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Titel: Ecuador zwischen Hoffnung, Gewalt und Verfassungskrise
Datum: 18. Juni 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Wahlen
Verantwortlich: Redaktion
Am 17. Mai 2023 ist Ecuadors rechtsgerichteter Präsident Guillermo Lasso durch Auflösung des Parlaments buchstäblich im letzten Moment der eigenen Amtsenthebung durch eben jenes Parlament entgangen. Konsequenz des von ihm verfügten Mechanismus der „Muerte Cruzada“ ist, dass neben dem Parlament auch der Präsident am 20. August dieses Jahres neu gewählt wird. Eine eigene Kandidatur hat Lasso bereits selbst ausgeschlossen. Sollte es zu einem zweiten Wahlgang kommen, bleiben ihm nun bis zu sechs Monate ohne parlamentarische Kontrolle, um seinen neoliberalen Kurs zu verschärfen. Erste Maßnahmen deuten darauf hin. Von Timm B. Schützhofer.
Die Karten für die Zeit nach der Regierung Lasso werden neu gemischt. Das Kandidatenkarussell nahm schnell an Fahrt auf. Mit Spannung erwartet wurden die Kandidaturen für die Revolución Ciudadana von Ex-Präsident Rafael Correa.
Glas verzichtet, Revolución Ciuadana strebt mit Luisa Gonzalez zurück in die Regierungsverantwortung
Einen Tag, nachdem er seine politischen Rechte zurückerhalten hatte, wurde Ecuadors ehemaliger Vizepräsident Jorge Glas Espinel beim Parteitag der Revolución Ciudadana mit Ovationen empfangen. Per Akklamation wurde ihm auch die Kandidatur angetragen, mit Luisa González als Kandidatin für die Vizepräsidentschaft. Glas lehnt jedoch ab, da die politisch-justizielle Verfolgung gegen ihn weitergehe.
Wie amerika21 seinerzeit berichtete, waren Glas nach Kritik an Lenín Moreno alle Aufgaben entzogen worden. Kurze Zeit später sah er sich mit mehreren Anklagen konfrontiert. In umstrittenen Gerichtsverfahren wurde er wegen den Vorwürfen der Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung, Bestechung und Betrug zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. Glas hat die Vorwürfe stets bestritten und sieht sich als Opfer politischer Verfolgung.
Unterstützer der Revolución Ciudadana und führende Juristen sehen ihn als Opfer des sogenannten Lawfare. Während seiner Haftzeit bekam Glas wiederholt Morddrohungen und musste häufig verlegt werden. Seine Haftbedingungen wurden auch von der Interamerikanischen Menschenrechtskommission kritisiert.
Glas erklärte nun, dass er persönlich bereits vergeben habe. Es dürfe nicht um persönliche Projekte gehen, und er wolle den Wahlerfolg bei den kommenden Wahlen nicht riskieren. Sein Vorschlag, Luisa Gónzales als Kandidatin für die Präsidentschaft und Andrés Arauz für die Vizepräsidentschaft zu nominieren, stieß auf einhellige Zustimmung im Parteipräsidium und bei den Delegierten.
Über eine Kandidatur der ehemaligen Abgeordneten González war verstärkt spekuliert worden, nachdem sie von Correa neben anderen Politikerinnen wie Marcela Holguín und Paola Cabezas als mögliche Kandidatin genannt wurde.
Bevor sie 2021 zur Abgeordneten gewählt wurde, begann Gónzalez ihre Laufbahn 2016 als Unterstaatssekretärin für öffentliche Verwaltung, war unter anderem Konsulin im spanischen Alicante und Generalsekretärin und Vizeministerin für Tourismus und Arbeit.
