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Titel: Die dunkle Seite von Nestlé: Keine Gesichtsfalten, aber auch kein Amazonas-Regenwald mehr
Datum: 4. Juni 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: Globalisierung, Ressourcen
Verantwortlich: Redaktion
Ein „revolutionäres” Produkt, das hautverjüngend und gegen Falten wirkt, trägt zur Zerstörung des größten Naturschutzgebietes der Erde bei. Vital Proteins ist eine der führenden Marken im Bereich Kollagen, die auch vom US-Filmstar Jennifer Aniston beworben wird. Seit Februar 2022 ist der Schweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé Alleineigentümer der Marke, seit Juni 2020 war er bereits Mehrheitsaktionär. Von Sergio Ferrari.
Ein Journalistenteam hat kürzlich recherchiert und ist der Herkunft der Rindshäute nachgegangen, die für die Kollagengewinnung benötigt werden. Sie haben herausgefunden, dass ein Teil des Kollagens der Marke Vital Proteins direkt mit der illegalen Entwaldung und dem Eindringen in geschütztes indigenes Gebiet in Brasilien in Verbindung steht. Bei diesen Recherchen stießen sie auf den Rindfleisch-Großproduzenten Marfrig.
Mafrig beschreibt sich selbst als „globaler Marktführer bei der Hamburger-Produktion und eines der größten Unternehmen für Rindfleischherstellung weltweit”. In diesem fleischhungrigen Unternehmen werden 29.000 Rinder täglich verarbeitet, jährlich 222.000 Tonnen Hamburger und weitere 209.000 Tonnen andere tierische Produkte für spezielle Marken hergestellt. Dafür verfügt es über 19 Schlachthöfe, 12 Verarbeitungsanlagen, 10 Verteilerzentralen und Verkaufsbüros in elf Ländern in Amerika, Europa und Asien.
Fleisch im Tausch gegen Umwelt
Seit Jahren schon wächst die Kritik an Marfrig, weil das Unternehmen für die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes sowie für illegales und gewaltsames Eindringen in indigenes Gebiet verantwortlich gemacht wird. Im Februar 2022 berichtete die brasilianische Tageszeitung O Globo darüber, dass die Interamerikanische Entwicklungsbank Marfrig Global Foods einen Kredit über 200 Millionen US-Dollar verweigert hat. Der Grund: Beide Seiten konnten sich nicht über die Darlehenskonditionen einigen, unter anderem mit Blick auf die Umweltziele. In dem Artikel wird dargelegt, dass aufgrund der sehr hohen Abholzungsrate im Amazonasbecken in den letzten 15 Jahren Fleischverarbeiter wie Marfrig zunehmend „für ihre Rolle bei der Zerstörung des größten Regenwaldes der Welt” in der Kritik stehen. Mindestens 70 Prozent der abgeholzten Flächen werden als Weideflächen genutzt.
Seit geraumer Zeit werden kritische Stimmen der internationalen Zivilgesellschaft, wie beispielsweise die Nichtregierungsorganisation Amigos de la Tierra, laut und üben Druck aus auf die Interamerikanische Entwicklungsbank. Sie argumentieren, dass die von Marfrig beantragte Kreditlinie „gegen die eigenen Nachhaltigkeitsrichtlinien der Institution verstoßen würde”.
Im Jahr 2021 veröffentlichte Amigos de la Tierra Spanien einen ausführlichen Bericht über den Import von Fleisch aus Brasilien (und anderen Mercosur-Ländern) nach Spanien und in die gesamte Europäische Union. Dieser Bericht enthielt umfangreiche und überraschende Informationen.
„Auf unsere Teller kommt bereits jetzt Fleisch, das mit Entwaldung und Verstößen gegen die Menschenrechte in Verbindung steht. Das wird mit dem Freihandelsabkommen zwischen den Mercosur-Ländern und der EU nur noch schlimmer werden”, betont die Umweltorganisation.
