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Titel: Die Systemfrage ist gestellt – sichtbar an der Entscheidung über den SPD-Kanzlerkandidaten durch die Finanzwirtschaft: Peer Steinbrück
Datum: 18. Juni 2011 um 10:12 Uhr
Rubrik: Finanzkrise, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Albrecht Müller
Es ist bekannt, dass der frühere Bundesfinanzminister Lafontaine mit seinen G8-Kollegen Ende 1998 / Anfang 1999 über grundlegend neue Regulierungen der internationalen Finanzmärkte beraten hat und konkrete Ergebnisse erzielt waren. Jetzt berichtete mir ein Mitarbeiter des damaligen Bundesfinanzministers, der amerikanische Finanzminister habe dann am Rande des Geschehens gegenüber seinem deutschen Kollegen angemerkt, er, Lafontaine, werde doch wohl nicht annehmen, dass diese neuen Regeln die Zustimmung des amerikanischen Präsidenten bekämen. Schließlich habe Wall Street den Wahlkampf des amtierenden Präsidenten Clinton bezahlt. – Die Verhältnisse bei uns sind nicht anders. Merkel achtet wie schon Schröder auf die Interessen der Finanzwirtschaft und hat uns Steuerzahler schon mit weit über 100 Milliarden € zu Gunsten der Finanzwirtschaft in Haftung genommen. Und jetzt, in diesen Tagen kümmert sich die umsichtige Finanzwirtschaft vorsorglich auch um die Nominierung des SPD-Kanzlerkandidaten. Man kann ja nie wissen. Albrecht Müller.
Steinbrück ist für die Finanzindustrie ein idealer Kandidat
Wir beobachten in diesen Tagen mit Staunen den rasanten Aufstieg des ehemaligen Finanzministers und gescheiterten NRW-Ministerpräsidenten Peer Steinbrück. Für viele Beobachter ist dies ein Rätsel. Dies ist es nicht, wenn man bedenkt, dass die Finanzwirtschaft, die großen Einfluss auf die veröffentlichte und öffentliche Meinung hat, in Peer Steinbrück einen für sie idealen Kanzlerkandidaten der SPD ausgemacht hat. Wenn man dies ergründen will, dann versetzt man sich sinnvoller Weise in die Lage der Strategen der Finanzwirtschaft und der für sie tätigen Public-Relations-Agenturen. Wir können davon ausgehen, dass dort clevere Strategen tätig sind und sie zudem über große Finanzen verfügen. Die Ergebnisse ihrer Strategieplanung dürfte so aussehen:
1. Die Chancen, dass die SPD Führung den SPD Gremien empfiehlt, Peer Steinbrück zum Kanzlerkandidaten zu nominieren, sind groß, wenn mit massiver Public-Relations-Arbeit dafür gesorgt wird, dass er als populär gilt.
Die Strategen der Finanzwirtschaft können sich dabei darauf verlassen, dass sachliche Gesichtspunkte und eigene wahlstrategische Überlegungen in der heutigen SPD Führung nicht den notwendigen Raum finden. Dort entscheidet man sehr viel eher nach der aktuellen Popularität des zur Wahl stehenden Spitzenpersonals. Außerdem wissen die Strategen der Finanzwirtschaft um ihren Lobby-Einfluss beim rechten Flügel der SPD Führung, bei den Seeheimern und den Netzwerkern.
2. Die Chancen, dass Steinbrück 2013 die Bundestagswahl gewinnt und Bundeskanzler wird, sind vermutlich sehr gering. Die SPD wird mit ihm nicht sonderlich gut abschneiden und er wird keine mehrheitsfähige Koalition schmieden können.
Darauf setzt die Finanzwirtschaft zu aller erst. Denn Schwarz-Gelb oder Schwarz-Grün ist ihr trotz aller Dienstfertigkeit von Rot-Grün immer noch lieber.
Warum werden die Chancen eines Kanzlerkandidaten Steinbrück gering sein:
Dass Steinbrück jetzt auf allen Kanälen präsentiert wird und dass er zum Beispiel beim ZDF-Politikbarometer die Nummer eins von zehn abgefragten Personen erreicht (ein Link für viele ähnliche Meldungen), sagt über seine Wählerwirksamkeit als Kandidat im Jahre 2013 nahezu nichts:
Erstens fließt bis dahin noch viel Wasser den Rhein hinunter. Ihn jetzt populär zu machen und hochzujubeln und seinen Stern dann gezielt und rechtzeitig zum Wahltermin wieder sinken zu lassen, gehört mit zur Strategie. Das ist schon einmal, nämlich mit Rudolf Scharping, meisterhaft zelebriert worden. Er wurde im Herbst und Winter 1993 hoch geschrieben und hoch gesendet. Im Frühjahr 1994, ein halbes Jahr vor dem Wahltermin, ließ man ihn dann über eine harmlose Angelegenheit, über die Verwechslung von Brutto und Netto, stolpern. So schnell, wie seine Popularität gestiegen war, so schnell war sie auch wieder zerronnen.
