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Titel: Stimmen aus Lateinamerika: Verändert die Sozialpolitik die Denkweise der Menschen?

Datum: 11. Juni 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Rechte Gefahr, Soziale Gerechtigkeit, Strategien der Meinungsmache
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Der bekannte brasilianische Befreiungstheologe und Autor Frei Betto widmet sich in seinem aktuellen Stück der in der Überschrift gestellten Frage und beantwortet diese mit Nein. Er verweist dazu auf die Lehren aus dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie den jüngsten Erfahrungen in Brasilien. Vor diesem Hintergrund ruft er zu einer grundlegend anderen Art der Kommunikation auf, um kritisches Bewusstsein in der Bevölkerung zu schaffen. Von Frei Betto.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

In den 70 Jahren des Bestehens der Sowjetunion haben die Menschen Rechte erhalten, die im Westen immer noch nicht errungen worden sind. Männer und Frauen verrichteten die gleichen Tätigkeiten und erhielten den gleichen Lohn. In den 1920er-Jahren bekleideten nicht weniger als 600 Frauen ein Amt, das dem eines Bürgermeisters entsprach, während sie in den meisten westlichen Ländern noch nicht einmal das Wahlrecht hatten.

Die Sowjetunion war das erste Land in Europa, das sich für reproduktive Rechte einsetzte. Die Frauen hatten die volle Kontrolle über ihren Körper. Die Schul- und Hochschulbildung war kostenlos. Die Regierung versorgte die Schüler mit Lehrbüchern und Schulmaterial.

Auch das Gesundheitssystem war völlig kostenlos. Die Zahl der Drogenkonsumenten war äußerst gering, und die wenigen, die sich Drogen beschafften, taten dies vermittels von Touristen, die sie hereinschmuggelten. Es waren die Soldaten, die gegen Ende der 1980er-Jahre Afghanistan besetzten, die den Sowjetblock mit Drogen überschwemmten.

Dennoch ist die UdSSR zusammengebrochen, ohne dass ein Schuss gefallen ist. Die Bevölkerung begrüßte den Kapitalismus. Heute gehört Russland zu den Ländern, in denen die soziale Ungleichheit alarmierend ist.

Dem sowjetischen Sozialismus ist es nicht gelungen, die Denkweise der Menschen so zu verändern, dass sie für eine solidarische Gesellschaft einstehen. Und auch der im „christlichen” Europa bis zum Fall der Berliner Mauer vorherrschende Wohlfahrtsstaat vermochte das Denken der Bevölkerung nicht zu verändern.

Antonio Cándido hat einmal gesagt, dass die größte Errungenschaft des Sozialismus nicht in den Ländern stattgefunden hat, die ihn eingeführt haben, sondern in Westeuropa, wo die Angst vor dem Kommunismus die Bourgeoisie dazu gebracht hat, auf die Ringe zu verzichten, um ihre Finger nicht zu verlieren.

Nach der Implosion des Sozialismus war die Bourgeoisie wieder ermutigt und zeigte ihr wahres Gesicht: Vorrang der Privilegien des Kapitals vor den Menschenrechten, Zurückweisung von Flüchtlingen, Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen, Ausrichtung auf die kriegstreiberische Politik der USA.

Die Regierungen der Arbeiterpartei (PT) in Brasilien

Brasilien hatte 13 Jahre lang PT-Regierungen, die der einkommensschwachen Bevölkerung verschiedene Leistungen garantierten: Familienbeihilfeprogramm Bolsa Familia, Mindestlohn, der jährlich oberhalb der Inflationsrate korrigiert wurde, Strom für alle, Wohnungsprogramm Mi Casa, mi Vida, Fonds zur Studienförderung, Universitätsquoten, drastische Verringerung von Elend, Armut und Arbeitslosigkeit, Erhöhung des Schulbesuches usw.

Dennoch wurde Dilma Rousseff abgesetzt, ohne dass das Volk auf die Straße ging, um die Regierung zu verteidigen. Und 2018 wurde [Jair] Bolsonaro gewählt.

Im Jahr 2022 verlor er gegen Lula da Silva mit einem Vorsprung von nur zwei Millionen Stimmen von insgesamt 156 Millionen Wählern.

