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Titel: Vorschlag zur Güte – „Vize“ sollte der neue Meistertitel der Fußball-Bundesliga heißen
Datum: 20. Mai 2023 um 14:00 Uhr
Rubrik: Innen- und Gesellschaftspolitik, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
‘Man schreibt das Jahr 2032, Deutschlands Fußballfans jubeln: Zum 20. Mal hintereinander holt der FC Bayern München den Titel der 1. Bundesliga. Die Konkurrenz hat sich längst der Marktherrschaft des Imperiums auf alles, was mit Fußball zu tun hat, gebeugt.’ Huch. Ich wache auf, das war lediglich ein Traum. Ich stelle, in meiner FC-Bayern-Fan-Bettwäsche liegend, schweißgebadet fest, dass der Traum des Dauersiegens zur Hälfte (zeitlich betrachtet, wir schreiben 2023) in der Tat schon wahr geworden ist. Ein sportlich-ironischer Einwurf von Frank Blenz.
An diesem Wochenende oder am nächsten erfahren wir die Antworten auf die Fragen: Wie geht die Geschichte weiter? Soll das mit dem ständigen Triumphieren der Münchener bei der zweitwichtigsten Nebensache für uns Deutsche wirklich so bleiben? Oder dreht sich das mal? Wenn Bayern siegt, dann ändert sich das in der nächsten Saison, vielleicht – oder auch nicht. Die laufende Saison endet aktuell wenig ruhmreich, weil von einer unangenehmen Art Zerrung geredet und geschimpft wird.
Mehr Anstoßzeiten bringen mehr Geld
Jeder noch so gutgläubige Fan und Experte fühlt, dass die Macher der Bundesliga sich nicht darauf besinnen, die 1. Liga zu einer Meisterschaft auf Augenhöhe werden zu lassen. Der Protest der Fußballgemeinde, der Zuschauer, der Kommentatoren, der Schreiber in den Redaktionsstuben, der Fußballspieler, der Trainer fixiert sich auf ein Wort: Wettbewerbsverzerrung. Ui, ui. Damit wird nicht etwa die generelle Ungleichheit im sportlichen Wettstreit der Profi-Fußball-Bundesliga infrage gestellt. Nein. Maximal wird beklagt, dass dieses Wochenende, Zeitfenster des 33. Spieltages von 34, zu einem Gestückel des Spiele Anpfeifens der neun Partien wird. Die Wochenzeitung Die Zeit hat ihren Autor ein wenig schimpfen lassen, der hat das „Hätte, Tätte, Fahrradkette“ zum offensichtlich ungleichen Zieleinlauf der Fußballgiganten aufgeschrieben:
Für nahezu alle Mannschaften, die noch sportlich relevante Spiele bestreiten müssen, könnte sich die Ausgangslage bereits vor Anpfiff der eigenen Partie entscheidend geändert haben: Verliert etwa Freiburg am Freitag gegen Wolfsburg, spielen Leipzig sicher und Union ziemlich sicher Champions League in der kommenden Saison. Das wiederum könnte großen Einfluss auf die Spiele beider Teams haben. Union spielt am Samstag, 15:30 Uhr, in Hoffenheim. Die Hoffenheimer stecken im Abstiegskampf und könnten bereits an diesem Spieltag auf den 17. Platz abrutschen. Hoffenheim wird also den Wolfsburgern die Daumen drücken, in der Hoffnung, Union könnte es gegen sie dann etwas ruhiger angehen lassen. Bochum, Schalke und Stuttgart, Hoffenheims Konkurrenten im Abstiegskampf, würden sich hingegen ein Union Berlin wünschen, das noch mit absolutem Siegeswillen antritt.
Eine ähnliche Folge hätte eine Freiburger Niederlage auch für das Spiel in München und damit den Kampf um die Meisterschaft. Dort ist Leipzig am Samstagabend zu Gast, aber Leipzig muss dort womöglich gar nichts mehr reißen, was wiederum den Bayern-Konkurrenten aus Dortmund ärgern würde. Umgekehrt könnte auch Dortmund vom gestückelten Spieltag profitieren: Da alle Konkurrenten im Abstiegskampf bereits vor dem Spiel in Dortmund im Einsatz waren, könnten die Augsburger schon vor Anpfiff den Klassenerhalt bejubeln und es gegen den BVB etwas lockerer angehen lassen.
