7.2008
D. Der doppelte Missbrauch des Bundespräsidentenamtes
Der erfundene Bundespräsident
Der Kommentator des ZDF Peter Frey nannte den Rücktritt Horst Köhlers vom Amt des Bundespräsidenten »unverantwortlich« und merkte an, hier habe sich bestätigt, was mancher von Beginn an befürchtet habe, dass »hier einer im Jahr 2004 zum Bundespräsidenten gemacht worden war, der ins Amt nicht passte«. Heute, am Tag des Rücktritts, habe er auch jene in Stich gelassen, die ihn »erfunden« hätten.
Warum ist er dann zum Bundespräsidenten gemacht worden?
Warum ist er »erfunden« worden? Warum versagt die Personalauswahl der Politiker so fundamental? Das ist leicht zu erklären, wenn man verstanden hat, welche hinreißende Macht die Meinungsmacher haben. Angela Merkel und Guido Westerwelle wollten auch mit der Wahl Köhlers die schwarz-gelbe Koalition vorbereiten, und sie konnten sich 2004 der geballten Macht des Boulevards, vieler seriöser Tageszeitungen und der meisten Kanäle im Fernsehen so sicher sein, dass bei der Suche nach einem Bundespräsidenten-Kandidaten nicht unbedingt auf Qualität geachtet werden musste.Es war in den Bonner Ministerien bekannt, dass Horst Köhler kein besonders qualifizierter Ökonom ist. Es war bekannt, dass Horst Köhler als Staatssekretär im Bundesfinanzministerium an der fragwürdigen und teuren Entscheidung beteiligt war, die ostdeutschen Banken an die westdeutschen zu verscherbeln. Es war bekannt, dass von Köhler wenig geistige Anstöße zu erwarten waren. Gerade das ist es aber, womit ein Bundespräsident punkten und etwas bewegen kann und wofür Deutschland ihn eigentlich gebraucht hätte. Was hätte Bundespräsident Köhler nicht alles anstoßen können:
- eine Debatte über das Unglück und die soziale und private Verunsicherung von Millionen Menschen, die in seiner Amtszeit in prekäre Arbeitsverhältnisse entlassen wurden,
- eine Debatte über die immer skandalöser werdenden Einkommens- und Vermögensunterschiede,
- eine Debatte über den zynischen Umgang der »Oberschicht« mit der »Unterschicht«.
Köhler hat nicht eingegriffen, er hat nicht einmal seine Stimme erhoben, als sich beispielsweise Westerwelle und Sarrazin mit zynischen Einlassungen über die Unterschicht, über Zuwanderer und über türkische Muslime zu profilieren suchten; Köhler ist auch nicht dem Philosophen Peter Sloterdijk in die Parade gefahren, als dieser den Sozialstaat als »institutionalisierte Kleptokratie« geißelte und den falschen Eindruck erweckte, der Staat würde den Spitzenverdienern immer mehr abverlangen.
Gerade während der Amtszeit von Bundespräsident Köhler hätten die Schwächsten in unserer Gesellschaft einen Schutzengel gebraucht, einen, der sie wenigstens mit Worten öffentlich in Schutz nimmt. Fehlanzeige. Horst Köhler schlug sich auf die Seite der Mächtigen und scheute auch nicht vor fragwürdigen Verknüpfungen mit ihnen zurück. Er ließ sich von der Bertelsmann Stiftung ein »Forum Demographischer Wandel des Bundespräsidenten« aushalten. Als erfahrener Politiker muss man wissen, dass Bertelsmann in der Debatte um den demographischen Wandel – wie auch bei anderen wichtigen Themen – ideologisch und finanziell parteilich ist, die Interessen der Wirtschaft und der Privatvorsorger vertritt und deshalb nicht neutral beraten kann. Zu dieser Einseitigkeit passt auch, dass Horst Köhler als Chef des Bundespräsidialamtes den ehemaligen Chef des Finanzkonzerns Wüstenrot, Gert Haller, als »Ein-Euro-Mann« engagierte, was sparsam klingt, aber mindestens anrüchig ist.Auf Neutralität hat Bundespräsident Köhler nicht geachtet. Er hat der Wirtschaft und den Arbeitgebern deutlich zu erkennen gegeben, dass sie sicher sein können, einen der ihren im Bundespräsidialamt plaziert zu haben. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang war eine vielbeachtete Rede Köhlers auf dem Arbeitgeberforum am 15. März 2005, neun Monate nach Amtsantritt.
Die vorgetragenen Lösungsvorschläge waren einseitig und orthodox wirtschaftsliberal, so wie es sein Publikum hören wollte. Jedenfalls machte der damalige Bundespräsident auch bei dieser Gelegenheit klar, dass er keineswegs der Präsident aller Deutschen ist.
Köhlers fachliche Mittelmäßigkeit, seine Ideenlosigkeit, seine Einseitigkeit zugunsten der finanziell Potenten, seine unkritische neoliberale Orientierung waren also bekannt. Angela Merkel, Guido Westerwelle und ihre politische Gruppierung hatten ihn dennoch, oder gerade deshalb, als Bundespräsidenten »erfunden«.
Merkel und ihre Freunde konnten sich auf das verlassen, was dann eintrat: die massive Unterstützung Horst Köhlers durch die Medien, von nur wenigen Ausnahmen abgesehen. Die gängigen Medien haben ihn zugunsten von Angela Merkel und ihrer angepeilten schwarz-gelben Koalition gelobt. Das Kalkül, das zu seiner Nominierung führte, ging auf. Weil das PR-Produkt »Horst Köhler« und die Realität seiner Amtsführung dann aber deutlich nicht zur Deckung kamen und weil es Köhler offenbar nicht mehr gelang, seine Rolle zynisch mitzuspielen, zerbrach die politische Ehe Merkel-Köhler.Für die meisten Menschen in Deutschland dürften der Aufstieg Horst Köhlers und sein gespenstischer Abgang ein Rätsel geblieben sein. Weil sie die Möglichkeiten der Meinungsmache nicht erkennen und deshalb fälschlicherweise immer noch davon ausgehen, in der politischen Entscheidungsfindung zur Sache wie zur Person müsste wie im privaten Leben auf Qualität geachtet werden.
Missbrauch im Selbstversuch: Gauck
Ähnlich liegt der Fall Gauck. Seine überragende Popularität, die er im Laufe seiner Kandidatur zum Bundespräsidenten innerhalb kürzester Zeit erreichte, ist nicht die Folge seiner besonderen Qualität, sondern die Folge einer Kampagne mit defi nierten Zielen und unterschiedlichen Ausrichtern. Der Kandidat Joachim Gauck wurde nicht im üblichen inneren Willensbildungsprozess der ihn nominierenden Parteien SPD und Grüne gefunden. Der Vorschlag kam vom Chefredakteur des Springerblattes »Welt«.
Die »Financial Times Deutschland« beschreibt am 20. Juni 2010 den Vorgang und die Umstände so:
»Inzwischen geben die rot-grünen Parteigranden sogar ehrlich zu, wer sie auf die Idee mit dem Kandidaten Joachim Gauck gebracht hat: Thomas Schmid war es, Chefredakteur der ›Welt‹ aus dem Verlag Axel Springer. Als Gaucks Kandidatur dann offiziell war, jubelten ›Welt‹ und ›Bild‹ (»Yes, we Gauck«) so demonstrativ und laut, dass Kanzlerin Angela Merkel mehrmals zum Telefonhörer griff, um sich bei Verlegerin Friede Springer zu erkundigen, was denn mit ihrem Verlag los sei.«Der Vorschlag war also offensichtlich mit dem Versprechen verbunden, dass die involvierten Medien bei der Kampagne helfen würden. Ob Joachim Gauck am Anfang oder zwischendurch hoffte, gewählt zu werden, ist schwer zu sagen. Die Aussichten waren von vornherein gering, so dass man bei nüchterner Betrachtung die Kandidatur nur zum geringsten Teil als ernsthafte Kandidatur zum Erreichen dieses Amtes betrachten kann. Das gilt für die Person Gauck wie auch für die ihn nominierenden Parteien SPD und Grüne. Auch sie konnten nicht ernsthaft erwarten, diesen Kandidaten durchbringen zu können. Sie hatten – wie auch Gauck – andere Motive:
Erstens wollten SPD und Grüne die Union und die FDP vorführen, indem sie mit dieser Kandidatur, mit der medial gemachten Begeisterung für Gauck und der publizistisch geschürten Erwartung seiner möglichen Wahl dokumentierten, dass Schwarz-Gelb nicht einmal eine Mehrheit für die Wahl des Bundespräsidenten zusammenbekommt. Zumindest bis zur Wahl des neuen Bundespräsidenten Wulff hat diese Spekulation funktioniert. Zweitens wollte Gauck und wollten zumindest die SPD und die ihn unterstützenden Medien die Linkspartei bloßstellen. Diese Rechnung ging einigermaßen auf. Es wurde über alle möglichen Kanäle die Botschaft plaziert, die Linkspartei habe sich noch nicht von ihrer undemokratischen SED-Vergangenheit gelöst.
Das sehe man daran, dass sie nicht einmal im dritten Wahlgang bereit war, den Kandidaten Gauck zu unterstützen. Diese Botschaft wurde unentwegt verbreitet, obwohl unter normal denkenden erwachsenen Menschen eigentlich klar sein musste, dass man keiner Partei zumuten kann, einem Kandidaten ohne jegliche vorherige Beratung und Übereinkunft zuzustimmen und den Kandidaten auch dann zu unterstützen, wenn er penetrant und unfreundlich jene in der Linkspartei angriff, die ihn wählen sollten.Das alles ist eine absurde Konstellation und zugleich ein ausgezeichnetes Studienobjekt zur Bedeutung und zu den Möglichkeiten der Meinungsmache: Man kann, wenn man die notwendige Meinungsmacht, also Geld und publizistische Kraft, besitzt, aus einer Zumutung eine selbstverständliche und glaubwürdige Forderung machen. Wie nachhaltig die Zielsetzung wirkt, die Linkspartei als undemokratisch und noch nicht in der Bundesrepublik Deutschland angekommene Partei zu stigmatisieren, lässt sich an vielen Medienereignissen und Äußerungen von Politikerinnen und Politikern auch nach der Bundespräsidentenwahl belegen. Die Kandidatur Gaucks und seine zynische Selbstinstrumentalisierung und Instrumentalisierung durch Rot-Grün und die sie unterstützenden Medien werden vermutlich Jahre nachwirken.