Freud und Chomsky

Freud zufolge ist „die Masse außerordentlich beeinflussbar und leichtgläubig, sie ist unkritisch, das Unwahrscheinliche existiert für sie nicht (…) Die Gefühle der Masse sind immer sehr einfach und überschwänglich. Sie kennt weder Zweifel noch Unsicherheit. Sie ist schnell zum Äußersten bereit; ein äußerer Verdacht verwandelt sich sofort in unbestreitbare Gewissheit; ein Keim von Antipathie wird zu wildem Hass. Wer sie beeinflussen will, braucht keine logischen Argumente, sondern muss starke Bilder verwenden, übertreiben und immer dieselben Worte wiederholen. (…) Die Masse respektiert die Stärke und lässt sich nur mäßig von der Güte beeinflussen, die sie als eine Art Schwäche betrachtet. Sie verlangt von ihren Helden Stärke, ja sogar Gewalt. Sie will beherrscht und unterdrückt werden, sie will ihre Herren fürchten. Im Grunde ihres Herzens vollkommen konservativ, hat sie eine tiefe Abneigung gegen jegliche Fortschritte und Innovationen und eine grenzenlose Ehrfurcht vor der Tradition.”

Es ist der Kapitalismus, der die Denkweise der Menschen verändert und unsere individualistischste und narzisstischste Seite fördert und der 24 Stunden am Tag gegen die Bildung der Gesellschaft agiert, indem er das Konsumverhalten, den Wettbewerb sowie das Streben nach Reichtum und das „Rette sich, wer kann” stimuliert.

Noam Chomsky listet die Mittel des Systems auf, um kritisches Bewusstsein zu vermeiden: die ständige Unterhaltung (man schaue sich nur das Fernsehprogramm an); die Verschleierung von Missständen als Notwendigkeiten, wie die Erhöhung der Fahrpreise („Maßnahmen, die in Wirklichkeit schädlich für die Bevölkerung sind, weil sie die versteckten Interessen einer Minderheit begünstigen, werden beschlossen, als ob sie einen allgemeinen Nutzen sichern würden.”); die Allgemeinheit in Unwissenheit und Mittelmäßigkeit halten, wie mit der verschlüsselten Sprache, die in Artikeln über die Wirtschaft verwendet wird; Selbstbezichtigung (ich bin allein für mein Scheitern oder meinen Erfolg verantwortlich); davon überzeugen, dass die großen Medien alles besser wissen als irgendjemand anderes, usw. Dies nennt Chomsky „die lautlosen Waffen für leise Kriege” (silent weapons for quiet wars).

Die PT hat vier Legislaturperioden lang die Gemeinden Marica (Bundesstaat Río de Janeiro) und Ipatinga (Bundesstaat Minas Gerais) regiert und der Bevölkerung erhebliche Vorteile garantiert. Dennoch hat im Jahr 2022 Bolsonaro beide Wahlgänge in beiden Städten gewonnen.

Das bedeutet, dass die reale Gefahr besteht, dass die Rechte im Jahr 2026 an die Spitze der Republik zurückkehrt, ganz gleich, wie viele Vorteile die Regierung Lula dem brasilianischen Volk garantiert. Was also ist der Ausweg? Wie kann verhindert werden, dass dies geschieht?

Politische Bildung

Es gibt nur eine Alternative: eine intensive Aufklärungsarbeit nach der Methode von Paulo Freire unter Nutzung der beiden wertvollsten Ressourcen, über welche die Regierung verfügt: die weit verzweigte Struktur und das Kommunikationssystem. Die Paulo-Freire-Pädagogik muss bei der Ausbildung der staatlichen Bediensteten, die mit den bedürftigsten Bevölkerungsgruppen in Kontakt sind, wie im Gesundheitsministerium, im Brasilianischen Institut für Geografie und Statistik, in der Brasilianischen Gesellschaft für landwirtschaftliche Forschung usw., zur Anwendung kommen. Warum nicht zusätzlich zu Schulbildung und Impfungen eine dritte Bedingung in Bolsa Familia aufnehmen? Diese Bedingung wäre die Berufsausbildung. Neben der Möglichkeit, sich zu qualifizieren, um ein Einkommen zu erzielen, würden die Ausbildungsworkshops die Methode von Paulo Freire anwenden, die ein kritisches Bewusstsein weckt.

Das Kommunikationsnetz der Bundesregierung

Die andere Ressource ist die Empresa Brasileira de Comunicação (EBC), ein leistungsfähiges Kommunikationssystem in den Händen der Bundesregierung, ausgehend von dem Radiosender „Voz de Brasil”, der täglich von 70 Millionen Menschen gehört wird.

