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Titel: Die neuen Rechten in Lateinamerika
Datum: 29. Mai 2023 um 15:00 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Ideologiekritik, Rechte Gefahr
Verantwortlich: Redaktion
Im alltäglichen Sprachgebrauch, aber auch in akademischen Studien werden die Begriffe „rechts” und „links” (mit ihren Nuancen von Mitte, ultra, radikal, neu, post oder anderen) verwendet, um die politische Neigung für oder gegen bestimmte Personen, Parteien oder soziale Klassen zu charakterisieren. Es sind operative Begriffe für eine schnelle und verständliche Identifizierung, aber zu ungenau, um die Bedeutung der historischen Strukturen zu definieren, die sie darstellen sollen. Von Juan J. Paz-y-Miño Cepeda.
In der Struktur der lateinamerikanischen Staaten im 19. Jahrhundert waren die Kategorien anders. Es herrschte eine Zweiparteienkonfrontation zwischen Liberalen und Konservativen, auch bekannt als Pipiolos und Pelucones (Chile), Blancos und Colorados (Uruguay), die sich in der Regel eher in Caudillos als in voll strukturierten Parteien äußerten. Sie unterschieden sich in ihrer Orientierung an den Großgrundbesitzern, der Tradition, dem Katholizismus, der Familie und der Kirche (Konservative) oder an der aufstrebenden Bourgeoisie, den Bürgerrechten, dem Laizismus und der wirtschaftlichen Öffnung gegenüber der Welt (Liberale). Dagegen wurden die Kämpfe der Bauern, der Indigenen oder der versklavten Menschen mit Rebellionen und Aufständen gleichgesetzt, die mit unerbittlicher Repression und Vernichtung niedergemacht wurden.
Mit der Entwicklung des lateinamerikanischen Kapitalismus seit Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden die lohnabhängigen Arbeiterklassen, und die politischen Tendenzen diversifizierten sich mit dem Aufkommen der Radikalen (linker Flügel des Liberalismus) sowie der sozialistischen und kommunistischen Parteien, mit denen auch das politische Spektrum der Linken entstand. Die Konservativen und die Liberalen blieben auf der politischen Rechten, denn beide verteidigten dann den Kapitalismus und die traditionelle historische Struktur, die aus dem oligarchischen System hervorging, während die Linken antikapitalistisch waren.
Der Faschismus und das Gespenst des Kalten Krieges
Der Einfluss des spanischen Falangismus, des italienischen Faschismus und sogar des deutschen Nazismus führte zur Bildung von Parteien der lateinamerikanischen „Ultrarechten”, die mit ihren Thesen und Grundsätzen verbunden waren, wie in Fascismos Iberoamericanos (2022), herausgegeben von Gabriela de Lima Grecco und Leandro Pereira Goncalves, untersucht wird. Es tauchten auch „populistische” Kräfte auf, die sich streng genommen den Interessen der breiten Bevölkerung zuwandten, um soziale Reformen voranzutreiben (beispielsweise Apra in Peru, 1930), wobei sie Mechanismen der Mobilisierung, Organisation und Massenrekrutierung einsetzten, die später von allen politischen Parteien übernommen werden sollten.
Es ist der Kalte Krieg ab den 1950er-Jahren, der die Konzepte polarisierte: Links zu sein bedeutete, dem „Kommunismus” nahe zu sein, was als „radikal” links galt; während Rechts zu sein bedeutete, eine traditionalistische und konservative Sichtweise aufrechtzuerhalten, sodass modernisierende Parteien der „Mitte” entstanden wie die Sozialdemokraten (in der „linken Mitte”), darunter die Acción Democrática in Venezuela (1941) oder die Izquierda Democrática in Ecuador (1970), und die Christdemokraten (in der „rechten Mitte”), darunter Copei in Venezuela (1946) oder die PDC in Chile (1957), die akzeptabler waren, weil sie sich vom „Radikalismus” abgrenzten.
So wurden die Linken als potenzielle oder reale Bedrohungen der Demokratie, der Freiheiten und des Staates betrachtet. Die von der perversen Doktrin der nationalen Sicherheit geleiteten Militärdiktaturen hatten keinerlei Skrupel, einen „internen Krieg” gegen den einzigen Feind zu führen: die Linken, die sogar als Terrorismus und Subversion behandelt wurden, was auch die Bewegungen der Arbeiter, der Kleinbauern und der Werktätigen im Allgemeinen einschloss. Lateinamerika kennt diese Erfahrung des Völkermords und der systematischen Menschenrechtsverletzungen, wie sie im Cono Sur geschahen, genau.
