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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Eurozone stabilisieren
Datum: 4. Juli 2011 um 9:31 Uhr
Rubrik: Banken, Börse, Spekulation, Euro und Eurokrise, Europäische Union, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Wolfgang Lieb
Nach mehr als einem Jahr Anti-Krisenpolitik und „Griechenland-Rettung“ stehen die EU-Instanzen und die Bundesregierung vor dem Scherbenhaufen ihrer neoliberalen Spardiktate-Politik. Trotz der Sanierungsversuche hat sich die Situation in den südeuropäischen Krisenländern (und teilweise Irland) nicht verbessert, die Staatsschuldenquoten steigen und die Verunsicherung hat weiter zugenommen. Zwei Gründe sind dafür neben anderen besonders wichtig: Erstens stürzen die Krisenländer wegen der ihnen aufgezwungenen drakonischen „Sparmaßnahmen“ in die Rezession, was Arbeitsplätze, Masseneinkommen und Steuereinnahmen wegbrechen lässt. Zweitens sind die an die Rettungskredite gebundenen Zinsen von fünf bis sechs Prozent viel zu hoch und von den Ländern objektiv nicht leistbar. Von Werner Schieder MdB
Die immer wieder vor allem von der deutschen Diskussion angefachten Befürchtungen um eine Staatspleite lösen immer neue Risikoaufschläge für die Staatsanleihen der Krisenländer aus. Im Zusammenspiel mit den Ratingagenturen, den „Wetten“ spekulativer Anleger (Kreditversicherern – CDS), der tatsächlichen Flucht aus Staatsanleihen und dem wirtschaftlichen Absturz der Krisenländer wird das Vertrauen auch seriöser Anleger zerstört, das durch die Rettungskredite doch zurückgewonnen werden sollte. Mit immer neuen Sparauflagen wird vor allem Griechenland nicht „gerettet“, sondern in den wirtschaftlichen Abgrund gestoßen. Einerseits werden mit Rettungskrediten „Garantien“ für die Staatsanleihen der Krisenländer ausgesprochen, anderseits werden diese Garantien faktisch dauernd widerrufen, indem ihre Fortführung permanent infrage gestellt oder offen gelassen wird. Widersprüchlicher könnte die europäische Politik nicht sein!
Millionen Menschen leiden unschuldigerweise unter der Politik der Troika (Kommission, Europäischer Rat, Europäische Zentralbank), die die Krisenländer faktisch wie ein Protektorat behandelt und zum Übungsgelände für knallharte neoliberale Strategien (Deregulierung, Liberalisierung, Sozialabbau, Lohndruck, Privatisierung) degradiert und unabsehbare Folgen für die Akzeptanz europäischer Politik heraufbeschwört.
In der deutschen Debatte werden tatsächliche oder vermeintliche Schwächen der griechischen Wirtschaft und der dortigen Verwaltung zur Ursache der Krise hochstilisiert und eine abschätzige Haltung gegenüber Griechenland geschürt, die nationalistischen Ressentiments gleichkommt, ein Vorgang, der seinesgleichen sucht und den die deutsche Politik über sechs Jahrzehnte zu vermeiden wusste.
Die „Troika“ und noch stärker die Bundesregierung fordern von den Krisenländern drakonisches Sparen, gleichzeitig soll für die künftige Krisenprävention der haushaltspolitische „Stabilitäts- und Wachstumspakt“ verschärft werden (so genannte Rehn-Vorschläge), denn aus der Sicht dieser Akteure liegt die Ursache der Staatsschuldenkrise in der „nachlässigen Haushaltspolitik“ der Krisenländer. Dieser Ansatz ist völlig falsch, denn er leugnet die entscheidenden Krisenursachen und verdreht schlicht Ursache und Wirkung. Nicht die unregulierten Finanzmärkte und ihre Akteure, die die Finanzkrise ausgelöst haben, sind in dieser Interpretation schuld, sondern die Staaten, die Politiker! Die Staaten, die eben die Finanzmärkte vor dem Zusammenbruch mit viel Geld gerettet haben, werden mit dieser Verdrehung auf die Anklagebank gesetzt!
In allen Mitgliedsländern der Währungsunion sind die Staatsausgabenquoten bis zum Ausbruch der Finanzkrise nur moderat gestiegen. In einigen der jetzigen Krisenländer sanken die Staatsschuldenquoten sogar drastisch. Von einer „nachlässigen Haushaltspolitik“ kann keine Rede sein. In Griechenland mit einer traditionell höheren Staatsschuldenquote (bei 100 Prozent) lag und liegt das Problem in einer extrem niedrigen Steuereinnahmequote mit administrativen Schwächen der Steuererhebung im Hintergrund.
Die Hauptursache für den Defizitanstieg seit 2007 liegt eindeutig im Ausbruch der Finanzkrise. Die nationalen Regierungen mussten mit Schutzschirmen für den Finanzsektor und die abstürzende Privatwirtschaft mittels staatlicher Schulden reagieren. Wo die Finanzblase gekoppelt war mit Immobilienblasen (Irland, Spanien, z. T. Griechenland), schlug der staatliche Finanzaufwand bzw. die wegbrechenden Steuereinnahmen besonders zu Buche. Vom anschließenden weltweiten Aufschwung konnten die Krisenländer wegen geschwächter Wettbewerbsfähigkeit nicht profitieren.
