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Titel: Ukrainekrieg – trauert der Westen der ausgeschlagenen Verhandlungslösung nach?
Datum: 19. Juni 2023 um 12:44 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast
Verantwortlich: Jens Berger
Diesmal waren es sieben afrikanische Staatschefs, die mit ihrem Friedensplan zunächst in der Ukraine und dann in Russland auf taube Ohren stießen. Beide Seiten scheinen zur Zeit kein Interesse an einer Verhandlungslösung zu haben. Das war mal anders. Am Rande des Treffens mit den afrikanischen Staatschefs erinnerte Russlands Präsident Putin an das damals fast unterschriftsreife ukrainische Waffenstillstandsangebot aus dem April letzten Jahres, das jedoch vom Westen torpediert wurde. Hätte man das Angebot damals umgesetzt, wäre beiden Ländern nicht nur viel Leid erspart geblieben; die damals von beiden Seiten akzeptierten Rahmenbedingungen waren vor allem für die ukrainische Seite wesentlich mehr, als man künftig in einem Friedensabkommen herausholen wird. Der Westen hat sich verpokert. Oder nicht? Von Jens Berger.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Drehen wir die Uhren auf den April 2022 zurück. Nach langen Verhandlungen erarbeiteten die beiden Kriegsparteien in Istanbul ein Waffenstillstandsabkommen, das von ukrainischer Seite und von russischer Seite als „substanziell“ gesehen wurde und sehr gute Chancen auf Verwirklichung hatte. Inhaltlich sah das Abkommen seitens Russlands einen sofortigen Rückzug der Truppen aus dem Oblast Tschernihiw und der Gegend um die ukrainische Hauptstadt Kiew vor. Die Ukraine sollte sich im Gegenzug dazu verpflichten, abzurüsten, ihre Pläne auf eine NATO-Mitgliedschaft aufzugeben und keine Atomwaffen anzustreben. Im Gegenzug wurde der Ukraine die Perspektive auf einen EU-Beitritt eingeräumt, und dem Land sollten durch Russland, Großbritannien, China, die USA, die Türkei, Frankreich, Kanada, Italien, Polen und Israel Sicherheitsgarantien gegeben werden. Offen war zu diesem Zeitpunkt nur noch die Frage der territorialen Abtretungen. Neben der Krim war die Ukraine offenbar bereit, die als „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk kurz vor der Invasion von Russland anerkannten Territorien abzutreten. Auf diese Positionen sollte sich die russische Armee nach dem Friedensschluss endgültig zurückziehen. Auch wenn das damalige Arbeitspapier bis heute geheim ist, werden dessen Inhalte im Kern von der russischen sowie der westlichen Seite bestätigt.
Leider kam es jedoch nie zur Unterschrift. Russland zog seine Truppen – wie im Papier gefordert – aus der Region Kiew ab; ob freiwillig, wie Putin heute behauptet, oder aus militärischer Notwendigkeit, ist schwer zu sagen. Offiziell gilt für den Westen das nach dem Rückzug entdeckte „Massaker von Butscha“ als Grund dafür, dass die Verhandlungen seitens der Ukraine kurze Zeit später abgebrochen und nie wieder aufgenommen wurden. Andere Quellen behaupten, dass der Westen in Gestalt des damaligen britischen Premiers Boris Johnson die Ukraine unter Druck gesetzt hätte. Russland wiederum sah sich von der Ukraine getäuscht und insinuiert, dass der Westen der Ukraine zu diesem Zeitpunkt mit dem Versprechen der massiven Unterstützung durch schwere Waffen und militärische Hilfe erst die Idee in den Kopf setzte, man könne den Krieg sogar militärisch gewinnen. Vielleicht ist es eine Mischung aus diesen drei Dingen. Fest steht, dass die Ukraine kurz nach dem Abbruch der Verhandlungen die ersten High-Tech-Waffensysteme wie das HIMARs-System aus den USA bekam und auch von Gebieten aus, aus denen die russischen Truppen sich kurz zuvor zurückzogen, in die Offensive ging. Das Waffenstillstandsabkommen war gescheitert, ein Frieden am Verhandlungstisch war seit diesem Zeitpunkt für beide Seiten keine Option mehr.