Der Kandidat Gauck passte inhaltlich nicht sonderlich zur Mehrheit der Wahlfrauen und Wahlmänner des roten und des grünen Lagers. Er hat wenig Gespür für die großen sozialen Probleme unserer Gesellschaft. Soziale Gerechtigkeit ist für ihn kein vorrangiges Ziel. Er ist nach eigenem Bekenntnis ideologisch auf den Begriff »Freiheit« fixiert, ohne auch nur andeutungsweise zu fragen, welche Bedingungen zu einem Leben in Freiheit gehören – nämlich die ökonomische und soziale Basis zu besitzen, um Freiheit überhaupt leben zu können.
Gauck weiß offensichtlich wenig von der Bedrohung der Demokratie in Deutschland durch die Konzentration von Medienmacht und dem hohen Potenzial von Agitation und Manipulation, das wir heute vorfinden und deren Profiteur der Kandidat Gauck war. Jedenfalls hätte ein auch nur einigermaßen aufgeweckter Wahlmann und eine gleichermaßen tickende Wahlfrau des rot-grünen Lagers in Kenntnis der inhaltlichen Vorstellungen dieses Kandidaten verzweifeln müssen. Sie mussten es aber nicht, denn für einigermaßen mit Durchblick gesegnete Personen mussten das dargebotene taktische Spiel, das hier mit dem Kandidaten betrieben wurde, und auch die Chancenlosigkeit des Spiels erkennbar
sein. Die Wahlfrauen und Wahlmänner der SPD und von den Grünen konnten also genießen, dass man aus einem fragwürdigen Kandidaten einen angenehmen Kandidaten machen kann, wenn man die notwendige Kampagnenkraft besitzt. Das ist im Fall Gauck gelungen.Der Fall Gauck eignet sich zum Studium und zum Beleg einiger der im Buch beschriebenen Methoden der Meinungsmache. So ist Gaucks schneller Gewinn an Popularität leicht erklärbar, wenn man verstanden hat, dass eine Botschaft, im konkreten Fall die Botschaft »Der Kandidat Gauck ist ausgezeichnet«, dadurch glaubhaft wird, dass sie aus verschiedenen politischen und medialen Ecken kommt. Gauck wurde von wirtschaftsnahen Kräften, von Konservativen aus der Leserschaft der Medien des Springerkonzerns und von liberalen Kräften unterstützt, und er war von Rot und Grün nominiert worden, also von zwei Parteien, die von einer Mehrheit vermutlich immer noch eher links eingeordnet werden. Er galt damit als überparteilich.
Seine Popularität wurde zudem dadurch gefördert, dass den Bürgerinnen und Bürgern erzählt wurde, es gebe im Internet eine überwältigende Zustimmung für den Kandidaten Gauck. Das konnten Menschen ohne Internetzugang nicht nachprüfen, andere hatten weder Zeit noch Muße, diese angebliche Welle der Sympathie aufzuspüren. Sie ist zudem außerordentlich schwer messbar. Aber eines ist sicher, von den Mitarbeitern der PRAgentur Scholz & Friends wurde die Zustimmung im Netz organisiert.
Ich zitiere die Internet-Ausgabe der »WAZ«, »derwesten.de«, vom 7. Juni 2010: »Joachim Gauck ist Liebling der Netzgemeinde
« … »Die weitaus meisten Pro-Gauck-Initiatoren im Netz haben allerdings keinen parteipolitischen Hintergrund. Oft zählen sie aber zu Meinungsführern im Netz, die das Kampagnen Geschäft gut verstehen. Zum Beispiel Nico Lumma von der Werbeagentur Scholz & Friends. Er hat mit ›Wir für Gauck‹ eine Online-Petition ins Netz gestellt, die bis Montagnachmittag über 700 Mitzeichner hatte.« Für Joachim Gauck ist also durchschaubar gut organisiert im Internet getrommelt worden. Die Internetkommunikation über den Kandidaten und die gezielt verbreitete Stimmung wurden dann wiederum genutzt, um die Menschen ohne Internetzugang zu beeindrucken. Zur Unterstützung von Joachim Gaucks Popularität wurden Umfragen veranstaltet, deren Ergebnisse man dann wieder einsetzte, um seine Popularität zu fördern.Schmierentheater mit einem aparten Abgang des Hauptdarstellers.
Mit einem sehr geringen Anstandsabstand von 31 Tagen hat der Kandidat Gauck einen kleinen Tribut an jene gezahlt, die ihn bei der Kandidatur unterstützt haben. Er tritt ab dem 31. Juli 2010 als Werber für die »FAZ« auf – vor dem Schloß Bellevue, dem Amtssitz des Bundespräsidenten, sitzend montiert und versehen mit dem geläufi gen Werbemotto der »FAZ« »Dahinter steckt ein kluger Kopf«.
Interessant daran ist zweierlei: zum Ersten der äußerst geringe Abstand zur Bundespräsidentenwahl, womit dieser Wahlgang und die Kandidatur Joachim Gaucks ein Gschmäckle von Kommerz bekommen. Er und die werbetreibende Agentur samt »FAZ« nutzen die verbliebene Popularität so schnell wie möglich, und sie nutzen die Verknüpfung mit dem Schloss Bellevue, dem Sitz des Bundespräsidenten. Zum Zweiten entlohnt der Kandidat Gauck mit diesem Schritt die Werbeagentur Scholz & Friends, deren Mitarbeiter Nico Lumma die Petition »Wir für Gauck« ins Netz gestellt hatte. Wissen sollte man noch, dass die Agentur Scholz & Friends auch lange für die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft gearbeitet hat.
So schließen sich die Kreise. Immer im Dienste von Meinungsmache zugunsten von politischen und personellen Entscheidungen, die den Herrschenden zupass kommen. Im konkreten Fall geht es bei diesen Fall wie auch langfristig um die Verhinderung einer politischen Option diesseits der rechtskonservativen Meinungsmacht.
Im Jahr 1973 berichtete mir ein Freund, der kurz zuvor in den Bundestag gewählt worden war, in seinem Wahlkreis sei er massivem Druck wegen der hohen Abzüge an Sozialabgaben und Steuern ausgesetzt. Als Abgeordneter der größeren Regierungspartei würde er deshalb heftig attackiert. Heute würde man sich darüber nicht wundern; deshalb muss ich kurz den Hintergrund erklären:
Wir hatten beide in der SPD-Steuerreformkommission mitgearbeitet, die unter dem Vorsitz des damaligen Entwicklungshilfeministers, Erhard Eppler, konkrete Vorschläge erarbeitet und diese im November 1971 vorgelegt hatte. Als erstes von vier Zielen war darin vorgegeben:
»Insgesamt soll die Steuerreform eine bessere Versorgung unserer Bevölkerung mit Leistungen, die nur noch die öffentliche Hand erbringen kann, ermöglichen.«
Ganz selbstverständlich ging man damals davon aus, dass die Bevölkerung zusätzliche öffentliche Leistungen braucht. Es gab in Deutschland einen riesigen Nachholbedarf bei Bildung, beim Ausbau der Infrastruktur, beim Umweltschutz, bei der Wasserversorgung und beim Städtebau. Die Kommission formulierte mit Bedacht, dass dieser zuallererst in der Regie der von den Bürgern bestellten öffentlichen Hände befriedigt werden könnte. Sie plädierte für eine bessere Versorgung der Bevölkerung mit (diesen) öffentlichen Leistungen.
Dies sah übrigens nicht nur die Kommission unter Eppler so. Auch eine Kommission unter dem Vorsitz des späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt, linker Umtriebe wahrlich nicht verdächtig, die sogenannte Langzeitkommission, hatte ein Jahr nach dem Beschluss der Steuerreformkommission im Juni 1972 gefordert, der Anteil der öffentlichen Ausgaben am Bruttosozialprodukt solle von damals 29 Prozent auf 34 Prozent im Jahr 1985 angehoben werden. Priorität sollten die Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sowie für Verkehr und Städtebau haben. Der Anteil der Ausgaben für Bildung und Wissenschaft sollte von 4,1 Prozent im Jahr 1972 auf 7,6 Prozent des Bruttosozialproduktes 1985 steigen.
Heute verstehen auch Menschen, die keine Vorurteile gegenüber staatlicher Tätigkeit haben, solche ehrgeizigen Ziele für die Anhebung der öffentlichen Verantwortung nicht. So wirkt sich der Stimmungswandel aus. Was sachlich richtig ist, was notwendig ist, wird durch die Stimmung nicht abgebildet. Hätten wir nur ein bisschen davon realisiert und pragmatisch angegangen, was damals an Vorstellungen über mehr öffentliche Verantwortung entwickelt wurde, dann hätten wir heute weniger Sorgen wegen der Mängel bei Ausbildung und Bildung zum Beispiel und wegen einer abenteuerlich schlechten Integration jener Menschen und ihrer Kinder, die wir selbst als Aussiedler und Gastarbeiter nach Deutschland geholt haben.