Diese Ursache-Wirkungs-Kette verweist auf die Notwendigkeit, den Finanzsektor und die hohen Geldvermögen stärker an der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte zu beteiligen (z. B. Finanztransaktionssteuer)
Ein Anstieg der Defizite bzw. der Staatsschuldenquoten ist jedoch für sich gesehen kein Grund, um Zweifel an der Schuldentragfähigkeit eines Landes aufkommen zu lassen. Das Problem liegt darin, dass die Krisenländer eine hohe Auslandsverschuldung aufweisen, weil nicht nur der Staatssektor, sondern auch der Privatsektor verschuldet ist (= Leistungsbilanzdefizit). Deutschlands Staatsschuld liegt bei zwei Billionen Euro, das Geldvermögen der Privaten beträt aber fünf Billionen Euro; die Refinanzierungsmöglichkeiten bei den eigenen Bürgern sind unzweifelhaft. Bei den Krisenländern ist es umgekehrt. Die dortigen Refinanzierungsprobleme sind zwar durch Spekulationsaktivitäten verschärft worden, haben aber einen realen Grund: weil die Staatsschulden einem ebenso verschuldeten Privatsektor gegenüberstehen, stellt sich irgendwann die Frage nach der Schuldentragfähigkeit. Das ist das entscheidende Problem der Leistungsbilanzdefizitländer.
Diesen stehen in der Eurozone einige Länder mit extremen Leistungsbilanzüberschüssen gegenüber (Deutschland, einige kleinere Länder). Die Ursache dieser Ungleichgewichte, wie sie in den letzten zehn Jahren entstanden sind, liegt in der unterschiedlichen Entwicklung der Wettbewerbsfähigkeit. Während Deutschland deutlich an Wettbewerbsfähigkeit gewann, verloren die Krisenländer zunehmend an Wettbewerbsfähigkeit.
Diese „Wettbewerbslücke“ gründet entgegen allgemeiner Vorurteile nicht auf einer besonderen Innovationsfreudigkeit Deutschlands einerseits und der Produktivitätserlahmung Griechenlands bzw. anderer Krisenländer andererseits. Denn die Produktivität ist in Deutschland jährlich um 0,9 Prozent, in der Eurozone um 0,8 Prozent und in Griechenland immerhin um 2,1 Prozent gestiegen. Die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands und das Zurückfallen Südeuropas lief ausschließlich über die Löhne und – weil die Lohnstückkosten das interne Preisniveau dominieren – über die Preise. In Südeuropa stiegen die Lohnstückkosten um bis zu 30 Prozent, in Deutschland dagegen unter fünf Prozent, wobei hier die Ausweitung des Niedriglohnsektors eine besondere Rolle spielte. Den Normalanstieg – Produktivität plus Zielinflationsrate – repräsentiert Frankreich mit einer Erhöhung um gut 20 Prozent.
Werden Überschüsse und Defizite immer weiter kumuliert, führt dies zum Aufbau von Gläubiger-Schuldner-Verhältnissen, die nicht dauerhaft tragfähig sind. Gibt es hier keine Umkehr, führt an der Entwertung der Gläubigerpositionen kein Weg vorbei, denn irgendwann werden die Schuldner zahlungsunfähig.
Hier liegt der entscheidende Konstruktionsfehler der Währungsunion, nämlich in der Nicht-Koordination der makroökonomischen Größen: Leistungsbilanzen, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Lohn- und Inflationsanpassung.
Dass die Auseinanderentwicklung bei Lohnzuwächsen und Wettbewerbsfähigkeit zu einem ernsten Problem wurde, hat seinen Grund in der Existenz der Währungsunion, deren Charakteristikum ist, dass kein Mitgliedsland mehr auf- oder abwerten kann: Obwohl Griechenland und die anderen Südeuropäer höhere Inflation und Leistungsbilanzdefizite haben, können sie nicht abwerten, weil sie in der Eurozone sind. Andernfalls würden sich diese Defizite so gar nicht herausgebildet haben! Obwohl Deutschland eine interne Inflationsrate unterhalb des EZB-Ziels und andauernd hohe Leistungsbilanzüberschüsse hat, kann Deutschland nicht aufgewertet werden, weil es in der Eurozone ist. Andernfalls hätten die hohen Überschüsse wegen anhaltender Aufwertung gar nicht entstehen können!
Die bisherigen Lösungsansätze zur Überwindung der Krise der Eurozone sind gescheitert. Mit kurzatmigen reflexartigen Beschlüssen und Entscheidungen von Fall-zu-Fall, die immer offen lassen, ob die nächsten Rettungsschritte getan werden oder nicht, kommt man nicht weiter. Eine vernünftige Anti-Krisen-Strategie muss langfristig angelegt sein. Sie hat auf zwei Ebenen anzusetzen: Einerseits muss die Refinanzierung der Krisenländer ein für allemal sichergestellt und die Staatsanleihen dauerhaft – für immer – gewährleistet werden. Zum andern müssen Maßnahmen auf der realwirtschaftlichen Ebene für ausreichendes Wachstum sorgen, welches die Konsolidierung der Leistungsbilanzungleichgewichte (Auslandsverschuldung) ebenso unterstützen kann wie die Konsolidierung der Staatshaushalte.
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