Der Grund für die Entzerrung, bei der die Teilnehmer zu unterschiedlichen Zeiten und Tagen im selben Wettbewerb antreten, lautet laut Die Zeit so. Und im nächsten Satz liefert der Autor einen kleinen Protest hinterher:
Die Erklärung: Mehr Anstoßzeiten sorgen für mehr Sendezeit und damit für mehr Geld. Das aber greift in den Wettbewerb ein, verzerrt ihn.
Aha. Verschiedene Anstoßzeiten verzerren also den Wettbewerb. Stimmt. Besonders am Spieltag 33. Vorher etwa nicht? Die ganze Saison ist eine der verschiedensten Anstoßzeiten… Weil wir schon mal über Verzerrungen und Ungleichheiten reden, mir als Fußballfan fallen einige Punkte zum Thema ein. Ich stehe aus meiner Bayern-Bettwäsche auf und gestehe, dass mir das keinen Spaß mehr macht – schon lange nicht mehr. Und der gute alte Uli, der geht mir auch auf die Nerven. Dieses „Wir sind wir“, dieses ständig auf Platz 1 sein wollen. Wollen ist berechtigt, die eigene Marktmacht aber so einzusetzen, dass die Startbedingungen für alle von Beginn an ungerecht und nicht auf Augenhöhe sind, ist monopolistisch. Gut, wenn es diesmal wieder gelingt, sei Uli, der ja in Rente ist (eigentlich), und seiner Truppe der 1. Platz zum elften Mal hintereinander gegönnt. Dann können sich die anderen dahinter verabreden und den Namen „Vize“ zum eigentlichen Championatstitel erheben. Zweiter ist auch schön.
Mein Freund Uwe, ein alter Bayern-Fan, der hat sogar ‘ne große rot-weiß-rote Fahne im Gartengrundstück stehen, doch freut sich der eingefleischte Freund des FCB nicht mehr so richtig, wenn in München schon wieder die Meisterschale hochgehalten wird. Wir haben 2021 mit dem Zählen aufgehört. Es gibt aber Kritiker von uns zweien (wir sind sozusagen in der Fangemeinde unter Kollegen „umstritten“), die weiterhin trotzig und nicht siegesmüde rufen und finden: „Das liegt nicht an den Bayern, das liegt daran, weil die anderen sich so doof anstellen – und das seit Jahren.“
Ist das wirklich so? Vor Kurzem las ich in einer Buchhandlung, ach wie schön altmodisch, hier und da ein paar Seiten eines Buches über Fußball, konkret über unseren Uli Hoeneß, eine der einst polarisierendsten Personen im Fußballgeschäft. Ich erfuhr, dass der sich immer auf Samstag 15.30 Uhr freut. Früher war das tatsächlich so, um diese Uhrzeit begannen alle Spiele der 1. Bundesliga, wie fair und transparent, der Samstag war gerettet, reserviert, alle anderen Dinge wurden unwichtig, das Wochenende nahm Fahrt auf. Ich lächelte, mir gefiel das auch immer.
Inzwischen hatten der Uli und jetzt seine professionellen Kollegen im Geschäft „Profifußball“ mit dafür gesorgt, dass der Spieltag ordentlich marktkonform „entzerrt“ wird (also die feine Variante von „verzerrt“) – es ist ja auch nicht darstellbar, dass neun Spiele gleichzeitig stattfinden. So schön gestreckt von Freitag bis Sonntag wird das gleich zu einer Dauerparty, so wie in der Techno-Disko von Freitagabend bis Sonntagabend. Spannung hochhalten, die Leute an den Apparaten halten, moderne Zeiten machen wunderbar möglich, dass man per Abo feine Live-Übertragungen präsentiert bekommt. Zum Abo habe ich dann auch noch ein Quiz gewonnen: Bettwäsche vom FCB.
Ich seufze. Die guten alten Zeiten. War da was mit Sportschau? Vom Osten ganz zu schweigen, da gab es „Sport aktuell“ und die Oberliga – tatsächlich wie bei den Brüdern und Schwestern im Westen am Samstag, in voller Größe, ein Spieltag. Mit der heutigen Ent(ver)zerrung ist im Gegensatz zur alten, uninnovativen Gleichzeitigkeit aber viel, viel mehr Geld zu machen – wissen bis heute Uli und Kollegen (siehe Die Zeit-Feststellung). Dass dabei der Wettbewerb leidet, Mannschaften untereinander Vergleiche anstellen und reagieren können, geschenkt. Nur ist es einfach so: Wenn man weiß, der Konkurrent hat nur 1:0 gewonnen, dann geht man halt auf zwei Tore Vorsprung. Gibt es Protest in der Liga? Nein, alle halten die Füße still. Jetzt zum Saisonausklang heben einige halbherzig „Das aber muss mal gesagt werden“ die Stimme. Doch bleiben der Wettbewerb, die Fairness zweiter Sieger. Der Markt richtet es, wie Uli das bis heute klasse findet. Und der Marktführer ist und bleibt der FCB.