Jene zitierten Personen und politischen Gruppierungen, die vor über 30 Jahren für eine Erweiterung des Angebots von öffentlichen Leistungen warben und entsprechende programmatische Texte entwarfen, waren nicht geprägt von irgendeiner ideologisch begründeten Staatsvergötterung. Auch die Vorstellung, die Vergesellschaftung als solche löse unsere Probleme, spielte allenfalls in kleinen Zirkeln am Rande eine Rolle. Eher rationale Abwägungen standen im Vordergrund: Man wusste, dass manches Gut und manche Dienstleistung sinnvollerweise vom Staat produziert und zur Verfügung gestellt wird, weil das die ökonomischste Art der Produktion ist, wenn Wettbewerb wegen der Unteilbarkeit der Produktionsweisen nicht möglich oder nur mit Krücken konstruierbar ist. Und weil die Leistung in öffentlicher Regie auch noch die fairste ist.
Der Satz »Nur Reiche können sich einen armen Staat leisten«, der damals in öffentlichen Debatten eingesetzt wurde, gründete nicht auf Staatsvergötterung, sondern auf der nüchternen Einschätzung, dass die große Mehrheit und insbesondere die Schwächeren ohne staatliche Tätigkeit auf ziemlich verlorenem Posten stehen. Nur die etwas Bessergestellten können sich die ergänzende Privatvorsorge zur Altersvorsorge leisten. Die anderen bleiben auf der Strecke; wenn sie älter werden, droht ihnen Altersarmut.
Arme und Normalverdiener können sich Privatschulen kaum leisten. Und private Krankenkassen auch nicht. Spitzenverdiener wohnen in der Regel nicht an Ausfallstraßen, sondern in den besseren Quartieren und können sich auch sonst Umwelt- und Verkehrsbelastungen leichter entziehen. Die große Mehrheit der Menschen ist darauf angewiesen, dass der Staat, dass wir alle etwas tun, um die Belastungen zu verringern, dass wir insgesamt für mehr Lebensqualität sorgen. Sogar bei Naturkatastrophen wird sichtbar, wie sehr die finanziell Schwächeren auf einen starken Staat und seine Leistungsfähigkeit angewiesen sind. Den Verwüstungen des Hurrikans Katharina und seinen Folgen konnten sich die finanziell gut gestellten Bürgerinnen und Bürger von New Orleans wenigstens entziehen, die finanziell Schwachen konnten das nicht.
Der inszenierte Meinungswandel gegen den Staat als Dienstleister Zwischen damals und heute liegt eine harte, die öffentliche Meinung prägende Kampagne gegen die öffentliche Hand als Versorger und für die Überantwortung öffentlicher Belange an Private, für Entstaatlichung und gegen die Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben durch den Staat. Die Kampagne begann ungefähr zu der Zeit, als der erwähnte Bundestagsabgeordnete von seinen Erfahrungen im Wahlkreis berichtete. Innerhalb weniger Monate war die positive Stimmung für mehr öffentliche Leistungen und für eine rationale Abwägung zwischen privater Tätigkeit einerseits und öffentlicher Tätigkeit andererseits gekippt worden.73
Das ist die herrschende Grundstimmung bis heute. »Der starke Staat ist schlank«, lautet die Schlagzeile über einem Namensartikel des FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle in der »Frankfurter Rundschau« vom 8. April 2009.
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) hat im Juni 2008 ein sogenanntes »Manifest für Wachstum und Beschäftigung « zur Präsentation für die Bundesregierung formuliert, in dem bis zum Jahr 2020 die Reduktion der Staatsquote von rund 43 auf 35 Prozent verlangt wird. Er tut dies in der Hoffnung, mit einer solchen Forderung bei den meisten der Wirtschaft nahestehenden Personen, bei der Mehrheit der Medienschaffenden und darüber hinaus in einer breiten Öffentlichkeit Zustimmung zu finden. In den Köpfen der Multiplikatoren in unserem Land ist nämlich verankert, dass Deutschland ein Land mit einem weit überdurchschnittlich hohen Staatsanteil sei.
Das ist aber eine Täuschung: Vom Papier des BDI berichtete die »Financial Times Deutschland« am 23. Juni 2008. Drei Tage später veröffentlichte Eurostat, das Statistische Amt der Europäischen Kommission, Ergebnisse eines Vergleichs zur Abgabenquote in der EU im Jahr 2006.74 Danach lag die gewichtete Gesamtabgabenquote75, das heißt das Aufkommen an Steuern und Sozialabgaben in Prozent des BIP, in Deutschland bei 39,3 Prozent und damit knapp unterhalb der 27 EU-Staaten mit 39,9 Prozent und schon immerhin um 1 Prozent unter jener der Eurozone mit 40,5 Prozent. Die Gesamtbelastung mit Steuern und Sozialabgaben in Deutschland ist nur die neunthöchste in Europa. Die Abgabenquote in Deutschland liegt niedriger als in den skandinavischen Staaten, in Belgien, in Frankreich, in Italien, in den Niederlanden und in Österreich. Dänemarks Abgabenquote liegt fast 10 Punkte über der deutschen, bei 49,1 Prozent, die schwedische bei 48,9.
Eine solche Faktenlage wie auch die Frage danach, ob es in der heutigen Zeit angesichts der unerledigten öffentlichen Aufgaben sinnvoll ist, pauschal eine niedrigere Abgabenquote zu verlangen, interessiert einen so wichtigen Verband wie den Bundesverband der Deutschen Industrie nicht. Er agitiert weiter nach dem vor über 30 Jahren festgelegten Schema, und er tut dies heute auf der Basis einer staatsfeindlichen Grundstimmung, die in diesen Kreisen Fuß gefasst hat. »Hassfigur Vater Staat« überschreibt sogar das »Handelsblatt« einen Bericht zu einer »Road Show« stramm neoliberaler europäischer »Denkfabriken« und Institute in Berlin unter Führung des Wiener Hayek-Instituts. »Die Marktidee ist in Deutschland aus dem Leben verschwunden«, kann die Generalsekretärin dieses Instituts dort erklären, ohne ausgelacht zu werden. Das ist die radikale, die Realität ausblendende Agitation, auf der dann solche Gewächse wie das Manifest des BDI und seine Forderung nach weiterer Entstaatlichung gedeihen. Zur Entwicklung der Staatsquote zwischen 1960 und 2008 Die folgende Tabelle zeigt, wie sich die sogenannte Staatsquote zwischen 1960 und 2008 verändert hat. Das ist eine amtliche Tabelle des Bundesministeriums der Finanzen. Das Verständnis von Staatsquote weicht ab vom Begriff, der beim zitierten internationalen Vergleich zugrunde gelegt wurde. Das mindert jedoch nicht die Aussagekraft dieser Tabelle, weil es hier auf einen zeitlichen Vergleich in Deutschland ankommt. »Die Regierung definiert die Staatsquote als statistische Größe, in der Ausga ben von Bund, Ländern und Gemeinden sowie der Sozialversicherung in Bezug zum nominalen Bruttoinlandsprodukt (BIP) gesetzt werden.
« So heißt es in einer Meldung des Deutschen Bundestages vom 4. August 2008. »Eine sinkende Staatsquote zeige an, dass die staatlichen Ausgaben langsamer zugenommen haben als das nominale BIP, eine steigende Quote signalisiere einen vergleichsweise stärkeren Ausgabenzuwachs.«
Zum Verständnis ist es hilfreich, sich den gesamten Zeitablauf anzuschauen. Zwischen 1960 und 1965, also zu Adenauers und Ludwig Erhards Zeiten, stieg die Staatsquote kräftig an. Zwischen 1970 und 1975 stieg sowohl der Anteil der Gebietskörperschaften als auch der Anteil der Sozialversicherungen. Dahinter stecken die gewollte Ausweitung der öffentlichen Tätigkeit in der sozialliberalen Koalition und die damaligen Reformen – vermutlich aber auch die Stagnation des Bruttoinlandsproduktes, also des Nenners dieser Quote, nach der ersten Ölpreisexplosion von 1973.
Download: Entwicklung der Staatsquote [PDF – 12 KB]
Mit der konjunkturellen Belebung in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre sinkt dann die Staatsquote wieder. Das geht so weiter in der ersten Phase der Regierung Kohl. Damals war die Rückführung des Staatsanteils erklärte politische Absicht. Mit der deutschen Vereinigung kombiniert mit dem konjunkturellen Niedergang anfangs der neunziger Jahre steigt die Staatsquote 1996 auf ihren Höchstwert von 49,3 Prozent. Seitdem geht es in Schwankungen abwärts bis zu 43,9 Prozent im Jahr 2008.
Den konjunkturellen Einfl uss kann man auch in diesen letzten zehn Jahren beobachten: Der kleine Boom zwischen 1996 und dem Jahr 2000 ließ den Quotienten Staatsquote sinken; der Abschwung in den darauffolgenden Jahren schlägt sich sofort in einer höheren Staatsquote nieder, die wirtschaftliche Belebung seit 2005 in Kombination mit Steinbrücks Sparversuchen dann in einem Rückgang der Staatsquote.
Wenn man auf diese Tabelle des Verlaufs des Staatsanteils und des Anteils der Sozialversicherungen im Zeitraum von 47 Jahren auch noch eine Folie mit Daten zum Wohlergehen unseres Volkes legen würde, dann würde man vermutlich schnell begreifen, wie unbedeutend niedrige Staatsquoten waren und sind.
Zu Beginn der siebziger Jahre begann die Stimmungsmache gegen staatliche Tätigkeit – übrigens interessanterweise parallel, auch zeitlich parallel, zum Putsch in Chile und der dort bewusst und unter Einfl uss der neoliberalen Chicago-Schule betriebenen Verringerung der Rolle des Staates. Es fügt sich, dass beim erwähnten aktuellen Versuch des Hayek-Instituts, die radikal neoliberalen Kräfte zu sammeln, Pinochets früherer Arbeitsminister José Piñera mitmacht.
Der Einstieg über die hohen Abzüge war ausgesprochen geschickt.
Dieses Thema erzielt noch heute die gewünschte Wirkung.