In dem Bericht heißt es, dass „Brasilien der größte Rindfleisch-Exporteur der Welt ist. Im Jahr 2020 haben die brasilianischen Fleischexporte 24 Prozent des Welthandels ausgemacht. Die Weideflächen erstreckten sich auf 19 Prozent des Territoriums dieses Landes, das zudem nach den USA der zweitgrößte Geflügelhersteller ist.”
Drei Verarbeitungsunternehmen dominieren den brasilianischen Fleischmarkt: JBS, Marfrig und Minerva. Laut Angaben von Amigos de la Tierra haben alle drei Unternehmen ihre Geschäftstätigkeiten auf andere Länder ausgeweitet, so auch auf den europäischen Lebensmittelmarkt. Sie sollen für 92 Prozent der Rindfleischexporte in die EU verantwortlich sein. Ihre Hauptgeldgeber seien traditionelle Banken, Investmentfonds und andere Mischkonzerne. Die meisten davon haben ihren Geschäftssitz in den USA oder Europa.
Laut einer Untersuchung der Nichtregierungsorganisation Global Witness und der niederländischen Recherchegruppe Profundo finanzierten zwischen 2013 und 2019 mehrere Banken mit Hauptsitz in Spanien Unternehmen wie JBS, Marfrig und Minerva mit umgerechnet rund zehn Milliarden Euro. Allein die Santander Bank – die Bank Europas, die am zweithäufigsten Mittel für diese Art von Tätigkeiten bereitgestellt hat – investierte in diesen Zeitraum mehr als 1,3 Milliarden US-Dollar in brasilianische Unternehmen. Die Rechnung ist einfach: dort investieren, nach Europa importieren, überall Profit machen.
Amigos de la Tierra Spanien erinnert daran, dass diese drei Großproduzenten im Jahr 2017 in einen riesen Skandal (amerika21 berichtete) um Lebensmittelsicherheit involviert waren. „Sie haben Gesundheitsbeamte bestochen, damit sie den Verkauf und den Export von kontaminiertem Fleisch genehmigen, das mit chemischen Mitteln bearbeitet wurde, um den fauligen Geruch zu überdecken.”
Gewöhnliche Produkte
Seit einigen Jahren verkauft der Schweizer Lebensmittelkonzern Nestlé ein Nahrungsergänzungsmittel mit dem Namen Vital Proteins, das der Werbung zufolge helfen soll, Falten im Gesicht zu bekämpfen, das Haar glänzend zu halten und Nägel und Knochen zu stärken.
Eine jüngst erschienene Veröffentlichung der unabhängigen und gemeinnützigen Journalistenvereinigung Bureau of Investigative Journalism aus Großbritannien, an der u.a. die britische Tageszeitung The Guardian und das brasilianische Investigativprojekt O Joio e O Trigo beteiligt waren, liefert eindeutige Informationen. Der Hauptinhaltsstoff von Vital Proteins stammt demnach größtenteils von brasilianischen Rindern, die auf riesigen Rinderfarmen gehalten werden, die wiederum für die Zerstörung von Tausenden Quadratkilometern Regenwald verantwortlich sind.
In einer im März veröffentlichten Pressemitteilung stellt die Schweizer Koalition für Konzernverantwortung fest: „In Brasilien roden Agrarkonzerne immer mehr Wälder illegal ab, um sie durch Rinder-Weiden zu ersetzen. Dabei dringen sie oft auch illegal in indigene Territorien ein.”
Weiter heißt es, der Hauptbestandteil des Nestlé-Schönheitsprodukts sei Kollagen, das häufigste Protein im menschlichen Körper: „Es ist in Sehnen, Muskeln und Knochen anzufinden und verleiht unserem Körper Elastizität und Widerstandsfähigkeit. Die körpereigene Produktion verlangsamt sich aber mit zunehmendem Alter. Kollagen wird deshalb als Beauty-Produkt vermarktet, das den Alterungsprozess verlangsamen soll. Der Wunsch, dem natürlichen Alterungsprozess entgegenzuwirken, hat dazu geführt, dass die Kollagen-Branche im Jahr 2022 auf vier Milliarden US-Dollar geschätzt wird.