Der 2021 in der Stichwahl unterlegene Andrés Arauz kann auf akademische Meriten und wichtige administrative Erfahrungen in Regierungsämtern verweisen. Der 38-jährige Ökonom und Finanzexperte war gerade dabei, in Finanzwissenschaften an der Nationalen Autonomen Universität von Mexiko zu promovieren. Er arbeitete bereits als Koordinierungsminister für Wissen und menschliches Talent und Kulturminister, als Mitglied im Direktorium der Zentralbank und Unterstaatssekretär in der Planungs- und Entwicklungsbehörde.
Muerte Cruzada
Das Mittel der Muerte Cruzada wurde mit der Verfassung der Revolución Ciudadana 2008 als institutioneller Mechanismus eingeführt, um wiederkehrende Phasen politischer Instabilität und die Praxis verfassungswidriger Präsidentenstürze zu überwinden. In der politischen Krise 2023 wurde dieser auch von progressiven Kommentaren als willkommener Ausweg aus der politischen und sozialen Krise des Landes und Alternative zu einem parlamentarischen Amtsenthebungsverfahren betrachtet.
Auch Vertreter:innen der Revolución Ciudadana brachten die Möglichkeit ins Spiel, dann aber auf Initiative des Parlaments. Hierfür die notwendige Zweidrittelmehrheit zu erreichen, musste jedoch als weit weniger realistisch gelten für eine Absetzung wegen Amtsmissbrauchs und Korruption. Diese hätte keine Neuwahlen nach sich gezogen, und Lassos bisher kaum in Erscheinung getretener Vizepräsident Alfredo Borrero hätte die Amtsgeschäfte weitergeführt.
Ein politischer Richtungswechsel hätte bis nach den Wahlen 2025 warten müssen. Als Lasso zum Mittel der Muerte Cruzada griff, stand er mit dem Rücken zur Wand. Die allem Anschein nach teils mit unlauteren Mitteln geführten Verhandlungen mit einzelnen Abgeordneten, um eine Zweidrittelmehrheit gegen ihn zu verhindern, waren gescheitert. Lasso hatte bereits während des Amtsenthebungsverfahrens mit der Muerte Cruzada gedroht.
Fragwürdig ist allerdings, ob die Nutzung des Mechanismus durch Lasso den verfassungsrechtlichen Regeln entsprach. Er nutzte ihn kurz vor Abschluss des Impeachment-Verfahrens, um einer bevorstehenden Amtsenthebung zu entgehen. Als Grund hatte er zunächst „eine tiefe politische Krise und sozialen Aufruhr” genannt, was offensichtlich nicht den Tatsachen entsprach. Später behauptete er, es sei ihm darum gegangen, einen „makabren Plan” von Ex-Präsident Correa zu stoppen, um die Macht in den Staatsapparaten an sich zu reißen.
Correa und andere Vertreter:innen der Revolución Ciudadana bezeichneten das Vorgehen Lassos als verfassungswidrig, erklärten aber auch ihre Bereitschaft, die Entscheidung zu akzeptieren. Noch bevor der Verfassungsgerichtshof auf Einwände gegen Lassos Dekret eingehen konnte, stellten sich bereits Militär und Polizei öffentlich hinter den Präsidenten. Das Verfassungsgericht selbst erklärte sich schließlich für nicht zuständig und setzte damit einen problematischen Präzedenzfall, der das Machtgleichgewicht zwischen Exekutive und Legislative in Frage stellt und parlamentarische Amtsenthebungsverfahren praktisch unmöglich mach.
Ein „Outsider” als Retter der politischen Rechten?
Zu den Kandidaten der Rechten gehören Lenín Morenos ehemaliger Vizepräsident Otto Sonnenholzner (Avanza) und der eng mit Lasso verbundene und durch seinen scharfen Anti-Correismus auffällig gewordene Abgeordnete Fernando Villavicencio (Construye). Wie toxisch es bei Wahlen sein kann, mit Lasso verbunden zu werden, machte Villavicencio deutlich, als er jedwede Verbindung zu Lasso abstritt. Unklar ist, ob Álvaro Noboa trotz der Kandidatur seines Sohnes Daniel zum sechsten Mal ins Rennen geht.