Wer möchte nicht von Steuern und Abgaben entlastet werden?
Wenn man diese Frage von den öffentlichen Leistungen trennt, dann ist das Ergebnis klar. Der Hinweis auf die hohen 207 Abzüge spaltet zudem die Arbeitnehmerschaft und lähmt die Gewerkschaften.
Sie sind gezwungen, im Interesse ihrer Mitglieder für die Verringerung der Abzüge einzutreten, und wissen gleichzeitig, dass öffentliche Leistungen gerade für Arbeitnehmer und die Schwächeren unserer Gesellschaft lebenswichtig sind. Dieses Dilemma wird weidlich genutzt, so immer wieder von der »Bild«- Zeitung. Typisch der Kommentar in »Bild« vom 4. März 2008:
»Steuer-Gier immer größer!
Jetzt haben wir es erneut schwarz auf weiß: Steuern und Abgaben fressen uns auf! Ob Soli, Öko-, Mehrwert- und bald Abgeltungssteuer – die Gier des Staates wird immer größer. Die Leidtragenden sind vor allem die Millionen Beschäftigten! Denn bei den Löhnen tut sich im Gegenzug nichts. Die mäßigen Steigerungen sind zwar gut für die Bilanzen der Firmen. Aber im Geldbeutel der Arbeitnehmer kommt kein spürbares Plus an – die Inflation frisst alles wieder auf. Unterm Strich sind die Löhne in den letzten zehn Jahren sogar leicht gesunken. Gleichzeitig stiegen die Belastungen durch den Staat weiter an. Im Klartext: Arbeit und Fleiß lohnen sich nicht wirklich. Deshalb wird es höchste Zeit, dass die Politik Abgaben und Steuern senkt. Nur so gibt es wirklich mehr Netto für alle!«
»Bild« untermauerte diesen Kommentar noch mit einem zweiten Artikel: »Steuern und Abgaben. So raubt der Staat uns aus«.
Der Kommentator ist sinnigerweise Oliver Santen. Er kam von der Allianz zu »Bild« und betreibt dort Propaganda für die Privatvorsorge und gegen die gesetzliche Rente. Er ist also auch noch aktiv damit beschäftigt, für private Produkte wie Lebensversicherungen à la Riester und Rürup zu werben, die vom Staat hoch subventioniert sind. Dass das Geld dafür auch vom »gierigen« Staat bei den Bürgern kassiert wird, spielt dann natürlich keine Rolle. Denn die dafür notwendige Gier kommt seinen Freunden von der Finanzwirtschaft zugute.
Sparen zu wollen ist populär, und Schulden hinzunehmen ist unpopulär. Darauf baut eine zweite Linie der Meinungsmache gegen öffentliche Leistungen auf. Sie erscheint uns im täglichen politischen Leben in vielen Variationen. Beliebt ist die Rolle des 208 Sparkommissars. Das ist ein Ehrentitel, den sich ein kluger PRMacher für den früheren Finanzminister Hans Eichel ausgedacht hatte; Peer Steinbrück versucht ihn mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf die konjunkturellen Gegebenheiten und dringlichen Aufgaben des Staates zu erobern. Hier wird eine der Veränderungen sichtbar, die gravierende Auswirkungen auf die Anti-Staats-Kampagne hatten: Sozialdemokraten mauserten sich von Befürwortern einer Erweiterung des öffentlichen Korridors zu Sparkommissaren.
Selbstverständlich ist jeder anständige Mensch für Sparen und gegen Verschuldung; deshalb lädt dieses Thema profilierungsfreudige Jungpolitiker geradezu ein, sich seiner zu bemächtigen und dabei die Anerkennung wichtiger Meinungsführer in den Medien zu ergattern: Carsten Schneider (SPD), Oswald Metzger (nacheinander SPD, Die Grünen, CDU), Antje Hermenau (Die Grünen) haben sich so profiliert und das Thema in der Diskussion gehalten.
Wir werden ständig und wiederum in vielen Variationen mit dem Problem zu hoher Staatsschulden konfrontiert. Wir werden vom Bund der Steuerzahler zum Blick auf die »Schuldenuhr« vor dem Büro dieses Bundes in Berlin eingeladen. Diese Vereinigung nennt sich Bund der Steuerzahler, ist aber mehrheitlich ein Bund von Unternehmen und Freiberufl ern. Seine »Schuldenuhr«, die den Zuwachs der öffentlichen Schulden dramatisch und optisch verwertbar anzeigt, wird von Fernsehjournalisten gerne zur Meinungsmache genutzt. So ist es gedacht und so funktioniert es.
Die Bertelsmann Stiftung, die nicht fehlen darf, wenn es darum geht, Stimmung für Entstaatlichung zu machen, unterhielt uns Ende Juni 2008 mit einem Kommunalen Finanz- und Schuldenreport 2008 über die finanzielle Lage der Kommunen in Deutschland. In einem Bericht von »SpiegelOnline«, über den »Spiegel« zu 25 Prozent im Eigentum einer Bertelsmann-Tochter, hieß es zum Einstieg schön stimmungsmachend: »Kommunen rechnen ihre Schulden schön«. Sie sind »viel stärker verschuldet als angenommen«. Lobend hieß es: »Manche Städte und Gemeinden hätten sich allerdings durch den Verkauf von kommunalem 209 Eigentum – wie beispielsweise Dresden durch die Privatisierung einer Wohnungsgesellschaft – weitgehend entschuldet.« Das zeigt die Stoßrichtung, die Forderung nach weniger Staat.
Bei der stimmungmachenden Staatsschuldendebatte wird unverblümt ein Trick der Meinungsmache angewandt: die Ausblendung.
Von der hohen Zunahme der Verschuldung durch die schlecht gemachte deutsche Vereinigung und die dabei begangenen teuren Untaten und Fehler spricht man nicht, obwohl es im Schnitt der neunziger Jahre jährlich Spitzenwerte von rund 80 Milliarden Euro waren. Hier gibt es offensichtlich eine Absprache unter den Meinungsmachern in Politik und Medien. Es wird weder über die miserable Leistungsbilanz der Treuhand noch über das Verscherbeln der ostdeutschen Banken an die westdeutschen gesprochen. Das Schweigen über wichtige Vorgänge ist ein besonderes Mittel der Meinungsmache. Und das Schweigen über die Rolle der so schlecht gemachten Vereinigung der beiden Teile Deutschlands ist eines der herausragenden Beispiele dafür.
Zur Palette der Meinungsmache im Interesse der Reduzierung der Staatstätigkeit gehört weiter
Es gibt Bürokratie, es gibt Verschwendung, es gibt inkompetente Politiker und inkompetente Verwaltungsbeamte. Aber zum einen trifft man auf diese Schwächen im privaten Sektor auch. Auch dort gibt es Bürokratien, auch dort gibt es Korruption, wie der Fall Siemens ausgiebig belegt, auch dort gibt es Inkompetenz.
Was auf den Finanzmärkten zwischen 2001 und 2008 geschah, war entweder kriminell oder inkompetent oder beides.
Zudem wäre immer zuerst noch die Frage zu stellen, was man tun kann, um Bürokratisierung, Bequemlichkeit und Unbeweglichkeit bei der Bereitstellung öffentlicher Güter und Dienstleistungen abzumildern und letztlich loszuwerden. Dass dies praktisch geht, sehen wir hierzulande mittlerweile in vielen Städten und Gemeinden, in Rathäusern und in Kreisverwaltungen, in 210 Landesverwaltungen und bei öffentlichen Unternehmen. Es gibt in Deutschland inzwischen gut organisierte Verwaltungen, es gibt effizient arbeitende öffentliche Verkehrsbetriebe und Stadtwerke.
Und dann sollte man bei einer Bewertung noch beachten, dass wir es inzwischen mit neuen Bürokratien zu tun haben, die aus der Privatisierung wichtiger öffentlicher Einrichtungen und Unternehmen folgen. Weil die Privatisierung der Energiewirtschaft und der Telekommunikation, der Eisenbahn und des Fernsehens beziehungsweise des Hörfunks angesichts der sogenannten Unteilbarkeiten77 zu neuen privaten Monopolen und Oligopolen führen, sieht man sich gezwungen, sogenannte Regulierungsbehörden und – im Falle des Rundfunks – Medienkontrolleure zu installieren. Damit sind nolens volens neue Bürokratien entstanden.
Ihre Entscheidungen sind nahezu willkürlicher Natur, und die betreibenden privaten Unternehmen bringen obendrein den Nachteil, dass sie nicht mehr öffentlich und schon gar nicht parlamentarisch verantwortet und kontrolliert sind.
Einige der von der öffentlichen Hand entlassenen und privatisierten Unternehmen haben dann übrigens erst in dieser neueren befreiten Situation ihr Talent zur Verschwendung und zu abenteuerlichem Investitionsverhalten entdeckt. Die privatisierte Deutsche Telekom AG hat genauso wie die aus der direkten Kontrolle des Staates entlassene Deutsche Bahn AG die Verschwendung von finanziellen Mitteln auf den globalen Märkten für Beteiligungen richtig ausgekostet – der Spieltrieb der befreiten Manager vom Typ Ron Sommer und Hartmut Mehdorn konnte sich erst in dieser privatisierten beziehungsweise de facto privatisierten Konstellation richtig austoben.
Fazit: Offensichtlich muss beim Urteil über die Frage öffentlich oder privat die Scheidelinie nicht zwischen der privaten Organisation einerseits und der öffentlichen Organisation einer Dienstleistung andererseits verlaufen. Unsinn ist bei beiden Formen des Eigentums möglich.
Die notwendige Debatte und Beratung dieser Probleme ist heute angesichts der Vorherrschaft der Entstaatlichungs- und 211 Privatisierungsparolen kaum möglich. Die rationale sachliche Debatte wird überlagert durch die Vorherrschaft einer einseitigen Meinungsmache.
