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Titel: Kein Anschluss unter dieser Nummer: Der Ostdeutsche soll immer aufs Neue „beitreten“
Datum: 12. Mai 2023 um 14:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Innen- und Gesellschaftspolitik, Rezensionen
Verantwortlich: Redaktion
Dirk Oschmann schreibt in seinem Buch „Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“ über das anhaltende Missverhältnis zwischen Ost und West. Eine befreiende Lektüre, die aber auch schmerzhaft ist: Denn Stück für Stück fallen einem diverse Diskriminierungen ein, die man schweigend über sich ergehen ließ und verdrängte. Dirk Oschmann verschafft Menschen im Osten Genugtuung und kann Bürgern im Westen beim Verständnis helfen. Von Irmtraud Gutschke.
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Zehn Auflagen in nur drei Monaten: Die Resonanz von Dirk Oschmanns Buch ist riesig. Im Titel steckt – absichtsvoll wohl – eine Irritation: „Der Osten eine westdeutsche Erfindung“. Wie könnte eine Himmelsrichtung erfunden sein? In dem Sinne, dass sich mit der Bezeichnungen „Osten“ bei vielen negative Zuschreibungen verbinden, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg ungebrochen fortgesetzt haben. Die BRD sah sich als „Deutschland“, die DDR war die „Ostzone“, rückständig und grau. „Blühende Landschaften“? Während Helmut Kohl derlei Versprechen machte, haben westdeutsche Beamte zur Entschädigung eine „Buschzulage“ bekommen, wenn sie sich nach dem Beitritt der DDR zur BRD in die hiesige Wildnis wagten. Koloniales Gedankengut lässt grüßen. Wiedervereinigung? Das war es eben nicht. Es ist ein Beitritt gewesen, bei dem die Ostdeutschen nie gleichberechtigt waren. Sie blieben die „armen Verwandten“.
Dass es der Bundesrepublik damals schon aus demokratietheoretischen und symbolischen Erwägungen gut angestanden hätte, „sich eine neue gemeinsame Verfassung zu geben und eine neue gemeinsame Hymne, statt die von den ersten beiden Strophen chauvinistisch verseuchte beizubehalten“, dazu möchte man Dirk Oschmann Beifall spenden. „Der Westen aber hat gedacht, er müsse sich nicht ändern und könne einfach Westen bleiben, während zugleich der Osten natürlich Westen werden sollte, obwohl im selben Moment alles dafür getan wurde, ihn erst eigentlich zum ‚Osten‘ zu machen.“ Das sei „zweifellos ein kapitaler Irrtum und ein schwerer Geburtsfehler“ gewesen. Aber eigentlich war es doch Absicht, oder?
Die deutsch-deutsche Grenze markierte 40 Jahre lang den Zusammenprall zweier politischer Systeme, die sich in einem Kalten Krieg befanden. Deutschland wurde in Folge des Zweiten Weltkriegs geteilt – in eine westliche und eine östliche Einflusssphäre. Die BRD hing am Gängelband der USA. Und die DDR gehörte zum sowjetischen Imperium, bis dieses von Michail Gorbatschow aufgelöst wurde. Aus wirtschaftlicher Not, aus der er eine Tugend zu machen gedachte. Es war sein Traum, unter den Kalten Krieg einen Schlussstrich zu ziehen, die lebensgefährliche Konfrontation durch Atomwaffen auf beiden Seiten zu beenden und ein gemeinsames europäisches Haus zu bauen, von Lissabon bis Wladiwostok. Die „Charta von Paris“ ist am 21. November 1990 als Schlussdokument der KSZE-Sondergipfelkonferenz von 32 europäischen Ländern sowie den USA und Kanada unterschrieben worden. Eine Sicherheitsordnung in Europa – wer darauf hoffte, wurde getäuscht.