Die transnationale Globalisierung in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts gab der Hegemonie der wirtschaftlich orientierten Rechten Auftrieb, die sich auf große, mit dem Neoliberalismus identifizierte Unternehmensgruppen stützt. Regierungen zu ihren Diensten festigten Wirtschaftsmodelle, die in mehreren Ländern (darunter Ecuador) oligarchische Politiken und Verhaltensweisen wiederbelebten.
Aber die Risiken der multipolaren Globalisierung mit dem Aufstieg von Regionen und Ländern, die eine andere Wirtschaft als die neoliberale befördern (China, Russland, BRICS-Gruppe), sowie der Aufschwung der neuen lateinamerikanischen Linken und der Antritt progressiver Regierungen in zwei verschiedenen Zyklen haben die Entwicklung der neuen lateinamerikanischen Rechten bestimmt.
Sie vereinen verschiedene „Werte” und politische Verhaltensweisen: Rassismus, Klassismus, Fremdenfeindlichkeit, Traditionalismus, Konservatismus, Elitismus; sie verachten den Pluralismus, verurteilen die sozialen Bewegungen, lehnen die Geschlechterpolitik ab und bezeichnen sich als „Lebensrechtsbewegung”; sie identifizieren sich jetzt auch mit dem Hispanismus und dem Ibero-Amerikanismus – sie folgen der spanischen Partei Vox und ihren Anhängern, bis dahin, die Eroberung und den Kolonialismus zu leugnen; sie sind fanatische Anti-Linke und brandmarken alle als „Kommunisten”; die Aktuellsten definieren sich selbst als Libertäre oder Anarcho-Kapitalisten, sind Anhänger von Friedrich August von Hayek und Murray Rothbard und haben den argentinischen “Paläolibertären” Javier Milei als ihre große Referenz.
Aber in diesem scheinbaren Wirrwarr, der in dem kürzlich erschienenen Buch Extremas derechas y democracia: perspectivas iberoamericanas, herausgegeben von José Antonio Sanahuja und Pablo Stefanoni, untersucht wird (obwohl es einige Ungenauigkeiten darin gibt, indem „rechte” Charaktere und Regierungen vermischt werden, die unterschieden werden sollten: Putin, Bolsonaro, Kast, Trump, Bukele, Abascal, Le Pen, Meloni, usw.), darf man sich nicht verirren: Die neuen lateinamerikanischen Rechten sind vor allem wirtschaftlich orientiert und neoliberal, auch wenn einige von ihnen die Globalisierung mit Worten „verurteilen”.
Sie sind durch dieselbe Ideologie gekennzeichnet, die sich um die Zurücknahme (oder das Verschwinden) des Staates, die Ablehnung von Steuern, die Slogans zur Flexibilisierung und Prekarisierung der Arbeit, die Aufwertung des unternehmerischen Individuums, die Freiheit der Märkte, den Widerstand gegen die Umverteilung des Reichtums, die Verteidigung des Privateigentums und der Privatisierungen dreht. Auf dieser wirtschaftlichen Grundlage bauen sie jetzt auch ihren politischen und kulturellen „Überbau” mit Werten und Prinzipien auf, die auf der Tradition, der Abstammung oder irgendeiner anderen elitären Definition beruhen. Hinzu kommen Autoritarismus und die Brandmarkung der sozialen Bewegungen als gewalttätig, terroristisch und sogar als paramilitärisch.
Paradoxien des gegenwärtigen Augenblicks
Wir leben folglich in einem historischen Moment der Paradoxien: Während die Linken die repräsentative (oder „bürgerliche”) Demokratie, die Freiheiten, die Rechte und den Pluralismus verteidigen und den Kapitalismus und die Systeme der politischen Vorherrschaft der großen Wirtschaftsgruppen in Frage stellen, stellen die neuen Rechten die liberale Demokratie in Frage, greifen die staatlichen Institutionen an, lehnen den politischen Pluralismus und die sozialen Bewegungen ab und rechtfertigen den Klassenautoritarismus. Der Vormarsch dieser Formen des Neofaschismus ist eine Gefahr für Lateinamerika.
Juan J. Paz-y-Miño Cepeda aus Ecudaor, Mitarbeiter von Prensa Latina, ist Historiker und Analyst
Übersetzung: Vilma Guzmán, Amerika21
Titelbild: shutterstock / NicoElNino
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