Die Propaganda gegen die staatliche Tätigkeit und gegen öffentliche Leistungen wäre nicht annähernd so wirkungsvoll wie heute, wenn sie nicht unterfüttert und gestützt würde von politischen Entscheidungen, mit denen die Leistungsfähigkeit der öffentlichen Einrichtungen gefährdet und verschlechtert wird – das ist hier ähnlich wie bei der Zerstörung des Vertrauens in die gesetzliche Rente. Die Basis für die Meinungsmache wird politisch geschaffen: Man senkt die Steuern wie zum Beispiel mit der großen Unternehmenssteuerreform durch Rot-Grün und mit einem ansehnlichen Blumenstrauß von Steuersenkungen und -streichungen in Kohls Regierungszeit. Die Streichung der Vermögenssteuer und der Gewerbekapitalsteuer geht auf Kohl zurück; Letzteres hat die Kommunen viel Geld gekostet. Gewinner der vielen Steuersenkungsoperationen waren Unternehmen und vor allem große Kapitalgesellschaften, die z.B. ihre Aktienpakete verkaufen können, ohne den dabei realisierten Gewinn zu versteuern.
Die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger war nicht unter den Gewinnern. Sie sehen aber die mangelhafte Leistung einer unterfinanzierten öffentlichen Hand und klagen darüber. Das ist das, was sie lernen sollen.
Jetzt ist ein neues Instrument zur Begrenzung der Leistungsfähigkeit des Staates eingeführt worden. Die Politiker der großen Koalition haben sich die Idee einreden lassen, eine »Schuldenbremse « in die Föderalismusreform aufzunehmen und diese sogar im Grundgesetz zu verankern. Sie soll Bund, Länder und Gemeinden dazu zwingen, über einen Konjunkturzyklus hinweg die Haushalte ausgeglichen zu halten. Dieses Instrument ist schon makroökonomisch nicht zu verstehen, weil es eine prozyklische Politik stärkt, also die Konjunkturausschläge insbesondere nach unten zu verschärfen droht. Es wird dazu führen, dass die öffentlichen Hände dann am schlechtesten ausgestattet sind, wenn sie die Finanzmittel für öffentliche Leistungen am dringendsten brauchen würden.78 Außerdem wird dieses Instrument dazu führen, dass der Staat – und das sind wir alle – nicht mehr ausreichend fähig sein wird, neuen Bedarf an öffentlichen Leistungen, falls es diesen gibt, ohne sehr große Schwierigkeiten zu decken.
Hätte es eine solche Schuldenbremse Ende der 1960er Jahre gegeben, wir hätten den völlig vernachlässigten Schutz von Umwelt und Gewässern wie auch den vernachlässigten Hochschulbau nicht finanzieren können. Die Schuldenbremse ist ein gutes Beispiel für eine politische Entscheidung, die vornehmlich durch Meinungsmache in die öffentliche Debatte und in den Entscheidungsprozess eingeführt wurde. Und wenn sie einmal eingeführt ist, dann wird sie immer wieder das Thema Sparen und Schulden am Kochen halten.
Die Verarmung des Staates kostet uns sehr viel:
Wir investieren nicht mehr ausreichend für die Zukunft
Die »Frankfurter Rundschau« veröffentlichte am 10. Mai 2008 ein Interview mit dem Mitglied des Sachverständigenrates Peter Bofinger. Weil die Steuerschätzer – übrigens in gravierender Fehleinschätzung der krisenhaften Entwicklung – bis zum Jahre 2012 mit Mehreinnahmen für die öffentliche Hand in Höhe von 100 Milliarden Euro rechneten, folgte ein Vorschlag dem andern, die Steuern zu senken. Der Bundesfinanzminister dagegen wollte lieber Schulden abbauen. Peter Bofinger wies auf die Selbstverständlichkeit hin, das Geld für Bildung und die Infrastruktur auszugeben.
Und er nannte es typisch, dass nur die anderen Optionen zur Debatte gestellt werden: Steuern senken oder Schulden abbauen. Aus seiner Sicht hat der »öffentliche Diskurs eine gefährliche Unwucht«. Das ist angesichts der nunmehr jahrzehntelangen aggressiven Diskussion gegen den Staat als Fiskus und daraus folgend als Leistungsträger kein Wunder.
Unsere Infrastruktur wird schlechter. Kanalisationen verlottern, für Bildung und Ausbildung ist nicht ausreichend Geld da.
Deutschland gibt für Bildung heute anteilsmäßig weniger aus als noch Mitte der neunziger Jahre. Damals standen 6,9 % des Bruttoinlandsproduktes für Bildung zur Verfügung, 2006 nur noch 6,2 %, so steht es im zweiten nationalen Bildungsbericht, der im Juni 2008 bekannt wurde. Mit 6,2 % liegt Deutschland unterhalb des Durchschnitts der OECD-Länder, also der vergleichbaren Industriestaaten auf der Welt. In den Medien wird über die Misere berichtet, zum Beispiel in der »Berliner Zeitung« am 13. Juni 2008: »Noch immer verlassen fast 8 Prozent eines Altersjahrgangs die Schule ohne Abschluss. 40 Prozent der ehemaligen Hauptschüler haben nach zwei Jahren noch keine Berufsausbildung begonnen. Der Zentralverband des Handwerks hält jeden vierten Jugendlichen für nicht ausbildungsfähig. Es studieren noch immer zu wenig junge Menschen; die Weiterbildung stagniert, die Benachteiligung von Migrantenkindern bleibt bestehen.
Abhilfe ist kaum in Sicht. Laut Bildungsbericht wird der Nachwuchs an Lehrern und Erziehern immer knapper.« »Im Kern verrottet« überschreibt der »Spiegel« einen Bericht über den baulichen und sonstigen Zustand unserer Hochschulen.79
Wir wissen, was zu tun wäre, und es gibt sogar über alle Parteien hinweg einen erstaunlichen Konsens darüber, dass wir mehr in die Zukunft investieren müssen. Die Sonntagsreden unserer Politikerinnen und Politiker sind voll von sorgenvollen Analysen und von schönen Sprüchen: Bildung für alle, Wissensgesellschaft, Wissen als Rohstoff der Zukunft, Megathema Bildung (Herzog), Bildung sei die soziale Frage des 21. Jahrhunderts, deklamierte ein CDU-Parteitag schon vor über zehn Jahren. In der gleichen Zeit wurden die Kassen des Staates genau auch für dieses Aufgabenfeld immer ärmer ausgestattet.
Was zu tun wäre, wissen wir: Wir brauchten mehr Ganztagsschulen und eine bessere Vorschulerziehung; die Lehrer-Schüler-Relation müsste verbessert, unsere Schulen und Universitäten saniert und modernisiert werden. Unsere Universitäten sind überlastet.
In Seminarräumen für 50 werden 300 Studenten untergebracht.
Die Studienbedingungen werden mit Recht als schlecht bis katastrophal empfunden. Wir wissen, wo wir investieren müssten.
Die Ganztagsbetreuung in unseren Schulen wird zum Teil von 214 dafür nicht ausgebildeten Personen übernommen, auch damit man niedrigere Löhne zahlen kann. Also brauchen wir mehr Geld für Personal.
Wir wissen, dass Kinder und Jugendliche aus einkommensschwächeren Schichten in unserem Bildungssystem immer noch Schwierigkeiten haben weiterzukommen. Wir wissen, dass unsere Hochschulen wegen der mangelhaften öffentlichen Hilfe tendenziell immer mehr von den Kindern der Bessergestellten, von Akademikerkindern besucht werden und die Kinder der finanziell Schlechtergestellten benachteiligt sind. Diese Vernachlässigung der Begabungsreserven ist unfair und gesellschaftspolitisch genauso dumm wie in den 1950er und 1960er Jahren, als dies »Bildungsnotstand« genannt wurde. Wir wissen, dass das dicke Ende dieser Fehlentwicklung noch auf unsere Gesellschaft zukommt. Wir wissen, dass diese Konsequenz der Verarmung des Staates die eigentliche Benachteiligung der jungen Generation ausmacht. Wir wissen das, aber es geschieht nichts Entscheidendes.
Das gilt auch für benachbarte Bereiche unseres gesellschaftlichen Lebens: Wir wissen, dass wir mehr tun müssten für unsere Jugend – für Jugendzentren, für seelische Betreuung, für Jugendarbeit insgesamt. Und dennoch wird bei der Jugendhilfe immer noch gestrichen und sogar zusammengestrichen, statt neu zu investieren.
Wir wissen, dass wir Integrationsprobleme haben. Wir brauchten mehr Sprachunterricht für Kinder von Aussiedlern und Ausländern.
Aber die Mittel sind schon zu Kohls Zeiten gekürzt worden, obwohl gerade die Regierung Kohl besonders viele Aussiedler ins Land geholt hat.
Die Verarmung des Staates werden künftige Generationen zu spüren bekommen. Und zwar sehr viel mehr, als die im Jahr 2008 von einigen Wortführern aus der jüngeren Generation und vom früheren Bundespräsidenten Herzog zum Symbol ihrer Benachteiligung durch die Rentner hochgespielte Rentenerhöhung um 1,1 Prozent die künftigen Generationen kosten könnte. Wir tun den jungen Leuten und Kindern einen Gefallen, wenn wir ihnen 215 eine gute, möglichst perfekte, moderne Infrastruktur hinterlassen.
