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Titel: Phrasenwörterbuch – heute: „Solidarität“
Datum: 15. Juni 2023 um 11:14 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Tobias Riegel
Es ist ein gekapertes Wort: Aus einem Begriff der Arbeiterbewegung ist eine Lieblingsvokabel der Mächtigen geworden. Viele Politiker und Journalisten übersetzen das Wort heute (zugespitzt) so: Bürger handeln dann „solidarisch“, wenn sie den Gürtel enger schnallen und die Klappe halten. Die Notwendigkeit der solidarischen Unterwerfung wird oft von einer höheren Gewalt oder „multiplen Krisen“ abgeleitet. Teils wird gar die aktuelle Regierung mit „der Demokratie“ gleichgesetzt, die „solidarisch“ gegen „Hass und Hetze“ zu schützen sei. Ein „Wir“ wird behauptet, das es nicht gibt. Als weitere Akte der Solidarität gelten: Booster-Impfung, Rüstungslieferungen und Lohnzurückhaltung. Von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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In diesem „Wörterbuch der Phrasendrescher“ werden in unregelmäßigen Abständen Modewörter und sprachliche Umdeutungen thematisiert.
Beim Begriff „Solidarität“ liegen Schönheit und Schindluder nahe beieinander. Auch beim jüngsten Kirchentag wurde von Politikern viel von Solidarität geredet, etwa von Kanzler Olaf Scholz im Zusammenhang mit der Verteilung von Flüchtlingen in der EU. Der Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages, Thomas de Maizière, hat laut Medien sein Missfallen über die „Anspruchshaltung“ vieler Menschen in Bezug auf das Arbeitsleben bekräftigt. Seine Losung der Solidarität („alle zusammen“) zielte indirekt auf den enger geschnallten Gürtel:
„Wir müssen alle zusammen mehr arbeiten. Wir müssen mehr ans Gemeinwohl denken. Und wir dürfen nicht nur unsere Bedürfnisse in den Vordergrund rücken.“
Ein „Wir“, das es nicht gibt
Auch de Maizière redet hier – wie viele andere – von einem „Wir“, das es so nicht gibt: Er selber, die Regierung, mächtige Repräsentanten der Wirtschaft und Journalisten, die ihnen nach dem Mund reden und viele andere zählen sich mutmaßlich nicht zu diesem „Wir“ und werden sich an der Pseudo-Solidarität vom „zusammen mehr arbeiten“ nicht beteiligen. Sie sind von dem Verzicht, den sie einfordern, mutmaßlich nicht betroffen. Heute richten sich Appelle der „Solidarität“ also oft an andere (versteckt hinter dem „Wir“) und wie gesagt ist mittlerweile oft „Unterwerfung“, „Anpassung“ und „Verzicht“ damit gemeint: Wer gegen den Regierungskurs ist, handelt „unsolidarisch“, während die andere Seite sogar Militarisierung, Corona-Politik, Zensur („gegen Hass und Hetze“) und soziale Verarmung als Akte der „Solidarität“ verkaufen kann und damit durchkommt, weil die Kritik der großen Medien nicht stattfindet.
Der Begriff „Solidarität“ ist mittlerweile Teil jeder Kitschpropaganda, sei es bezüglich der Ukraine, bezüglich Flutopfern oder Flüchtlingen. Bei Letzteren wandelte sich die damalige regierungsamtliche Soli-Formel vom „Wir schaffen das“ in der Realität oft in ein „Ihr schafft das schon.“ Eine bestimmte Form der Pseudo-Solidarität ist billig zu haben: Man muss nur eine Fahne hissen oder ein „Pride“-Banner auf die Webseite stellen, dann kann man sich auch als Rüstungskonzern „solidarisch“ zeigen, ohne einen Cent ausgeben zu müssen.