Die Parteien Partido Sociedad Unida Más Acción (Suma) und Avanza haben am vergangenen Freitag das Bündnis Actuemos geschlossen, das die Kandidatur Sonnenholzners unterstützen wird.
Zu den besonders kontrovers diskutierten Kandidaten der politischen Rechten gehört der Sicherheitsunternehmer Jan Topic, der für die Partido Social Cristiano (PSC) ins Rennen geschickt wird. Mit Topic setzt die PSC auf das Thema Kriminalitätsbekämpfung durch eine Politik der harten Hand. „Im Hinblick auf die vorgezogenen Parlamentswahlen in Ecuador ist eine neue Figur auf der Wahlszenerie aufgetaucht. Es handelt sich um Jan Topic Feraud, einen Geschäftsmann aus Guayaquil mit einem breit gefächerten Lebenslauf, der ein Postgraduiertenstudium in Harvard, eine Ausbildung als Scharfschütze und Erfahrung in mehreren Kriegen auf der ganzen Welt umfasst”, berichtet CNN.
Neben der PSC unterstützen die Parteien Sociedad Patriótica und Centro Democrático die Kandidatur von Topic und Diana Jácome.
Ecuadors indigene Bewegung am Scheideweg
Der Politiker und ehemalige Vorsitzende des indigenen Dachverbandes von Organisationen der Kichwa aus dem ecuadorianischen Hochland (Ecuarunari) Yaku Pérez wird erneut bei den Wahlen antreten, allerdings nicht für die Partei Pachakutik. Unterstützt wird er von Unidad Popular, Democracia Sí, Somos Agua und der Partido Socialista.
Ob Pachakutik die Erfolge der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen 2021 und der Regional- und Kommunalwahlen 2023 wiederholen kann, ist mehr als fraglich. Die durch sie ins Parlament gekommenen Abgeordneten paktierten zum Teil mit Lasso und versuchten noch bis zum letzten Moment, das laufende Amtsenthebungsverfahren für eigene Vorteile zu nutzen.
Das Verhältnis zwischen der linksgerichteten Führung der landesweiten indigenen Dachorganisation Conaie um Leonidas Iza und Teilen von Pachakutik ist gestört. Am 1. Juni zog Iza seine erst am 25. Mai erklärte Präsidentschaftskandidatur zurück, da sich Pachakutik nicht an Abmachungen gehalten habe. Die Entscheidung fiel bei einer erweiterten Ratssitzung der Conaie mit Beteiligung der regionalen Organisationen Confenaie, Ecuarunari y Conaice.
Eine der Hauptforderungen der Bewegungsorganisationen bestand darin, Abgeordnete, die Lasso unterstützt haben, nicht erneut aufzustellen. Nach Berichten von Radio La Calle basierte ihr Vorschlag auf der Idee, dass auch feministische Aktivistinnen und Mitglieder der Confederación Nacional de Organisaciones Campesinas Índigenas y Negras (Fenocin) und des Consejo de Pueblos y Organizaciones Indígenas Evangélicos del Ecuador (Feine) auf der Liste von Pachakutik kandidieren sollten. Nun zeigte sich, dass die Partei bereits eine Liste mit eigenen Kandidaten erstellt hatte.
Die Revolución Ciudadana mit guten Chancen
Nach den Erfolgen bei den Regional- und Kommunalwahlen werden der Revolución Ciudadana gute Chancen bei den anstehenden Wahlen eingeräumt, insbesondere für einen Sieg im ersten Wahlgang. Hierfür reichen 40 Prozent der Stimmen und über zehn Prozent Vorsprung vor dem Zweitplatzierten. Dabei könnte der Revolución Ciudadana in die Hände spielen, dass durch den Verzicht von Leonidas Iza wohl kein weiterer linker Kandidat antreten wird.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Amerika21.
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