Jenen unter der jüngeren Generation, die heute über Staatsschulden und die daraus angeblich folgenden Benachteiligungen jammern, wäre zu wünschen, einen aufgeschlossenen Blick in die USA zu werfen oder wenigstens zu lesen, was von dort berichtet wird. Der »Spiegel«, sonst hier nicht besonders respektvoll zitiert, hat einen kritischen USA-Korrespondenten. Dieser berichtete am 2. August 2007: »Kollaps der US-Infrastruktur. Marode Brücken, miese Straßen, morsche Dämme. Die Brücken-Katastrophe von Minneapolis ist ein Menetekel. Mehr als 160 000 Straßenbrücken in den USA gelten als einsturzgefährdet. Fernrouten, Tunnel, Dämme und Deiche sind in so miserablem Zustand, dass Ingenieure schon lange Alarm schlagen – bisher vergeblich.«
Das sind die Folgen einer systematischen Verarmung des Staates.
Das geht zu Lasten künftiger Generationen. Das müsste man doch eigentlich verstehen. Dagegen stehen bei uns nicht nur die herrschende Ideologie, sondern auch gut organisierte und meinungsstarke Interessen. Wer die Profiteure der Verarmung des Staates sind, liegt auf der Hand, neben den auf diesem Feld nun wirklich virulenten Ideologen der neoliberalen Wirtschaftsvorstellungen sind auch einige handfestere Interessen erkennbar:
Wenn den öffentlichen Schulen und Universitäten das Geld für die notwendige Modernisierung fehlt, dann bieten sich private Träger an. Und Eltern gehen auf die Angebote ein, weil sie es mit ihren Kindern gut meinen. Die Verarmung des Staates sorgt indirekt dafür, dass die Kinder von Besserverdienenden eine größere Chance auf eine gute Ausbildung und damit auf ein privilegiertes Berufsleben haben. Mit der Verarmung des Staates von heute werden also die Weichen auf eine Segmentierung der Ausbildungs- und Berufschancen entsprechend der Herkunft und der finanziellen Stärke der Eltern gestellt.
Wenn den Kreisen und Städten das Geld für die Krankenhäuser ausgeht und sie sich überfordert fühlen, dann privatisieren sie. Und große private Krankenhauskonzerne stehen bereit.
Wenn unsere Kommunen Probleme haben, ihre Verwaltung ordentlich zu gestalten, dann steht die Bertelsmann-Tochter 216 Arvato bereit zur Übernahme. Damit ist 2007 in Würzburg begonnen worden. Verarmung und Entstaatlichung öffnen nach Einschätzung des Geschäftsführers von Arvato vor allem dieser Bertelsmann-Tochter ungeahnte neue Geschäftsfelder.
Wenn dem Bundesverkehrsminister das Geld für Bundesstraßen und Autobahnen fehlt und die Staus wachsen, dann bieten sich Private zur Übernahme an; weil die nackte Privatisierung zu auffällig ist und Widerstände auslöst, wählt man seit ein paar Jahren – begonnen in Großbritannien – den angenehmer klingenden Weg über sogenannte Öffentlich-Private Partnerschaften.
Wenn die Schulden wachsen, weil die Steuern zur Finanzierung der öffentlichen Aufgaben nicht reichen, dann rufen die Interessierten nach der Privatisierung öffentlicher Unternehmen, öffentlicher Einrichtungen und öffentlicher Wohnungsbestände.
Dann verdienen die einen an der Transaktion staatlichen Eigentums zu privatem und die andern am günstigen Einkauf neuer Vermögenswerte. Und eine durch permanente Meinungsmache verbildete Öffentlichkeit glaubt wirklich, die staatlichen Stellen, die Gemeinden, die Länder, der Bund hätten etwas gewonnen, wenn sie ihre Bilanz verkürzen – links weniger Vermögen, rechts weniger Schulden. Wie in Dresden durch den Verkauf städtischer Wohnungen.
Wenn dem Staat das Geld für eine ausreichende Ausstattung mit Finanzbeamten fehlt, dann haben es jene gut, die Steuern hinterziehen wollen. Dem Fiskus entgehen allein bei der Umsatzsteuer durch nationale und internationale Betrugsdelikte jährlich zweistellige Milliardenbeträge.80 Der Vorsitzende der deutschen Steuergewerkschaft, Dieter Ondracek, schätzt das Volumen der jährlichen Steuerhinterziehung auf rund 30 Milliarden Euro. Die Memo-Gruppe, eine Gruppe kritischer Wirtschaftswissenschaftler, sieht Ausfälle zwischen 70 und 100 Milliarden. Und dennoch lösen die Länder die Vereinbarung über eine bessere personelle Ausstattung der Steuerprüfung und Steuerfahndung nicht ein.
Wenn der Staat mehr Geld zur Bedienung großer privater Interessen braucht, dann fehlt es übrigens nicht an Mitteln. In die 217 Großbetriebe der Landwirtschaft fl ießen nach wie vor die Milliarden an Subventionen, genauso wie in die Versicherungswirtschaft und selbstverständlich auch die Flugzeugindustrie; zur Rettung einer einzigen privaten Bank werden weit über 100 Milliarden bereitgestellt, die Aktionäre der eigentlich pleitegegangenen HRE, deren Kurs ohne staatlichen Rettungsschirm vermutlich bei 0,0 läge, sollen vom staatlichen Rettungsschirm SoFFin 1,39 € je Aktie erhalten (Stand: 1. Juni 2009). Das ist eine 290-Millionen-Euro-Prämie für die Zocker. Einfach so, unser Geld für wertlose Papiere. Die 480 Milliarden, die der Rettungsschirm insgesamt bereithält, machen insgesamt mehr als das Anderthalbfache des gesamten Bundeshaushalts aus.
Einige andere Länder gehen bewusst einen anderen Weg. Die skandinavischen Länder zum Beispiel haben eine merklich höhere Staatsquote. Dänemark und auch Schweden »belasten« ihre Bürger um fast ein Viertel höher als wir. Die skandinavischen Länder erzielen trotz – oder vielleicht wegen – hoher Staatsquoten durchgehend bessere wirtschaftliche Erfolge. Das müsste doch zu denken geben. Das müsste zunächst dazu führen, dass wir unsere Sprache von Vorurteilen reinigen. Es ist eben falsch, von »Belastung« zu sprechen, wenn wir gemeinsam als Staat gute Leistungen zum Beispiel für Bildung und Infrastruktur bieten und dafür mehr Abgaben und Steuern einsammeln: ein besseres, durchlässiges Bildungswesen, eine gute Infrastruktur, ein gutes soziales Netz für den Fall der Arbeitslosigkeit und des Alters – das sind Leistungen, die offensichtlich ihren Preis wert sind und zu Unrecht »Belastungen« genannt werden.81
Die Tatsache, dass Entstaatlichung und wirtschaftlicher Erfolg durchgehend nicht positiv korreliert sind, müsste endlich doch auch bei unseren Meinungsführern Nachdenken auslösen.
In der Praxis ist das nicht so. Die »Bild«-Zeitung, die Bertelsmann Stiftung, die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die Wirtschaftsverbände, die etablierten Parteien und eine Unzahl von Stiftungen, Initiativen und PR-Agenturen machen weiter ihre Propaganda gegen den Staat. Und Politiker profilieren sich 218 reihenweise mit ihrer Spartugend, die im Ernst wegen der damit verbundenen verschärften Abwürgung der Konjunktur gar keine ist. Und je weiter unser Land in eine wirkliche Wirtschaftskrise abrutscht, umso mehr wird diese primitive Profilierung zu Lasten öffentlicher Leistungen und zu Lasten einer aktiven Konjunkturpolitik zum Horror. Das traurige Ergebnis der gezielten Meinungsmache verhindert rationale politische Entscheidungen.
III. Die neoliberale Bewegung hinterlässt eine Spur der Verwüstung und der Plünderung
Das Unbehagen und die Gefühle der Ohnmacht vieler Menschen sind keine nur gefühlten Schmerzen. Sie haben eine reale Basis. In den letzten 20 bis 30 Jahren ist vieles, was uns lieb und teuer war, umgestaltet worden. Und immer in eine Richtung. Was wir gemeinsam an gesellschaftlichen Einrichtungen und Gemeineigentum geschaffen haben, wird uns allen stückweise genommen und Privaten gegeben. Was wir gemeinsam an sozialer Sicherheit auf Gegenseitigkeit verankert hatten, ist losgerissen; einer großen Zahl von Menschen, vermutlich der überwiegenden Mehrheit, ist die soziale Sicherheit genommen worden. Wichtige gemeinsame Einrichtungen und Errungenschaften sind dahin: Die Arbeitslosenversicherung ist mit Hartz IV keine Arbeitslosenversicherung mehr, die gesetzliche Rente wird durch absichtliche Schnitte zur Minderung ihrer Leistungsfähigkeit nur noch eine Basisrente sein. Der Einfluss auf unsere Universitäten ist der Wirtschaft übereignet, »verkauft« – einfach so. In den Schulen wird reformiert, oft ohne vorher zu überlegen, welche Voraussetzungen das Gelingen solcher Reformen erfordern würden. Und von jungen Menschen verlangt man, sich zu verschulden, wenn sie ihre Studiengebühr nicht durch Nebentätigkeit abarbeiten können oder wollen. Wichtige öffentliche Unternehmen sind verschleudert worden – bei schlechter Konjunktur und unter Preis: so unter anderem die Bundesdruckerei, die Raststätten an den Autobahnen, reihenweise Industriebeteiligungen, Stadtwerke, Wasserwerke, öffentliche Wohnungsbaugesellschaften und die dazugehörigen Wohnungen.
Diese Veränderungen entsprechen der Ideologie der herrschenden neoliberalen Bewegung. Sie hat sich durchgesetzt. Sie hinterlässt eine Spur der Verwüstung.
Das Zerstörungswerk gründete auf einer wohlgestalteten Einflussarbeit, einer Lobbyarbeit, die mit allen Finessen ans Werk ging und immer noch am Werk ist. Sie wird vorbereitet und begleitet von massiver Meinungsmache.
