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Titel: Stimmen aus Lateinamerika: Lektionen aus Paraguay
Datum: 14. Mai 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: Erosion der Demokratie, Innen- und Gesellschaftspolitik, Länderberichte, Lobbyismus und politische Korruption, Wahlen
Verantwortlich: Redaktion
Niemand hatte eine so große Niederlage vorausgesagt. Nicht nur die Umfragen – die ein technisches Unentschieden vorhersagten – lagen völlig daneben, sondern auch die meisten Analysen und Vorhersagen der vielen Personen, mit denen wir in den Tagen vor den Wahlen in Asunción sprachen. Wieder einmal ist die Strategie gescheitert, auf Bündnisse mit konservativen Kräften zu setzen und gemäßigte, versöhnliche Positionen einzunehmen. Von Gerardo Szalkowicz.
Die allmächtige Colorado-Partei befand sich in ihrem schlimmsten Moment und erzielte dennoch ihr bestes Ergebnis seit 1989: Sie gewann die Präsidentschaft mit 15 Prozentpunkten Vorsprung, wird in beiden Parlamentskammern die absolute Mehrheit haben und hat 15 der 17 Gouverneursämter gewonnen. Sie hat ihre enorme Wahl-, Sozial- und Identitätsmaschinerie bestätigt und wird weiter die paraguayische Politik monopolisieren, wie sie es seit mehr als sieben Jahrzehnten getan hat – trotz des Verlustes der Unterstützung der USA und eines großen Teils des Medienkonglomerats.
Über die historischen Besonderheiten dieses etwas isolierten und vernachlässigten Landes hinaus: Wie sind die Ergebnisse der Wahlen in Paraguay aus lateinamerikanischer Sicht zu interpretieren? Welche Anmerkungen sollten gemacht werden, insbesondere nach dem Auftauchen einer exzentrischen und undurchsichtigen Figur wie Payo Cubas und einer progressiven Bewegung, die nach 15 Jahren marginal geworden ist?
Der Parteienstaat
Abgesehen von einigen Ähnlichkeiten mit der ehemaligen mexikanischen „Partei der institutionalisierten Revolution” gibt es in der Region keine Erfahrung mit einer politischen Kraft mit einer so starken und dauerhaften historischen Vormachtstellung. Die Colorado-Partei hat 76 Jahre lang regiert, einschließlich der 35 Jahre Diktatur (1954 bis 1989) unter Alfredo Stroessner, mit der einzigen Ausnahme der Regierung von Fernando Lugo, die 2012 durch einen parlamentarischen Staatsstreich abgesetzt wurde.
Die Omnipräsenz ist total. Die Partei ersetzt oft öffentliche Einrichtungen und fungiert als Parastaat; wenn man irgendwas regeln muss oder ein Verfahren beschleunigen will, wendet man sich zuerst an ein Colorado-Parteibüro. Die Zugehörigkeit schafft eine Identität, die in der Familie weitergegeben wird und sich durch alle sozialen Schichten zieht. Ihre aktive Rolle in der Diktatur, ihre obszöne Korruption und ihre Verbindungen zu den Mafias und zum Drogenhandel spielen keine Rolle: Sie hat einen unerschütterlichen harten Kern. Ein Machtgefüge, das sich auch auf eine Architektur des Klientelismus und der Pfründe stützt, und diese Wählerschaft mit verschiedenen Tricks und unverhohlenem Stimmenkauf mästet. Der Sonntag war keine Ausnahme, und deshalb sind die Anhänger von Payo seit Montag auf der Straße und prangern Wahlbetrug an.