Bei Steinbrück wird man im Laufe des Wahlkampfes dann alle jene Sünden zu Gunsten der Finanzwirtschaft und zulasten der Steuerzahler hervor holen. (Siehe Ziffer 3). Dann wird rechtzeitig vor dem Wahltermin die Interessenverflechtung mit der Finanzwirtschaft rückerinnert und bekannt gemacht. Dann wird auch die wirtschaftspolitische und finanzpolitische Unfähigkeit dieses Kanzlerkandidaten thematisiert werden. Dann wird sichtbar werden, dass er alles andere als ein großes Licht ist. Dann wird man seinen schnoddrigen Ton nicht mehr bewundern, sondern darüber lästern.
Zweitens sagt die Popularität bei der Gesamtbevölkerung, also bei den Anhängern aller Parteien, reichlich wenig darüber aus, welchen Anteil ein solcher Kandidat dann für seine eigene Partei gewinnen kann. Das ist jedoch entscheidend. Mit Steinbrück würde es ungefähr so laufen wie zwischen 1974 und 1982 mit Helmut Schmidt. Man würde in konservativen Kreisen sagen: „Ein vernünftiger Mann, leider in der falschen Partei“. – Helmut Schmidt hat für seine Partei und die damalige SPD-FDP-Koalition schon bei der ersten Wahl im Herbst 1976 gegen den neuen Oppositionsführer Helmut Kohl nur mit äußerst knapper Mehrheit gewonnen, und dann 1980 so knapp, dass die Regierung 1982 nach nur zwei Jahren zu Ende war.
Drittens gewinnt ein Kandidat einer so genannten Volkspartei, was die SPD immer noch sein will und auch sein muss, wenn sie den Kanzler stellen will, nur dann, wenn sie breit antritt. Im konkreten Fall der SPD heißt dies, dass auch jene Wähler, die auf soziale Gerechtigkeit, auf soziale Sicherheit und auf aktive Beschäftigungspolitik pochen, sich in der Person des Kanzlerkandidaten wieder finden müssen. Das wird bei Steinbrück nicht der Fall sein. Er vertritt nur ein Segment des Potenzials der SPD.
Diese Tatsache dürfte einer der Gründe dafür gewesen sein, dass Steinbrück als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen abgewählt wurde.
Zur Erinnerung die Meldung von SPON:
22. Mai 2005, 23:22 Uhr
NRW-Wahl
SPD abgewählt, CDU triumphiert
Die letzte rot-grüne Landesregierung ist abgewählt. In Nordrhein-Westfalen müssen die Sozialdemokraten ihr schlechtestes Ergebnis seit 50 Jahren hinnehmen. Laut vorläufigem amtlichen Endergebnis kommt die SPD auf nur noch 37,1 Prozent. Die CDU erreicht 44,8 Prozent. Düsseldorf steht vor einem Regierungswechsel. (…)
Solche Meldungen werden bei der SPD Führung heute vermutlich im Panzerschrank aufbewahrt. Darauf können sich die Strategen der Finanzwirtschaft verlassen.
Es liegt im Interesse der Finanzwirtschaft, der SPD einen Kandidaten aufzuschwätzen, der geringe Siegeschancen hat. Im Interesse der SPD liegt das nicht. Aber die Interessen der SPD und ihrer Mitglieder spielen offensichtlich eine geringere Rolle bei der Wahl des eigenen Kanzlerkandidaten als die Interessen Dritter und Außenstehender. Die SPD ist fremdbestimmt. Diese Erkenntnis ist eine der wichtigen Kategorien für die Suche nach der Erklärung des Verhaltens ihrer Führung.
Das wissen die Strategen der Finanzwirtschaft. Sie wissen, dass sie mit dieser Parteiführung ein leichtes Spiel haben. Fairerweise muss man ergänzen, dass es um CDU, CSU, FDP, Grüne und mit den sogenannten Reformen bei der Linkspartei kaum anders bestellt ist.
3. Wenn Steinbrück trotz alledem die Wahlen gewinnen und Bundeskanzler werden sollte, dann ist das auch nicht schlimm, dann kann sich die Finanzwirtschaft darauf verlassen, dass er ihre Interessen wahrnimmt.