Propaganda ist bei undemokratischen und antidemokratischen Organisationen schon immer ein besonders beliebtes und geeignetes Mittel der Herrschaftsausübung gewesen. Insofern ist Meinungsmache wirklich nichts Neues. Das war bei den Diktatoren dieser Welt so. Propaganda war und ist das Schmiermittel für Kriege. Meinungsmache ist heute bei Ländern wie dem unseren das lautloseste und sanfteste Mittel zur Machteroberung und zur Machtausübung. Das Volk wird mit Propaganda kurz und auf Distanz gehalten und zugleich de facto zur Resignation animiert, was einer Unterwerfung gleichkommt, wenn wie üblich nur die Stimmen jener gezählt werden, die sich am Wahlakt beteiligen.
Hier noch die Überschriften der Kapitel in Abschnitt III:
Kapitel 12: Inkompetenz in der Wirtschaftspolitik (S. 183)
Kapitel 13: Die Verarmung des Staates als strategischer Hebel (S. 200)
Kapitel 14: Die Auslieferung der Universitäten an die Wirtschaft * (S. 219)
Kapitel 15: Mit Bachelor und Master die Hochschulabschlüsse verschlimmbessert (S. 249)
Kapitel 16: Der stärkste Motor beim Zerstörungswerk – die Bertelsmann Stiftung* (S. 256)
Kapitel 17: Die Plünderung unseres Volksvermögens (S. 267)
Kapitel 18: Kapitalmarkt als Casinobetrieb und die Plünderung deutscher Unternehmen (S. 281)
Kapitel 19: Die Zerstörung des Vertrauens in die sichere Altersvorsorge – ein Musterbeispiel gelungener Gehirnprägung (S. 298)
Der stärkste Motor beim Zerstörungswerk – die Bertelsmann Stiftung
Die Bertelsmann AG ist der größte Oligopolist der veröffentlichten Meinung in Deutschland. Die Zeitungen, Zeitschriften, Fernseh- und Radiosender und nicht zuletzt die Verlage des Konzerns beeinflussen nicht nur die Meinungsbildung, sondern auch die gesamte Stimmungslage und die Befindlichkeiten in Deutschland.
Schon diese Medienmacht alleine stellt eine Bedrohung für die Meinungsvielfalt in Deutschland dar. Bertelsmann übt aber darüber hinaus eine politische Gestaltungsmacht aus, die weit über den Einfluss von Verbänden, Kirchen, Gewerkschaften, ja sogar von Parteien hinausgeht – und das geschieht durch die Bertelsmann Stiftung.
Der Firmenpatriarch Reinhard Mohn hat die Stiftung 1977 gegründet und ihr zwischen 76,9 Prozent der Anteile an der Bertelsmann AG übertragen. Sie ist die reichste Stiftung in Deutschland.
Seit ihrer Gründung hat sie bisher rund 666 Millionen Euro in über 700 Projekte investiert und insgesamt rund 728 Millionen Euro für »gemeinnützige Arbeit« zur Verfügung gestellt. Im Geschäftsjahr 2007 hat sie aus Erträgen der Bertelsmann AG 72 Millionen Euro erhalten, aufgrund von Kooperationen und Erträgen aus der Vermögensverwaltung verfügte die Bertelsmann Stiftung über ein Volumen von knapp 84 Millionen Euro. Allein für die Bildungsaktivitäten standen 2006 knapp elfeinhalb Millionen Euro zur Verfügung.
109 Mit über 330 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die bis zu 100 Projekte betreuen, hat sie sich seit den 1990er Jahren zu einem führenden deutschen Think-tank entwickelt. Das Spezifikum der Stiftung ist, dass sie nur von ihr selbst definierte Projekte finanziert und keine extern gestellten Anträge fördert. Während die Stiftung sonst ständig vom Wettbewerb redet, lässt sie einen Wettbewerb um ihre Fördermittel nicht zu. Um Synergien zu erzielen, arbeitet die Bertelsmann Stiftung unter anderem mit der Heinz Nixdorf Stiftung, der Körber-Stiftung, der Volkswagen Stiftung, der Hertie-Stiftung, der Ludwig-Erhard-Stiftung und der Robert Bosch Stiftung zusammen.
»Eigentum verpflichtet« nennt Reinhard Mohn als Motiv für die Gründung seiner Stiftung. Doch so ganz altruistisch motiviert dürfte die Übertragung von über dreiviertel der Kapitalanteile an der Bertelsmann AG an eine Stiftung nicht gewesen sein. Man liegt gewiss nicht falsch mit der Vermutung, dass Reinhard Mohn dadurch, dass er dieses Kapital »gestiftet« hat, hohe Summen an Erbschafts- und/oder Schenkungssteuer »gespart« hat. Zudem sind die jährlichen Dividendezahlungen des Konzerns an die »gemeinnützige« Bertelsmann Stiftung steuerbegünstigt, und die Vermutung dürfte nicht unbegründet sein, dass ein Gutteil des Etats der Stiftung über Steuerminderungen finanziert wird. Der Fiskus fördert also die Aktivitäten der Stiftung mit. Dabei ist es keineswegs so, dass die Ziele des Konzerns von den Zielen der gemeinnützigen Stiftung unabhängig sind. Nach eigenem Bekenntnis will Reinhard Mohn, dass seine Stiftung »nicht nur ein bedeutender Reformmotor für die Gesellschaft, sondern auch ein Garant der Unternehmenskontinuität des Hauses Bertelsmann« sein soll.
Der Göttinger Soziologe Frank Adloff kritisiert wohl nicht ganz zu Unrecht, dass für solche Zwecke, für die die Stiftung steht, »die Steuerbefreiung für gemeinnützige Stiftungen nicht gedacht« sei.110 Denn die Bertelsmann Stiftung ist – entgegen dem Anschein, den sie zu erwecken versucht – eben keine neutrale Einrichtung zu uneigennützigen Zwecken. Man kann Reinhard Mohn nicht einmal vorwerfen, dass er mit seiner »Mission« hinter dem Berg hält. Jeder kann die Botschaften im Internet etwa auf der Website der Bertelsmann Stiftung oder in Mohns Buch »Die gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmers«111 nachlesen. Der Bertelsmann-Firmenpatriarch legte auch in zahlreichen Schriften seine Weltanschauung ausgiebig dar. Im Hinblick auf diese Mission ist die Stiftung – wie Harald Schumann im »Tagesspiegel« schrieb – eine »Macht ohne Mandat«.
Wenn man Vertretern der Bertelsmann Stiftung diesen Vorhalt macht, erntet man regelmäßig die treuherzig bescheidene Antwort: »Wir machen doch nur Vorschläge, entscheiden tut die Politik.
« Unter dem Pathos der »Gemeinwohlverpflichtung« oder der Losung »Wir helfen der Politik, dem Staat und der Gesellschaft, Lösungen für die Zukunft zu finden« (R. Mohn) gibt es kaum ein politisches Feld von Bedeutung, wo die Stiftung mit ihren Handreichungen nicht ihre Lösungsangebote macht.
Die Bertelsmann AG ist der größte europäische Medienkonzern, und mit einem Umsatz von 16,1 Milliarden Euro und weit über 100 000 Beschäftigten in mehr als 60 Ländern ist Bertelsmann das fünftgrößte Medienunternehmen weltweit.112 Bertelsmann ist zwar nicht das nach Umsatz größte Unternehmen in Deutschland, aber durch seine Medienmacht gepaart mit der Mission der Bertelsmann Stiftung das gesellschaftlich und politisch wirkungsmächtigste.
Die Erfolgsgeschichte des Familienunternehmens begann mit Büchern und später Schallplatten, man baute Leseringe auf, kaufte in den letzten Jahrzehnten Großdruckereien und Verlage und stieg ins Funk-, Fernseh-, Film- und Musikgeschäft ein. Radiostationen, Filmproduktion, Rechtehandel, Medien- und Kommunikationsdienstleistungen sowie Immobilien-, Finanzfirmen und – zunehmend bedeutsam – auch private Bildungsinstitute wie etwa das »Hamburger Institut für Lernsysteme« (ILS) gehören heute zum Bertelsmann-Konzern. Hier ein Überblick über den Konzern:
Die Tätigkeit von Konzern und Stiftung
Das Spektrum der Projekte reicht vom Kindergarten über die Schule bis zur Hochschule und weiter bis ins Arbeitsrecht. Bertelsmann macht Vorschläge zur Bewältigung des demographischen Wandels, zur Integration von Migranten, zur Altersvorsorge, zur Reform des Föderalismus, zur Familienpolitik, zur Gesundheitspolitik, zur Politik in Europa, zur transatlantischen Kooperation und zur globalen Durchsetzung der von Mohn für richtig befundenen Prinzipien. Bertelsmann bietet seine Dienstleistungen zum »modernen Regieren« an und sieht in der öffentlichen Verwaltung gleichzeitig ein gewinnträchtiges Geschäftsfeld für die Konzerntochter Arvato.
Bertelsmann will »Motor« für Reformen auf allen diesen Feldern sein. Überall bietet die Stiftung ihre »Lösungen für die Zukunft« an. Vom Bundespräsidenten über die Bundeskanzler und die Bundes- und vor allem Landesministerien bis hin zur Kommunal- oder Finanzverwaltung, überall dient Bertelsmann seine Vorschläge an. Die Lösungskonzepte werden auf allen Ebenen, von zahllosen öffentlichen oder halböffentlichen Institutionen, von Regierungen und Parlamenten und von fast allen Parteien von der FDP, über die CDU oder die SPD bis zu den Grünen im Sinne des herrschenden Modernisierungsdenkens begierig aufgegriffen.