Der Zerfall der UdSSR wurde jenseits des Atlantiks als Sieg begriffen, als Chance, die eigene Macht auszudehnen. Eine europäische Friedensordnung unter Einschluss Russlands war nicht im US-Interesse. Siehe Francis Fukuyamas These vom Ende der Geschichte: „Die amerikanische Zivilisation würde … zur unumstrittenen Manifestation von Moderne und Fortschritt, globale Präsenz erlangen und wie eine ‚natürliche Ordnung‘ erscheinen.“
Aus der Nichtanerkennung der DDR entstand eine Kluft
Und auch an die Volkskammerwahl vom 18. März 1990 sei erinnert, bei der das gerade erst gegründete Bündnis „Allianz für Deutschland“ unter Vorsitz der CDU 48 Prozent der Stimmen erhielt, womit der Weg frei war für einen Beitritt der DDR zum politischen System der BRD nach Artikel 23 des Grundgesetzes. Der Wortlaut ist bezeichnend: „Dieses Grundgesetz gilt zunächst im Gebiete der Länder Baden, Bayern, Bremen, Groß-Berlin, Hamburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein, Württemberg-Baden und Württemberg-Hohenzollern. In anderen Teilen Deutschlands ist es nach deren Beitritt in Kraft zu setzen.“ In anderen Teilen Deutschlands – interessant. Obwohl die Realität dagegen sprach, seitens der BRD ist die DDR nie als souveräner Staat anerkannt worden. Und diese Missachtung setzte sich fort.
„Kein Anschluss unter dieser Nummer – PDS“ stand damals auf den Wahlplakaten mit dem Konterfei von Gregor Gysi. Aus einer Vereinigung nach Artikel 146 GG wäre tatsächlich ein anderes Deutschland mit einer neuen Verfassung hervorgegangen. Für einen behutsamen Weg der Annäherung hat damals bekanntlich auch der SPD-Kanzlerkandidat Oskar Lafontaine plädiert. Noch im Herbst 1989 hatte es eine Mehrheit für Reformen in der DDR gegeben. Selbst Helmut Kohl hat davon gesprochen. Wie eine beispiellose Medienkampagne im Sinne der CDU für einen Stimmungsumschwung sorgte, haben Daniela Dahn und Rainer Mausfeld in ihrem Buch „Tamtam und Tabu“ untersucht. Wie überhaupt insbesondere die Bücher von Daniela Dahn, beginnend mit „Wir bleiben hier oder Wem gehört der Osten“ (1994), ein Beispiel für ostdeutsches Selbstbewusstsein sind.
Permanente Entwertungserfahrung
Dirk Oschmann klammert politisch-ökonomische Sachverhalte weitgehend aus, absichtsvoll, wie er zugibt. Dass die heutige Situation auch in der Nichtanerkennung der DDR wurzelte, ja dass es in der BRD die Hallstein-Doktrin gab, nach der die Bundesregierung es als einen “unfreundlichen Akt” betrachte, wenn dritte Staaten die DDR völkerrechtlich anerkennen, mit ihr diplomatische Beziehungen aufnehmen oder aufrechterhalten, wäre ein wichtiger Hintergrund gewesen, aber vielleicht auch ein Hindernis für die Rezeption des Buches im Westen. Weil es ihm um eine gesamtdeutschen Diskurs ging, hat Dirk Oschmann die vielen ideologischen Fettnäpfchen nur gestreift, die in diesem Terrain aufgestellt sind. Aber er ist über alles im Bilde, wie man beim Lesen merkt. Er sieht sich einem vielgestaltigen Publikum gegenüber, das er erreichen, vielleicht auch aufstören, auf das hinlenken will, was ihm am wichtigsten ist: dass sich die ohnehin vorhandene gesellschaftliche Spaltung noch vertieft, wenn der Westen den Osten links liegen lässt und nur mit sich im Selbstgespräch ist. So polemisch seine Ausführungen sind, können sie nicht einfach zurückgewiesen werden. Mit dem Hinweis eines „undifferenzierten“ Befunds wurde das natürlich in Rezensionen versucht, aber so persönlich, wie der Text formuliert ist, so aufrichtig, wie sich der Autor zu erkennen gibt, auch und besonders in seinem Betroffensein, muss es auch vor einem anderen sozialen Hintergrund ernst genommen und verstanden werden.