TV Brasil, Kanal 2, ein öffentliches Kommunikationsnetz, hat 50 Tochtergesellschaften in 21 Bundesstaaten. Im Jahr 2021 gehörte er zu den zehn meistgesehenen Sendern des Landes. Das Radiosystem der EBC umfasst neun Sender in zwei Bundesstaaten und im Bundesdistrikt. Die EBC verfügt über eine landesweite Radioversorgung mit 14 angeschlossenen Sendern. Radio Nacional bildet ein Netzwerk von EBC-Sendern. Es sind: Radio Nacional de Rio de Janeiro (landesweite Abdeckung über Satellit), Radio Nacional de Brasilia, Nacional FM (Brasilia), Radio Nacional da Amazônia (mit Sitz in Brasilia, aber mit Programmen für die nördliche Region), Radio Nacional de Alto Solimões (Tabatinga, AM) und die Radiosender MEC und MEC FM (Rio de Janeiro).

Zur Kommunikation der Bundesregierung gehört auch die Radioagencia Nacional, eine Nachrichtenagentur, die von EBC und Partnerstationen produzierte Audiosendungen ausstrahlt. Nach Angaben des staatlichen Unternehmens nutzen mehr als 4.500 Radiostationen die Inhalte von Radioagencia. Und die Agencia Brasil, die sich auf Aktivitäten und Ereignisse im Zusammenhang mit der Regierung, dem Staat und der Bürgerschaft konzentriert, erreicht 19 Millionen Nutzer pro Monat.

Da ist auch noch das Portal EBC, eine Internetplattform, die Inhalte von Trägern wie Agencia Brasil, Radioagência Nacional, Radios EBC, TV Brasil, TV Brasil Internacional, Empresa Brasil de Comunicação und aus der Gesellschaft verbreitet.

Neben der Verwaltung der föderalen öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten ist die EBC für die Bildung des nationalen Netzes für öffentliche Kommunikation (RNCP) zuständig. Ziel der RNCP ist die technische Zusammenarbeit mit öffentlichen und privaten Initiativen, die öffentliche Rundfunkdienste betreiben. Derzeit umfasst das Netz 38 Sender, die über das ganze Land verteilt sind.

Im Rahmen der Politik der Bildung des nationalen Netzes für öffentliche Kommunikation kann die EBC jederzeit für sich oder ihre Partner Kanäle für den Betrieb von Rundfunk (UKW-Radio), Fernsehen) sowie Fernsehübertragungsdienste beantragen. Dabei handelt es sich um die sogenannten Unionskanäle. Gegenwärtig gibt es landesweit 13 solcher Träger: TV Brasil Maranhão mit dem Bundesinstitut von Maranhão, TV UFAL mit der Bundesuniversität von Alagoas, TV UFBP mit der Bundesuniversität von Paraiba, TV UFSC mit der Bundesuniversität von Santa Catarina, TV Universidad mit der Bundesuniversität von Mato Grosso und TV Universitária mit der Bundesuniversität von Roraima.

Der Leser oder die Leserin stelle sich vor, dass dieses ganze Netzwerk darauf abzielt, das kritische Bewusstsein der Öffentlichkeit zu wecken. Es genügt, den erkenntnistheoretischen Schlüssel zu ändern, der nur auf die sozialen Probleme ausgerichtet ist, und eine dialektische Logik anzunehmen, die sich auf die Ursachen dieser Probleme konzentriert.

Wenn wir im Fernsehen Kampagnen zugunsten von Hungernden sehen, werden in der Regel Orte für die Sammlung von Lebensmitteln oder das Spenden von Körben mit Grundnahrungsmitteln genannt. An keiner Stelle werden in den Nachrichtensendungen Fragen gestellt wie: Warum gibt es überhaupt Menschen, die hungern? Warum haben sie keinen Zugang zu Lebensmitteln? Ist es natürlich, dass es Satte und Hungernde gibt? Wie können wir diese Ungleichheit überwinden?

Es gibt viel zu tun, um in der brasilianischen Bevölkerung ein Bewusstsein zu erzeugen, sie zu organisieren und zu mobilisieren. Die Ressourcen sind da. Und der politische Wille ist bei Lula und dem Generalsekretariat der Präsidentschaft der Republik, das von Minister Márcio Macedo geleitet wird, vorhanden. Alles, was fehlt, ist das Engagement, die Produktion von Materialien für die Träger der sozialen Kommunikation und Haushaltsmittel, damit die Regierung über ein Netz von popularen Erziehern (educadores populares) bestehend aus mindestens 50.000 Personen verfügt.

Übersetzung: Klaus E. Lehmann, Amerika21

Titelbild: Shutterstock / Esin Deniz


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