Bertelsmann liefert zahllose Angebote vor allem für die Schulen:
Angefangen vom Projekt »Bildungswege in der Informationsgesellschaft (BIG 2006)«, über Gesundheitserziehung, die Initiative »Notebooks im Schulranzen«, die Förderung der Musikkultur bei Kindern, das Projekt »Wirtschaft in der Schule«, die »Toolbox Bildung« bis zu den Projekten »Eigenverantwortliche Schule und Qualitätsvergleich in Bildungsregionen«. Unter dem Titel »SEIS macht Schule« entwickelte die Bertelsmann Stiftung den Schulen ein Selbstevaluations- und Steuerungsinstrument, das den »Entwicklungsprozess einer Schule zielgerichtet, effizient, systematisch und nachhaltig« voranbringen soll. Ein Netz von weit über 1000 Schulen in 16 Bundesländern ist schon aufgebaut.
Das Projekt soll künftig ohne Unterstützung der Stiftung fortgeführt werden.
Bertelsmann bietet neue Steuerungsmodelle etwa für öffentliche Bibliotheken, den »Bibliothekindex«, die »Bibliothek 2007«, und last but not least baut die Stiftung eine Deutsche Internetbibliothek auf. Bertelsmann legt Studien zum demographischen Wandel vor. Das Ergebnis ist immer das gleiche, die sozialen Sicherungssysteme bluten angesichts der Überalterung aus, private Vorsorge ist die Rettung. Die Stiftung führte etwa am 20. November 2006 in Berlin zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds IWF hochrangig besetzte Symposien über die Situation der öffentlichen Finanzen durch. Ergebnis: Wir brauchen eine Neuverschuldung von null, etwas anderes kann sich niemand mehr leisten. Die Bertelsmann Stiftung verfolgt die Idee eines Niedriglohnsektors, sie war an der Ausgestaltung des früheren Bündnisses für Arbeit, der Agenda 2010 und von Hartz IV (wenn auch nur indirekt, aber doch prägend) beteiligt.113
Die Bertelsmann Stiftung hat es vermocht, ein enges personelles und organisatorisches Netz zu einflussreichen Personen aus Kultur, Wissenschaft und Politik bis zu den Bundespräsidenten, vor allem zu Roman Herzog und Horst Köhler, zu knüpfen. Bei Bertelsmann absolvierten Schröder, Fischer, Merkel pünktlich ihre Antrittsbesuche.
Und es ist ja nicht unter der Decke geblieben, dass die beiden Grandes Dames des deutschen Medienwesens, Liz Mohn und Friede Springer, in freundschaftlicher Verbundenheit zu Angela Merkel stehen. Von der Stiftung stammt die Idee eines europäischen Außenministers, und sie nimmt sich auch der europäischen Militärpolitik im Sinne der Verteidigung europäischer »Interessen« an. Bertelsmann lädt zusammen mit dem österreichischen Bundeskanzler zum Salzburger Dialog. Bertelsmann organisierte die 30-Millionen-Kampagne »Du bist Deutschland« mit.
Sicher, Bertelsmann stand nicht allein, da waren die Arbeitgeberverbände, da war die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, da war der BürgerKonvent und wie die zahllos gewordenen, vom großen Geld finanzierten PR-Agenturen auch alle heißen mögen.
Aber keine dieser Institutionen war so wirkmächtig wie die Bertelsmann Stiftung.
Methoden der »Überzeugungsarbeit«
Die Methoden, die Bertelsmann und das CHE für ihre »Überzeugungsarbeit« einsetzen, sind im Großen und Ganzen immer dieselben:
Gutachten, Konferenzen, Umfragen und besonders beliebt sind Rankings und Benchmarks. So veranstaltet die Stiftung seit Jahren ein Standort-Ranking, und regelmäßig landet Deutschland auf dem letzten Platz. Und regelmäßig ist die Schlussfolgerung, Deutschland braucht weniger Staat, eine Senkung der Staatsquote, einen Umbau des Sozialstaats, niedrigere Löhne und vor allem niedrigere Lohnnebenkosten, Deregulierung und vor allem weniger Kündigungsschutz.
Mit dem wesentlich von der Stiftung getragenen »Centrum für angewandte Politikforschung« (CAP) mit seinem Direktor und ehemaligen Stiftungs-Vorstandsmitglied Werner Weidenfeld verschaffte sich Bertelsmann weiteres internationales Renommee.
Nahezu alle Aktivitäten stehen im Dienste des Bertelsmannschen Verständnisses von der Förderung des »Gemeinwohls«, und das heißt konkret zur Förderung des »gesellschaftlichen Wandels« und von »Reformen« in allen gesellschaftlichen Bereichen.
Dies alles gemäß der Bertelsmannschen »Überzeugung, dass Wettbewerb« und »die Prinzipien unternehmerischen Handelns zum Aufbau einer zukunftsfähigen Gesellschaft« die wichtigsten Merkmale sind. Indem »die Grundsätze unternehmerischer, leistungsgerechter Gestaltung in allen Lebensbereichen zur Anwendung gebracht werden«, soll das Regieren besser werden, und das wiederum alles stets nach dem Prinzip »so wenig Staat wie möglich«.
Privatisierung der Politik
Manche Stimmen halten die Kritik am Einfluss von Bertelsmann für überzogen oder tun sie gar als Verschwörungstheorie ab. Etwa weil sie einwenden, die Bertelsmann Stiftung habe doch nichts mit der Unternehmenspolitik Bertelsmann AG und schon gar nichts mit den von diesem Konzern beherrschten oder beeinflussten Medien zu tun.
Natürlich ist es nach wie vor richtig, dass Bertelsmann die Gesetze nicht selber verabschiedet, sondern dass diese von der Exekutive vorgelegt und vom Parlament verabschiedet werden.
Aber über die Meinungsmacht und über die personellen Netze wird der »Reformmotor« Bertelsmann zur eigenständigen politischen Antriebskraft, der auch außerhalb der Parlamente eine Art Eliten-Konsens schafft – und dabei nebenbei auch noch ein positives Image für den Konzern erzielt.
Es ist das Recht eines jeden Unternehmers, der meint, etwas zur Verbesserung der Gesellschaft beitragen zu können, eine Stiftung zu gründen und Themen bearbeiten zu lassen. Dass sich dabei Gleichgesinnte treffen, wird jeweils unvermeidlich sein. Es ist auch das gute Recht einer jeden Regierung, denjenigen mit einer Politikberatung zu beauftragen, der ihr politisch sympathisch ist. Doch wer öffentliche Aufgaben erfüllt, Gesetze verändern will, die in Gestaltungsrechte und Lebenschancen von Millionen Bürgern eingreift, der muss sich der öffentlichen Auseinandersetzung stellen. Die Mitwirkenden müssen ihre gesellschaftspolitischen und wirtschaftlichen Ziele offenlegen, die Öffentlichkeit muss den Prozess nachvollziehen und erkennen können, wer welchen Einfluss ausübt und welche Konsequenzen das Vorgehen hat. Das geradezu Paradoxe am Verhalten der Bertelsmann Stiftung ist, dass sie zwar überall nach Wettbewerb ruft, diesen Wettbewerb aber bei sich selbst konsequent verhindert.
Nicht nur indem sie lediglich ihre von ihr selbst initiierten Projekte fördert und keine Projektanträge von außerhalb zulässt, also wissenschaftlichen Pluralismus satzungsmäßig ausschließt, sondern indem sie darüber hinaus sich vor keinem Parlament und keinem Rechnungshof, ja nicht einmal vor einem Aufsichtsrat, der wenigstens unterschiedliche Interessen von Kapitalanlegern vertreten könnte, für den Einsatz ihrer Gelder und die damit verfolgten Ziele rechtfertigen muss.
Die Netzwerkarbeit und Projektentwicklung der Bertelsmann Stiftung ist so angelegt, dass sich die Akteure gar nicht mehr mit Gegenmeinungen und Kritik auseinandersetzen, dass sie Kritik in einer Haltung der Selbstgewissheit an sich abprallen lassen und so auftreten, als hätten sie die Richtigkeit und Wahrheit ihrer Konzepte von vornherein und zweifelsfrei erkannt. Das Spektrum der öffentlichen Meinung und der Politik wurde so nicht etwa erweitert, sondern im Gegenteil verengt und in einer Weise kanalisiert, wie es offen ausgewiesene Interessengruppen – wie z.B. Industrieverbände oder PR-Organisationen, wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft – kaum zu erreichen vermögen.
Unter dem Zwang der leeren öffentlichen Kassen und unter dem beschönigenden Etikett eines »zivilgesellschaftlichen Engagements« greift der Staat die »gemeinnützigen« Dienstleistungen privater Think-Tanks nur allzu gerne auf. Noch mehr, er zieht sich aus seiner Verantwortung immer mehr zurück und überlässt wichtige gesellschaftliche Bereiche den Selbsthilfekräften bürgerschaftlichen Engagements. Demokratisch legitimierte Macht im Staate wird so mehr und mehr durch Wirtschaftsmacht zurückgedrängt, ja sogar teilweise schon ersetzt. Aus privaten Netzen und Souffleuren der Macht werden tatsächliche Machthaber.
So hat sich inzwischen eine private institutionelle Macht des Reichtums herausgebildet, die streng hierarchisch organisiert ihren Einfluss über das gesamte politische System ausdehnt und die Machtverteilung zwischen Parteien, Parlamenten und Exekutive unterwandert und gleichzeitig die öffentliche Meinung prägt.
Diese Art von »Zivilgesellschaft« befördert nicht nur die zunehmende materielle Ungleichheit zwischen Arm und Reich, sondern dieser Weg schließt – anders als das im Modell des Mehrheitsprinzips in der Demokratie vorgesehen ist – vor allem die große Mehrheit der weniger wohlhabenden Bevölkerung mehr und mehr von der politischen Teilhabe und von der Gestaltung ihrer gesellschaftlichen Zukunft aus.
Die Timokratie – eine Herrschaft der Besitzenden – droht die Demokratie abzulösen.
Und dieser schleichende Systemwechsel vom demokratischen Wohlfahrtsstaat zur Herrschaft des großen Geldes, wird sogar noch mit dem Pathos von »mehr Freiheit« vorangetrieben.
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