Dirk Oschmann, 1967 in Gotha geboren, ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Leipzig, also einer der ganz wenigen Ost-Professoren, die es in Deutschland gibt. Es ist ihm klar: Wäre er nur zehn Jahre früher geboren, hätte er sein Studium in Jena nicht in den USA fortsetzen können, was ihm für seine Berufung zugutekam. Die Erfahrung, dennoch in der Rolle eines „role models“ aus dem Osten zu sein, brachte ihn zu dem Artikel „Wie sich der Westen den Osten erfindet“, veröffentlich in der FAZ am 4. Februar 2022. Den Reaktionen darauf ist im Buch ein ganzes Kapitel gewidmet.
Es ist ein, wie gesagt, großer Vorzug des Textes, dass er aus solcher persönlicher Verletzung entstand und in der Person des Autors eine Unangreifbarkeit behält. In gewisser Weise kann er an jene identitätspolitische Debatte anknüpfen, die in den Medien (und in vielen Köpfen) bereits verankert ist. Wenn er von einer „andauernden, derzeit sogar noch wachsenden Stigmatisierung“ spricht, die „sich mit einer Herkunft aus dem Osten verbindet“, einer permanenten Entwertungserfahrung, zieht er indes keine simple Parallele.
„Der bestehende Ost-West-Konflikt ist nicht einfach ein weiterer Teil der gesamtgesellschaftlich geführten Ungleichheitsdebatte über race, class, gender and age. Befördert durch die klaren geografischen und vermeintlich ebenso klaren historischen Konturen, ist hier eine soziale, ökonomische und diskursive Ungleichheit entstanden, die als Herkunft, mithin als place, zu allen anderen ohnehin bestehenden Ungleichheiten hinzukommt. Anders gesagt: Eine Herkunft aus dem Osten verschärft die allgemeine Herkunftsbenachteiligung der sozial Schwachen und mindert die Lebenschancen erheblich.“
Ein „Geschwür“, das dauerhaft Schmerzen bereitet
Von der geographical pay gap ist die Rede: Lohnunterschiede von 22,4 Prozent bei vergleichbarer Tätigkeit. Davon, wie vielen Ostdeutschen zu Beginn der Neunzigerjahre der Boden unter den Füßen „komplett weggezogen wurde, weil sie ihre Arbeit, ihre Grundstücke, ihr Weltvertrauen verloren haben“. Bezeichnend ist doch, dass der Anteil Ostdeutscher in Spitzenpositionen auch heute nur 1,7 Prozent beträgt. (Wobei ja nicht sicher ist, ob das Sich-Hocharbeiten-Müssen nicht umso mehr Anpassung erzeugt, wie ich meine.) Dirk Oschmann: „Der Ostdeutsche soll offenbar im Modus der Daueraffirmation existieren“, indem er über den Osten sagt, was der Westen sich vom Osten denkt. Er soll immer wieder aufs Neue ‚beitreten‘“, was heißt, „der geltenden Norm beizupflichten, sie vollumfänglich anzuerkennen und sich ihr letztlich unterzuordnen“. Dafür ist ein Exempel statuiert worden, nicht nur wenn man an das Evaluierungsprozedere an Hochschulen denkt, wo sich kaum mehr ein Ost-Professor halten konnte. Überall wurde mit eisernem Besen ausgekehrt. Dass von der DDR überhaupt nichts Erhaltenswertes übrigbleiben sollte, war eine Demütigung, die manchem erst später bewusst geworden ist. In Vereinigungsillusionen befangen, verstand man das nicht. So weh es auch tut, Hermann Kant brachte es auf den Punkt: „Wo gesiegt wird, wird zu Ende gesiegt.“