Von offizieller und journalistischer Seite wird das Wort nun exzessiv genutzt, um zusätzliche soziale Ungerechtigkeiten und die Militarisierung zu rechtfertigen – auf diesem Feld läuft Vieles unter dem Schlagwort der „Solidarität mit der Ukraine“, etwa „Frieren für die Freiheit“. Selbstverständlich haben auch Kulturstaatsministerin Claudia Roth und die Kulturminister und Kultursenatoren der Länder sowie die Vertreter der Kommunalen Spitzenverbände und der Kulturstiftungen der Länder und des Bundes ihre „uneingeschränkte Solidarität mit der Ukraine“ bekundet. „Uneingeschränkt“ bedeutet in diesem Fall, dass dem auch diktatorische Zustände und Bandera-Kult in der Ukraine nicht im Wege stehen. Auch das Goethe-Institut betont, es sei „uneingeschränkt solidarisch mit der Ukraine angesichts der völkerrechtswidrigen Angriffe Russlands“. Das Schlagwort „uneingeschränkte Solidarität“ bezieht sich wohl auch auf ein Versprechen von Gerhard Schröder von 2002 an die USA:
„Es geht jetzt um die Solidarität mit den Vereinigten Staaten, es geht um die Tatsache, dass Deutschland fest an der Seite der Vereinigten Staaten steht, und uneingeschränkt, ich betone das, uneingeschränkte Solidarität übt. Und damit sind alle im Bundestag vertretenen Parteien einverstanden.“
„Die Pandemie hat zu einer Welle der Solidarität geführt“
Ein Artikel des DGB zum Wort „Solidarität“ ist exemplarisch. Wegen der Wurzeln des Begriffs auch in der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung soll der Text hier beispielhaft betrachtet werden. Zum Wortstamm heißt es dort:
„Die Idee der Solidarität ist uralt – sie ankert im Römischen Recht, entwickelt zwischen dem 5. Jahrhundert vor Christus und dem 3. Jahrhundert nach Christus: Solidus selbst heißt so viel wie gediegen, fest, ‚in solidum‘ hieß es damals: Alle für einen und einer für alle, und beschrieb ein Schuldverhältnis, in dem jeder und alle haften – es gibt eine verbindliche Verpflichtung, eine Gesamtschuld.“
Nachdem Bezüge zur zentralen Rolle des Begriffs „Solidarität“ in den Kämpfen der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert beschrieben und gewürdigt werden, wird das Wort vom DGB in einem Akt der inakzeptablen Umdeutung auf die kritiklose Unterwerfung unter die Corona-Politik angewandt:
„Die Pandemie hat zu einer Welle der Solidarität geführt. Auch wenn diese Bewegung durchsetzt ist mit Querdenkern und Querulanten: Sie sind wenige im Vergleich zu den Millionen, die sich zusammengetan haben, um die Schwachen zu schützen, die Alten, die Vorerkrankten. Und das nicht nur in Deutschland, sondern in den meisten Ländern der Welt.“
Bei Corona wurde der Begriff „Solidarität“ von der Angst-Kampagne gekapert und vollends pervertiert: Einsames Sterben, Schulschließungen, Zensur, sinnlos maskierte Kinder, massiver Druck auf Skeptiker der neuen Impfstoffe – ein Zulassen dieser und vieler anderer unglaublicher Vorgänge galt als solidarisch. Und wehe, man leistete sich eine andere Meinung als die „Solidargemeinschaft“ aus Journalisten, Politikern, Pharmakonzernen und sozialen Netzwerken, aber auch Gewerkschaften, Kirchen, „Zivilgesellschaft“ und so weiter: Die Hetze gegen Andersdenkende in der Corona-Zeit war gespickt mit dem Wort „Solidarität“.
Das Gesundheitsministerium beschreibt die (prinzipiell gute) Idee einer solidarischen Gesundheitsversorgung – wie dieses gute Prinzip in der Realität von Fallpauschalen und zulasten der Steuerzahler durch zugelassene Impf-Beschaffungs-Skandale umgesetzt wird, können die Bürger selber beurteilen. Das Ministerium schreibt:
„Das zentrale Funktionsprinzip des Gesetzlichen Krankenversicherungssystems ist das Solidaritätsprinzip: ‚Die Gesunden helfen den Kranken‘. Alle Versicherten erhalten die gleiche umfassende Versorgung. Alter, Geschlecht oder Krankheitsrisiko spielen bei der Beitragsberechnung im Gegensatz zur Privaten Krankenversicherung keine Rolle. 20 Millionen Menschen sind als Familienangehörige beitragsfrei mitversichert. So besteht auch zwischen Singles und Familien ein Ausgleich.“
„Worin uns’re Stärke besteht …“
Beim Bereich der Rente gibt es Stimmen, die ein (zumindest prinzipiell) solidarisch gedachtes System durch einen „Generationenkonflikt“ zwischen Jung und Alt noch weiter aushebeln wollen, wie die Rentenkommission unter dem Titel „Solidarität statt Generationenkonflikt“ beschreibt:
„Der Generationenkonflikt ist zu einem Mantra geworden, das in keiner Talkshow und in keinem Leitartikel zum Thema Rente fehlen darf. Es wird dann gerne vom ‚Verrat an der jungen Generation‘ und den ‚Wahlgeschenken an die Alten‘ gesprochen, vom ‚Scheitern des Generationenvertrages‘ und der ‚der zu teuren gesetzlichen Rentenversicherung‘.”
Die NachDenkSeiten haben sich in zahlreichen Artikeln mit dem Begriff „Solidarität“ und seiner Umdeutung befasst, eine Auswahl finden Sie unter dem Artikel. Zum Abschluss: Hannes Wader singt das „Solidaritätslied“ von Bertolt Brecht, vertont von Hanns Eisler:
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Titelbild: Visuals6x / Shutterstock
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