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Titel: Missbrauchsskandal der katholischen Kirche in Bolivien: „Welche Hölle ist für Kinderschänder da?“
Datum: 10. Juni 2023 um 14:00 Uhr
Rubrik: Kirchen/Religionen, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
In gleich den drei größten Städten haben lokale Bündnisse unter dem Slogan „Iglesia & Estado – Asunto separado“ (Kirche & Staat – getrennte Angelegenheiten) zu Protesten gegen die Missbrauchsskandale der katholischen Kirche aufgerufen: im Regierungssitz La Paz, das mit dem angrenzenden El Alto die größte urbanisierte Zone des Landes auf 4.000 Meter über dem Meeresspiegel bildet, in der formell größten Stadt Santa Cruz im tropischen Teil des Landes und im dazwischen liegenden Cochabamba, dem Epizentrum des jüngsten Skandals. Von Pablo Flock.
Am 30. April veröffentlichte die bolivianische Zeitung El País eine über 30 Seiten umfassende Reportage über den vielfachen sexuellen Missbrauch des 2009 verstorbenen Jesuiten Alfonso Pedrajas, die auf dessen eigenem Tagebuch basiert, das der Zeitung von dessen Neffen zugespielt wurde. Rund 85 Minderjährige gibt der spanische Priester darin an, sexuell genötigt zu haben, die meisten davon als Direktor eines Internats der Jesuiten in Cochabamba.
Die Angst vieler Kinder aus ärmeren Familien, das Internat mit seinen Speisesälen und Zukunftschancen wieder in Richtung Armut und Perspektivlosigkeit zurücklassen zu müssen, ließ viele der Opfer den Missbrauch ohne Klagen durchstehen. Pedrajas nutzte dies auch bewusst und drohte Schülern, die sich wagten laut auszusprechen, was alle wussten, sie von der Schule zu werfen.
Noch schockierender als die Erzählungen einiger der Opfer, die El País für die Reportage interviewte, sind vielleicht Pedrajas eigene Angaben über die Konfessionen seiner Untaten, die er gegenüber anderen Ordensmitgliedern und Kirchenautoritäten machte. Diese führten Zeit seines Lebens nie zu Konsequenzen für den Pater und nicht einmal zu Schutzmaßnahmen für die Opfer, obwohl Mitwisser wie der zeitweise Regionalleiter der Jesuiten in Südamerika, Bruder Marcos Recolons, durchaus die Macht und Verantwortung dafür gehabt hätten.
Einer der ersten, der von den Übergriffigkeiten des Paters wusste, war dessen mittlerweile ebenfalls verstorbener Ordensvater José Arroyo, der Pedrajas im letzten Teil seiner Jesuitenausbildung beaufsichtigte und diese Aufgabe übrigens auch für den Jesuiten Jorge Bergoglio aus Buenos Aires übernahm, der heute als Papst Franziskus bekannt ist. Wie Pedrajas schreibt, wies ihn Arroyo wohl an, in den Beichten nicht von seinen Missbräuchen zu erzählen und sich nicht als Sünder zu fühlen. Laut ihm hätte er nicht einmal in Erwägung ziehen sollen, seine Lehrtätigkeit deswegen aufzugeben. Nichts würde passieren. Von einer Aufforderung seitens dieses Ausbilders, die sexuelle Gewalt zu unterlassen, ist nichts zu lesen.
In Cochabamba kam es schon im Laufe des Monats zu verschiedenen Protesten. So wurde die lokale Kirche der Jesuiten in der Nacht vor der Sonntagsmesse am 7. Mai mit großen und kleinen Flammen beklebt, ebenso mit Nachrichten wie “85 Opfer” und “Welche Hölle ist für Kinderschänder da?”, letzteres offensichtlich in Anspielung auf ein berühmtes bolivianisches Kirchenbild, das den missionierten Indigenen die individuellen Strafen der Hölle für verschiedene Sünden aufzeigt.
