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Titel: Ausweg aus der Hölle
Datum: 26. Juni 2023 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Aufrüstung
Verantwortlich: Redaktion
Noch nie war die Gefahr eines Atomkriegs so hoch wie heute. Während Thinktanks bereits das Unmögliche denken und die Politik sich in eine „Logik“ des Aufrüstens und Eskalierens begeben hat, ist es Zeit innezuhalten und über das Konzept des Disengagements, des Auseinanderrückens der Blöcke, nachzudenken. Das sagt Oskar Lafontaine in einem lesenswerten Artikel in der Weltwoche, den wir unseren Lesern mit freundlicher Erlaubnis der Weltwoche gerne weitergeben wollen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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In seinem letzten Interview sagte der am 16. Juni verstorbene Whistleblower Daniel Ellsberg: „Ich verlasse eine Welt, die sich in einem schrecklichen Zustand befindet und die überall dort schrecklich ist, wo ich versucht habe, sie besser zu machen. Joe Biden hat recht, wenn er sagt, dass es hinsichtlich eines Atomkrieges die gefährlichste Zeit seit der Kubakrise ist.”
Den Westen zur Vernunft bringen
Die Kubakrise weist aber auch den Weg aus dieser Gefahr. US-Präsident Kennedy und der sowjetische Generalsekretär Chruschtschow vereinbarten damals, dass die UdSSR ihre Raketen in Kuba abbaut und im Gegenzug die USA ihre zuvor in der Türkei stationierten Raketen ebenfalls entfernt. Heute sollten sich die beiden Atommächte, USA und Russland, an einem Politikkonzept orientieren, das der US-Außenpolitiker George Kennan schon 1957 in einer Vortragsreihe für die BBC entwickelt hat. Der Vater der Politik des Containments zur Eindämmung der Sowjetunion regte an, eine Politik des Disengagements, des Auseinanderrückens der Blöcke, folgen zu lassen. Um Spannungen abzubauen, sollten sowohl die NATO als auch der Warschauer Pakt ihre Truppen und militärischen Einrichtungen Schritt für Schritt aus Mitteleuropa zurückziehen.
Diesem Konzept folgend, sollte Russland jetzt keine Atomraketen in Belarus stationieren, und die USA sollten ihre Raketenbasen in Polen und Rumänien abbauen und die Aufnahme der Ukraine in die NATO nicht weiterverfolgen. Stattdessen sollten Sicherheitsgarantien für das zerstörte Land ausgehandelt werden. Diese Politik des Disengagements wäre eine wirkliche Zeitenwende und würde die Gefahr eines Atomkriegs verringern.
Für Aufregung hatte der Aufsatz des russischen Politologen Sergei Karaganow gesorgt, der dem Kreml empfahl, die Schwelle für den Einsatz von Atomwaffen zu senken, um die USA und ihre Verbündeten zum Einlenken im Ukraine-Krieg zu zwingen. Die Angst vor einem Atomkrieg müsse zurückkehren, weil die Menschheit sonst dem Untergang geweiht sei, und wenn der Westen nicht nachgebe, müsse Russland „eine Reihe von Zielen in einer Reihe von Ländern angreifen, um diejenigen, die ihren Verstand verloren haben, zur Vernunft zu bringen”.
Im Gegenzug schlug das American Enterprise Institute vor, „der Ukraine taktische Atomwaffen zur Verfügung zu stellen, ohne zu kontrollieren, wo und wie die Ukraine sie einsetzen könnte. Die Nichtverbreitungsmafia wird vor Empörung aufheulen, aber der Westen muss seine Nuklearpolitik an der Realität ausrichten.” Und um ebenfalls zu belegen, dass die Gefahr eines Atomkrieges wächst, wies ein russischer Oberst in der berüchtigten Solowjow-Talkshow darauf hin, dass die ersten F-16, die der Ukraine geliefert werden sollen, aus Belgien und Dänemark stammen und atomwaffenfähig sind. Woher sollte Russland wissen, welche Waffen diese F-16 tragen, wenn sie gegen die russischen Truppen eingesetzt würden?
Wenig beruhigend wirken ebenso die Ausführungen des russischen Präsidenten Wladimir Putin auf der internationalen Wirtschaftskonferenz in St. Petersburg. Zu den taktischen Atomwaffen meinte er: „Wir haben mehr solche Waffen als die Nato-Länder. Sie wissen das und drängen uns die ganze Zeit dazu, dass wir Gespräche über die Reduzierung anfangen. Scheiß drauf, verstehen Sie, wie man bei uns im Volk sagt.” Das Dementi seines Sprechers Dmitri Peskow, „Russland ist bereit, Verhandlungen zu führen”, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass Putin zurzeit wenig Interesse zeigt, sich wieder auf Gespräche mit dem Westen einzulassen.
Nach dem Scheitern der Verhandlungen im Frühjahr 2022 aufgrund der Intervention des britischen Premierministers Boris Johnson und nach den öffentlichen Eingeständnissen des ehemaligen ukrainischen Präsidenten Poroschenko, des ehemaligen französischen Präsidenten Hollande und der ehemaligen Bundeskanzlerin Merkel, man habe Putin bei den Minsker Verhandlungen getäuscht und über den Tisch gezogen, um der Ukraine Zeit für weitere Aufrüstung zu geben, ist sein geringes Interesse, neue Friedensverhandlungen zu führen, zwar nachvollziehbar, aber die Gefahr eines Atomkriegs lässt keinen Raum für solche Befindlichkeiten.
Liebe deine Mitmenschen
Russlands Präsident Putin ist genauso in der Verantwortung, ein atomares Inferno zu verhindern, wie der anfangs zitierte US-Präsident Joe Biden. Und wenn Karaganow schreibt: „Der Allmächtige übergab der Menschheit die Waffen des Armageddon, um denen, die die Angst vor der Hölle verloren haben, zu zeigen, dass diese existiere”, so ist ihm entgegenzuhalten: Der Allmächtige gab der Menschheit auch die Liebe zu den Mitmenschen und die Fähigkeit zur Vernunft, um der Hölle zu entkommen. Die Wiederaufnahme der Politik des Disengagements wäre eine wirkliche Zeitenwende.
Titelbild: metamorworks/shutterstock.com
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