Was folgte, waren Offensiven und Gegenoffensiven, neue Waffenlieferungen und letztlich eine „Dynamik“, die an den festgefahrenen Grabenkrieg an der Westfront im Ersten Weltkrieg erinnert, und das bis heute – die gescheiterte ukrainische „Gegenoffensive“ ist dafür das beste Beispiel. Ihr werden noch viele Offensiven und Gegenoffensiven folgen, die nur wenige Kilometer Land, dafür aber sehr hohe Zahlen an menschlichen Opfern auf beiden Seiten bringen. Auch hier kann die Westfront des Ersten Weltkriegs ab 1916 als Vorlage gelten. Am Ende wurde der Krieg an der „Heimatfront“ entschieden – nach Millionen von Toten.
Dies alles hätte im April 2022 verhindert werden können. Niemand wird heute ernsthaft glauben, dass die Ukraine jemals die territorialen Forderungen Russlands auf der Krim und im Kerngebiet der „Volksrepubliken“ Luhansk und Donezk wird verhindern können. Mit den völkerrechtlich ungültigen Scheinreferenden Ende September 2022 hat Russland ohnehin seine territorialen Ambitionen deutlich erweitert – nun geht es um die Krim und die gesamten Oblaste Luhansk und Donezk und dazu noch die Oblaste Cherson und Saporischschja, wobei Russland die genaue Grenzziehung der formal bereits annektierten Regionen offenlässt. Dies entspricht auch ungefähr der momentan festgefahrenen Frontlinie. Dass für Russland auch die Abrüstung und der Verzicht auf eine NATO-Mitgliedschaft der Ukraine nicht verhandelbar sein dürften, versteht sich von selbst. Und da kein Krieg ewig dauert, wird es irgendwann zu einem Friedensvertrag kommen, der jedoch für die Ukraine schlechter als der Vertragsentwurf aus dem April 2022 aussehen wird.
Im April 2022 standen lediglich die rot markierten Gebiete als territoriale Abtretungen im Raum. Seit September 2022 sind die orangenen Gebiete hinzugekommen.
Die Intervention des Westens hat also auch für die Ukraine nichts außer Leid gebracht und wird auf Gebietsverluste hinauslaufen, die im April 2022 hätten vermieden werden können. War der Westen derart optimistisch, dass er wirklich geglaubt hat, die Ukraine könne Russland militärisch bezwingen? Selbst wenn dem damals so war, ist doch heute offensichtlich, dass dieser überzogene Optimismus eine Fehleinschätzung war. Was will der Westen heute eigentlich? Einen jahrelangen Stellungskrieg, der nicht nur Hunderttausende Ukrainer und Russen das Leben kosten würde, sondern auch die finanziellen Mittel des Westens und den Rückhalt der westlichen Regierungen in ihrer eigenen Bevölkerung überstrapaziert?
Oder gibt es im Umfeld der westlichen Regierungen vielleicht Realisten, die heute der vergebenen Chance nachtrauern, einen Frieden zu schließen, bei dem beide Seiten ihr Gesicht gewahrt hätten und der nicht nur der Ukraine eine langfristige Perspektive gegeben hätte, sondern sogar die Chance auf eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa geboten hätte? Letzteres sollte im Interesse der Europäer sein; die USA – und wohl auch Großbritannien – sehen diesen Punkt anders, profitieren sie doch relativ davon, wenn sich zwei ihrer Konkurrenten, Kontinentaleuropa und Russland, auf einen langen, beide Seiten schwächenden Krieg einlassen. Daher sollte man das Scheitern im April 2022 auch als Chance begreifen – für eine neue Vermittlungsoffensive für einen Friedensvertrag; nur diesmal sollte man besser die Vertreter der USA und Großbritanniens außen vor lassen.
Titelbild: vchal/shutterstock.com
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