Zwei Tage später bewegte sich am Nachmittag eine überwiegend aus Frauen bestehende Gruppe Parolen rufend auf die Kirche zu. Eine Frau war verkleidet als Priester mit einem umgehängten Schild, worauf sie sich als Priester “Alfonso Pederasta” ausgab. Die Gruppe beklebte die Kirche mit verschiedenen Schildern – Opferzitaten aus dem Tagebuch des Päderasten oder Nachrichten wie “Es war nicht die Liebe Gottes, sondern der Priester”.
Quelle: Pablo Flock
Die Aktivist:innen forderten besonders die Aufarbeitung und Bestrafung der noch lebenden Mitwisser und weisen auf die koloniale Komponente, die der Skandal in sich trägt. “Da kommen Leute in Verantwortungspositionen, die in Europa schon wegen Sexualstraftaten verurteilt wurden. Und die Kirche schickt diese Männer dann einfach zu uns in die Peripherie, wo sie weiter ihr Unwesen treiben können”, beklagt eine Teilnehmerin an einer der beiden Aktionen in Cochabamba, womit sie sich offenbar auf den 2019 ebenfalls von El País aufgedeckten Fall des Jesuiten Luis Tó bezieht.
Ihren Namen nennen will sie nicht. “Die christliche Lobby ist stark in Bolivien. Als [Jeanine] Áñez [2019 gegen Evo Morales] putschte, trug sie diese pinke Bibel auf die Bühne, in offenbar kolonialer Manier deutete sie an, uns Indios zu zivilisieren”, erklärt sie sarkastisch. Die gewalttätigen Milizen aus den privilegierteren Stadtvierteln, die die Putschregierung damals gegen die unwilligen Teile der Gesellschaft verteidigten, organisierten sich teils räumlich um Kirchen.
Doch nun kann auch der Staat die Augen nicht mehr vor den strukturellen Problemen verschließen. Am 30. Mai wandte sich der bolivianische Präsident in einem offenen Brief an die katholische Kirche und den Papst, in dem er Vertuschung der Verbrechen durch kirchliche Instanzen anprangert, volle Kooperation mit den Ermittlungsbehörden und Dokumente kircheninterner Ermittlungen fordert und die Überarbeitung von Abkommen und Konventionen zur Einreise katholischer Priester ankündigt. “Der bolivianische Staat behält sich das Recht vor, die Einreise neuer ausländischer Priester und Ordensleute, die eine Vorgeschichte von sexuellem Missbrauch an Minderjährigen haben, zu kontrollieren”, heißt es darin.
Der Jesuitenorden hatte schon am 3. Mai in einem offenen Brief zugesagt, bei den Ermittlungen zu kooperieren, sich entschuldigt, aber auch gebeten, die Vorfälle nicht zu politisieren.
Die Demonstranten in La Paz, Cochabamba und Santa Cruz halten das für wenig glaubwürdig.
So erzählt zum Beispiel der Bruder der von sexueller Gewalt durch Priester betroffenen Missionarin Alicia von seinen Erfahrungen mit der Kirche und ihren vorgeschobenen Konsequenzen. Wo die Kirche nun nach den erneuten Skandalen jemand schicke, um den Fall seiner Schwester und anderer zu ermitteln, fragt er sich, warum das nicht vor drei Jahren geschehen sei, als seine Familie sich an die Kirche wandte. Obwohl es damals eine Audioaufnahme von der Erpressung seiner Schwester durch den Pater gab, wurde der Fall eingestellt und der Täter ist mittlerweile wieder aus dem Land.
Ein anderer Priester aus derselben Diözese wurde bei der Vergewaltigung eines zehnjährigen Mädchens erwischt, danach jedoch nur wegen sexuellem Missbrauch verurteilt und kam schon nach drei Jahren frei. Mittlerweile halte er wieder Gottesdienste in Bolivien, so der Bruder Alicias.
Laut Generalstaatsanwalt Wilfredo Chávez sind den bolivianischen Behörden derzeit 23 Priester namentlich bekannt, denen sexuelle Übergriffe vorgeworfen werden.
Dieser Artikel erschien zuerst auf Amerika21.
Titelbild: Shutterstock / Daniel Jedzura
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