Aber auch Schriftsteller und bildende Künstler hat es getroffen, die in Zeiten der Zweistaatlichkeit als „regimekritisch“ galten: Christa Wolf, Heiner Müller, Stephan Hermlin, Stefan Heim, Christoph Hein. Bilder wurden abgehängt und ins Depot verfrachtet. Der „Bilderstreit“ gipfelte in der Gleichsetzung von DDR-Kunst mit der aus dem Dritten Reich. Ein ganzes Kapitel widmet Dirk Oschmann dieser „Fortführung des Kalten Krieges“ mit anderen Mitteln. Da wird aus einem Artikel von Ulrich Greiner vom 2. November 1990 in der ZEIT zitiert: „Es geht um die Deutung der literarischen Vergangenheit und um die Durchsetzung einer Lesart. Das ist keine akademische Frage. Wer bestimmt, was gewesen ist, der bestimmt auch was sein wird.“
Klarer kann es nicht ausgedrückt werden. Wer bestimmt – das ist die Frage, auf die sich Dirk Oschmann konzentriert. Der „öffentliche Raum als ökonomischer, medialer und diskursiver Raum ist nicht nur komplett in westdeutscher Hand, sondern normalerweise auch vollständig von westdeutschen Perspektiven beherrscht“. Einwenden ließe sich, dass „Ost-West“ zu kurz greift, wenn es um systemkritische Perspektiven geht. Aber was zweifellos stimmt: dass Erfahrungen aus der BRD-Sozialisation verabsolutiert und andere überhaupt nicht in Betracht gezogen werden, was im günstigsten Falle ein tumber Egozentrismus ist. Und dies passt sich in eine Ideologie ein, wie ich meine, Kritik an den herrschenden Verhältnissen, die im Osten stärker ist, zu zerstreuen und zu diskreditieren. Dabei begreift „sich der Westen stets als Norm und sieht den Osten nur als Abweichung, als Abnormalität, Abnormität. Der Osten erscheint als Geschwür am Körper des Westens, das ihm dauerhaft Schmerzen bereitet und das er nicht wieder los wird. Darum stört es den westdeutschen Wohlfühl- und Diskurskonsens …, wenn das Geschwür sich regt, weil jemand aus dem ‚Osten‘ spricht. Der Westen muss aber begreifen, dass er nicht die ‚Norm‘ ist und schon gar nicht normal.“
Wortmächtige Polemik: zorngesättigt und frei
Befreiende Lektüre, die auch schmerzhaft ist. Eine Hellsichtigkeit setzt ein, Erinnerungen kommen hoch. Denn Stück für Stück fallen einem diverse Diskriminierungen ein, die man schweigend über sich ergehen ließ und verdrängte, Anpassungsleistungen, die man für normal hielt. Dirk Oschmann verschafft Menschen im Osten Genugtuung und hilft denen im Westen, die sich ein demokratisches Miteinander wünschen und nicht verstehen, warum das so schwierig ist. Verstehen: Noch immer wird der „Osten“ als „homogenes Gebilde ohne regionale Eigenheiten gefasst, förmlich als Block, den man 1990 zwar verschluckt, aber immer noch nicht verdaut hat, ja an dem man immer noch würgt, weil die westdeutsche Peristaltik auf so eine Mahlzeit mit Nebenwirkungen nicht vorbereitet war“.
Wortmächtige Polemik: „Denn ich sage ja nichts Neues“, heißt es gegen Schluss, „aber ich sage es hoffentlich anders: zorngesättigt und frei. Ein solches Reden halte ich in einer freien Gesellschaft für angemessen, vor allem in einer Gesellschaft, die immerfort das Wort ‚Freiheit‘ als größten Wert im Munde führt.“
Dirk Oschmann: Der Osten: eine westdeutsche Erfindung. Ullstein, 222 S., geb., 19,99 €. Buchvorstellung und Gespräch mit Dirk Oschmann am 12. Juni, 18 Uhr, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin.
Titelbild: CalypsoArt / Shutterstock
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