Die Privilegien-Liste des Meisters
Mein Fußballfreund Uwe und ich sammelten nach heftigen Fußballexperten-Gesprächen (und ja, wir sind auch fähig, Bundestrainer zu sein) Fakten über die Bayern, über die Bundesliga und über gefühlte Vorteile und Bevorteilungen, die dazu führ(t)en, dass am Ende der Bundesligasaison seit einer Dekade die Münchner vorn stehen.
Unser Dauermeister hat den höchsten Finanzetat, Bayern hat den stabilsten, internationalsten Kader (und Marktwert), der auch mal sehr clever und wenig diplomatisch eingekauft wird, die besten Verträge in Sachen Werbung, den größten Fanclub, die besten Verbindungen selbst bis tief hinein in den finanzstarken Orient. Ihre Titel privilegieren sie – sie erhalten die meisten Gelder aus dem TV-Geschäft und aus den Töpfen der internationalen Wettbewerbe. Sie werden mächtiger, reicher, satter. Zufriedener? Nein, noch hungriger. Die Konkurrenz? Sie hinkt hinterher, der Abstand in vielen Bereichen zu den Münchnern – der vergrößert sich, statt dass die Liga zusammenrückt. Damit der Abstand so bleibt, ziehen die Bayern seit Jahr und Tag alle Register. Schon in den 1970er- und 1980er-Jahren schnappten sie bekanntermaßen und viel beklagt von der Konkurrenz Dortmund oder Gladbach die besten Leute weg, in den vergangenen Jahren stand der RB Leipzig im Rampenlicht des Bayern-Kaderschmiede-Interesses. Und die Wettbewerbshüter, die Organisatoren, die Vereinsbosse im ganzen Land unternehmen nichts, um die Stopptaste zu drücken und das ganze Ding Bundesliga neu zu starten. Verteilung, Chancengleichheit, gleiche Anstoßzeit Samstag 15.30 Uhr. Wäre doch was, oder?
Dusel
Das Wort „Dusel“ fällt. Kennen Sie das noch schönere Wort „Bayerndusel“? Dusel steht für Glück. Im Fußball braucht man davon ab und an ein wenig oder etwas mehr. Zur Freude von uns Fans, Mensch, zehn Mal Meister sind wir, und zwar hintereinander (!), schon geworden. Nebenbei, bei so einem Klasseverein wie dem FCB braucht es Dusel eigentlich nicht, die Jungs aus der Weltstadt mit Herz haben so viel Biss und Können… Doch manchmal…
Wir „Fußballexperten“ haben dann sogar gelesen, dass es wissenschaftliche Studien zum Thema Bayerndusel gibt, bei denen auf die Frage, ob Schiedsrichter in strittigen Situationen im Zweifel für Bayern pfeifen, eine bemerkenswerte Antwort folgte. Bei Elfmetern, Gelben und Roten Karten, Freistößen oder Eckstößen – in fünf von sechs Kategorien profitierte München am häufigsten im Vergleich zu anderen Vereinen von Fehlpfiffen. Ein Grund für dieses Wunder, diesen Dusel wurde genannt: das Image des FCB. Wir stimmen zu, das ist so, wenn die Bayern anreisen, wenn die auf den Rasen treten, ja erscheinen, dann ist der Meister in der Stadt. Da kommen Respekt und Ehrfurcht auf.
Noch zwei Mal rollt der Fußball in der Bundesliga. Die zur Neige gehende Saison war wieder anstrengend für uns Fans, die dazugehörenden 34 Spieltage verteilten sich wunderbar auf gefühlte 120 Wochentage. Der neue Meister könnte wie zehn Jahre vorher, mal 34 Spieltage, mal 120 Wochentage wieder die „Wir-sind-wir-Truppe“ aus der bayerischen Weltstadt mit Herz werden, sie steht auf Platz 1 und hat ein imposantes Toreplus vor dem Zweiten, der Borussia aus Dortmund. Zerrung hin oder her, ich lege mich in meine Bayern-Bettwäsche in die Koje und hoffe auf einen fairen Ausgang der Geschichte.
Titelbild: Christian Bertrand/shutterstock.com
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