In den NachDenkSeiten wie auch in den Kritischen Jahrbüchern (zum Beispiel Kapitel 5) und in „Meinungsmache“ (zum Beispiel Kapitel 12) finden Sie Dutzende von Artikeln und Belegen dafür, wie Steinbrück als nordrhein-westfälischer Ministerpräsident und auch als Bundesfinanzminister den Interessen der Finanzwirtschaft gedient hat.
Ein paar Beispiele:
Dass Steinbrück in der Vergangenheit die Interessen der Finanzwirtschaft vertreten hat, ist heute verdrängt und vergessen. Das ist das Ergebnis des machtvollen Einflusses der Public Relations zu Gunsten des Aufbaus dieser Person zum potentiellen Kandidaten der SPD. Die totale Manipulation ist möglich. Das beweist dieser Vorgang wieder einmal.
4. Ein wichtiger Nebeneffekt für das konservative Lager: Nominiert die SPD Steinbrück, dann wird damit noch ein Stück weiter der Weg für Schwarz-Grün bereitet, falls es für Schwarz-Gelb nicht reicht.
Das ist ein wichtiger Nebeneffekt. So wie systematisch und wahrheitswidrig von einigen Journalisten, von Wissenschaftlern und Politikern in der Öffentlichkeit propagiert worden ist, die CDU der Angela Merkel sei „sozialdemokratisiert“ (Siehe z.B. hier) und wie damit eine Brücke für die Grünen zu Bündnissen mit der Union gebaut worden ist, so wird die Nominierung Steinbrücks als Kanzlerkandidat der SPD wie ein Brückenbau für die Grünen zu Gunsten von Schwarz-Grün wirken. Nahezu jedem potentiellen Wähler und vor allem den Mitgliedern der Grünen wird man vermitteln können, dass Angela Merkel auch nicht schlimmer sei als Steinbrück. Das wird Grünen, die wie der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann schon jetzt den Weg zu Schwarz-Grün bereiten, das Geschäft erleichtern.
Dass die SPD Führung diesen Nebeneffekt nicht erkennt, spricht dafür, dass die SPD Führung nicht durchblickt oder das es dieser Führung egal ist, ob sie den Kanzler stellt, oder ob sie als Anhängsel oder überhaupt nicht regiert. Oder es spricht dafür, dass die analytische Kraft der Führungskreise der SPD so schwach und dürftig ist, dass man dort solche wichtigen Nebeneffekte nicht mehr erkennt.
Die Kanzlerkandidatur Steinbrück ist das Kunstprodukt einer hoch effizienten und finanziell gut ausgestatteten PR-Maschinerie.
Sie sorgt dafür, dass Peer Steinbrück auf allen Kanälen propagiert wird. Wenn Sie bei Google heute „Kanzlerkandidat Steinbrück“ eingeben, werden Ihnen 6.140 Ergebnisse angezeigt. Die PR-Maschinerie sorgt vermutlich auch dafür, dass das ZDF Politikbarometer entsprechend arrangiert wurde. Wir wissen ja: Umfragen dienen nicht nur der Erhebung des Meinungsbildes, sondern auch der Meinungsmache.
Es ist davon auszugehen, dass die Finanzindustrie viele Millionen, vermutlich Hunderte von Millionen, in die Werbe- und PR-Wirtschaft pumpt. Leider gibt es dafür keine umfassenden Belege sondern immer nur Indizien. So zum Beispiel die massive Begleitung des Bundestagswahlkampfs 1998 durch Anzeigenkampagnen der Versicherungswirtschaft und Banken. So zum Beispiel die massiven Kampagnen über den demographischen Wandel und zu Gunsten der Privatisierung der Altersvorsorge, die der Finanzwirtschaft zugute kommt. So zum Beispiel die immer wiederkehrenden Behauptungen, die öffentlichen Banken seien die schlimmsten Versager. Das war eine wichtige Strategie zur Reinwaschung der privaten Banken im Zusammenhang mit der Rettung von IKB und HRE. Immer wieder tauchte damals zum Beispiel die Behauptung auf, die IKB sei eine öffentliche Bank. Das war sie nie und schon gar nicht, bevor die KfW von der Bundesregierung gezwungen wurde, bei dieser privaten Bank einzusteigen.