Das Protein kann aus Rindern, Schweinen, Hühnern und Fischen gewonnen werden. Das Rinderkollagen, welches aus Rinderhäuten gewonnen und zu einem feinen, weißen Pulver verarbeitet wird, macht 34 Prozent des Kollagen-Marktes aus. Die in der Branche tätigen Konzerne behaupten, Kollagen sei lediglich ein Nebenprodukt der Rinder-Industrie. Doch da die Gewinnspannen in der Fleischindustrie sehr gering sind, rentiert sich das Geschäft mit der illegalen Abholzung nur, wenn alle Teile der Tiere zu Geld gemacht werden – also nicht nur das Fleisch, sondern auch die Haut für die Herstellung von Leder und eben Kollagen.”
Journalistische Recherche und Anklagen
Laut der Untersuchung des Bureau of Investigative Journalism wiegt eine Tatsache bei der Vermarktung dieses Produktes, das aus abgeholzten Gebieten des brasilianischen Amazonasgebietes stammt, besonders schwer: „Im Unterschied zu Rindfleisch, Soja, Palmöl und anderen grundlegenden Nahrungsmitteln ist das Kollagen weder von der neueren Gesetzgebung Großbritanniens noch von der EU-Verordnung zur Bekämpfung der Entwaldung gedeckt.”
Delara Burkhardt, Abgeordnete des Europaparlaments, die an dem EU-Gesetz zur Entwaldung mitgearbeitet hat, bestätigt in dem Artikel des Bureaus, „dass es besser gewesen wäre, dass dieses Gesetz alle Erzeugnisse der Viehwirtschaft abdeckt”. Allerdings sei dieser Vorschlag, Nebenerzeugnisse (einschließlich Kollagen) einzubeziehen, von konservativen Politikern, der Europäischen Kommission und den EU-Regierungen blockiert worden. Und sie fügt hinzu, dass diese Auslassung „große Schlupflöcher für Produkte lässt, die nachweislich mit der Abholzung in Verbindung stehen”.
Es ist das erste Mal, dass eine Untersuchung wie die des Bureaus Kollagenpulver auch mit der Gewalt gegen indigene Völker in den brasilianischen Amazonaswäldern in Verbindung bringt. Anna Cavazzini, Abgeordnete des EU-Parlaments und stellvertretende Vorsitzende der Delegation für die Beziehungen zu Brasilien, sagt in der besagten Untersuchung, es sei „immer wieder erschreckend zu sehen, dass der Konsum in der EU oder in den USA zur Abholzung im Globalen Süden führt”. Die „grüne Lunge der Erde” sowie die Heimat von Tausenden von Ureinwohnern werden zerstört.
Die zu Nestlé gehörende Marke Vital Proteins, um die es hier geht, wird weltweit vermarktet. Als Reaktion auf die Medienuntersuchung erklärte Nestlé, dass die erhobenen Vorwürfe nicht mit seinem Einsatz für eine verantwortungsvolle Beschaffung vereinbar seien und dass es seinen (brasilianischen) Lieferanten kontaktiert habe, um die Angelegenheit weiter zu untersuchen. Die Schweizer Koalition für Konzernverantwortung kommt zu dem Schluss: „Der Konzern scheint aber keine besondere Eile zu haben, das Problem zu lösen: Erst 2025 sollen seine Produkte abholzungsfrei sein.”
Im Amazonasgebiet werden Flächen gerodet und entwaldet, um unter anderem Nahrungsmittelergänzungsstoffe zur Faltenbekämpfung herzustellen. Ein zügelloser Konsum in einem hegemonialen System, das dem alten Gleichnis von der Schlange ähnelt, die sich in den Schwanz beißt. In einigen Zivilisationen hatte es die Bedeutung des Endes und der Wiedergeburt der Erde. Im Kontext des Amazonasgebietes steht es aber vielmehr für die negativen Auswirkungen auf die Lunge des Planeten, die bereits dabei ist, abzusterben.
Übersetzung: Constanze Gräsche, Amerika21
Titelbild: Screenshot vitalproteins.de
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