Die Mehrheit der Medien spielt das Spiel der Meinungsmache zu Gunsten der Finanzwirtschaft mit. Sie lassen Steinbrück hochleben, sie fragen nicht kritisch nach zu seinen bisherigen Taten zu Gunsten der Finanzwirtschaft, sie erwähnen nicht sein Scheitern als Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen und seine offenkundig mangelnde Attraktivität als Wahlkämpfer, sie beschreiben nicht seine wirtschaftspolitische Unfähigkeit, sie ergötzen sich an seiner relativ schnellen Sprache.
Dass die Medien so unkritisch sind, hat viel mit der wachsenden Abhängigkeit der meisten Medien von der werbetreibenden Wirtschaft zu tun. Das konnte man schon beim Wahlkampf 1998 beobachten, als die erwähnte Kampagne zu Gunsten der Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme lief. Das kann man heute an der Dominanz der Finanzwirtschaft bei Fernsehspots und Anzeigen beobachten.
Je mehr Abonnenten und Käufer die Medien verlieren, umso abhängiger werden sie von Werbung und PR. Heute regieren die großen Werbetreibenden in vielerlei Weise in die Redaktionen hinein.
Im Fall Steinbrück kann man leider auch beobachten, wie wenig resistent das so genannte gebildete Bürgertum gegen Propagandaaktionen ist. Man begegnet auffallend häufig Vertretern dieses Milieus, von denen man nicht erwartet hätte, dass sie bewundernd glauben, was über Peer Steinbrück erzählt wird, dass sie den Umfragen glauben, dass sie so vergesslich sind wie die Bildzeitungsleser und seine Taten, die zum Teil ja nur drei Jahre zurückliegen, als Urteilskriterien schlicht ausblenden.
Übrigens hat der amerikanische Wissenschaftler Robert W. McChesney schon in den neunziger Jahren ein interessantes Buch über das Zusammenspiel von Madison Avenue, der Adresse der Werbewirtschaft in New York, und Wall Street veröffentlicht. „Rich Media. Poor Democracy“ war sein Titel.
Wenn die Finanzwirtschaft die sie betreffende Gesetzgebung bestimmt, wenn die Finanzwirtschaft amerikanische Präsidenten macht und de facto den Kanzlerkandidaten der ältesten deutschen Partei kürt, dann ist die Demokratie in Not. Dann funktioniert das System nicht mehr und es wäre eine Systemänderung fällig.
McChesney sprach von Poor Democrsacy. Sie ist in der Tat arm dran, wenn die Politik in den Fängen der Finanzwirtschaft ist, wie wir in den NachDenkSeiten schon oft geschrieben und dies auch belegt haben (Siehe die Serie Finanzkrise und politische Korruption). Beim Pleisweiler Gespräch vom 5. Juni wie auch in ihrem Buch „Freiheit statt Kapitalismus“ hat Sahra Wagenknecht genau auf diese Zerstörung der Demokratie hingewiesen und Vorschläge zur Linderung der Gefahren gemacht. Sie will das System zumindest insoweit verändern, als Banken, Versicherungen und andere Akteure der Finanzwirtschaft in öffentliche Hand übernommen werden und im öffentlichen Interesse reguliert werden sollen – ähnlich wie bisher die Sparkassen.
Des Öfteren bemängeln Leserinnen und Leser der NachDenkSeiten, dass sie bei uns in der Regel Änderungsvorschläge finden, die das System, wie sie es nennen, nicht infrage stellen. Ich habe bei solcher Kritik bisher meist kritisch nachgefragt, was man mit Systemänderung meint. Nach den Gesprächen mit Sahra Wagenknecht bin ich etwas vorsichtiger geworden. Wir schreiben ja selbst, wie zuvor berichtet, die Finanzwirtschaft bestimme weit gehend, was bei uns geschieht:
Wenn man die Verhältnisse so hart analysiert, dann muss man auch bereit sein, über eine Änderung des Systems nachzudenken. Deshalb habe ich mit der Forderung, die Banken und Versicherungen in öffentliche Verantwortung zu übernehmen, keine Probleme. Allerdings muss ich vorübergehend einwenden, dass die Übernahme der Banken und Versicherungen in öffentliches Eigentum nichts nutzt, wenn dann Finanzminister wie Schäuble, Steinbrück und Eichel oder ihre Staatssekretäre und Mitarbeiter vom Schlage Asmussen, Weidmann und Caio Koch-Weser bestimmen, was in diesen Unternehmen geschieht. Sahra Wagenknecht verlangt deshalb Gesetze, die die verstaatlichten, öffentlichen Banken verpflichten, auch wirklich im öffentlichen Interesse zu handeln. Das kann helfen und wirklich eine Änderung grundlegender Art bewirken. Wenn man will, kann man dies „Systemänderung“ nennen.
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