Für diese Wahlen ging die Partei sehr geschwächt ins Rennen. Ein heftiger interner Streit zwischen der Fraktion um den derzeitigen Präsidenten Mario Abdo – Sohn von Stroessners rechter Hand – und der von Ex-Präsident Horacio Cartes, den die USA der „erheblichen Korruption” beschuldigen und seine Bankkonten einfroren, schränkte die finanziellen und propagandistischen Möglichkeiten der Partei ein. Dennoch hat der Großunternehmer Cartes, dem die Hälfte des Landes gehört, seinen Kandidaten bei den internen Wahlen im Dezember aufgestellt. Dennoch gewann sein Küken Santiago Peña, ein 44-jähriger Ökonom und ehemaliger Mitarbeiter des Internationalen Währungsfonds, mit einem Erdrutschsieg, und auf dem Siegesbild am Sonntagabend stellte er seinen Mentor, den großen Gewinner des Tages, in die Mitte.
Ein unergründliches Phänomen
In den Tagen vor den Wahlen wurde in Gesprächen mit einfachen Leuten in den stillen, herbstlichen Straßen von Asunción (auf der Südhalbkugel ist derzeit Herbst) eine Flut von Stimmen für Paraguayo „Payo” Cubas vorausgesagt. Am Ende kam er mit seinem kometenhaften Aufstieg auf 23 Prozent, nur vier Punkte hinter der großen Oppositionskoalition, der er offensichtlich eine ganze Reihe von Stimmen gestohlen hatte. Der Eindruck, der sich in der Zusammensetzung der anschließenden Proteste bestätigt, ist, dass er es geschafft hat, sich mit diesem unzufriedenen Universum zu verbinden, das meist jung und eher unpolitisch ist, die Hegemonie der Colorado-Partei satt und dringende Bedürfnisse hat, die angegangen werden müssen. Zweifellos wird Cubas der große Protagonist der Opposition in den nächsten fünf Jahren sein.
Doch wer ist diese groteske Gestalt? Einige Analysen haben ihn vorschnell in den wachsenden Club der Ultrarechten gestellt, neben [Ex-US-Präsident Donald] Trump, [Brasiliens Ex-Präsident Jair] Bolsonaro, [der argentinische Abgeordnete Javier] Milei und Co. Obwohl er einige Eigenschaften (Autoritarismus, Gewalt, Frauenfeindlichkeit) mit ihnen teilt, ist der Paraguayer viel schwieriger einzuordnen.
Er ist Anwalt, 61 Jahre alt und Bewunderer von Nayib Bukele, bezeichnet sich als „romantischer Anarchist, Republikaner und Nationalist”, und seine Vorschläge sind eine Mischung, die von der Einführung der Todesstrafe über ein Verbot von Kaiserschnitten bis hin zur Erhöhung der Steuern für große Sojaproduzenten reicht. Mit einer aufrührerischen und „Anti-Korruptions”-Rhetorik schießt er in den sozialen Netzwerken gleichermaßen gegen Politiker der Colorado-Partei, Linke oder „Brasilparaguayische”-Geschäftsleute. Im Jahr 2019 wurde er wegen gewalttätigen Verhaltens als Senator ausgeschlossen und erlangte Berühmtheit durch Aggressionen und Auftritte, wie beispielsweise, als er einen Richter mit seinem Gürtel schlug und in dessen Büro kackte.
Zu seiner irrwitzigen und widersprüchlichen Mischung gehört auch die Nominierung von Rafael „Mbururu” Esquivel als Senator (und er wurde am 30. April gewählt), der wegen sexualisierter Gewalt an Kindern im Gefängnis sitzt.
Scheitern der Liberalen und Untergang der Linken
Zwar gelang es der Colorado-Partei, sich mit einer großen Zahl von Stimmen zu legitimieren, aber sie konnte bei den Wahlen kaum zulegen (Peña erhielt nur 90.000 Stimmen mehr als Abdo im Jahr 2018). Ihr Erfolg wurde durch die Zersplitterung der Opposition ermöglicht, vor allem durch das schwache Abschneiden der Concertación Nacional und ihres Kandidaten Efraín Alegre. Der Vertreter der Liberalen Partei mit wenig Charisma verlor die Präsidentschaftswahlen zum dritten Mal in Folge, obwohl er dieses Mal sogar die Unterstützung der USA und eines großen Teils der Medien hatte.
Das Beunruhigendste dieses Wahltages war der tödliche Schlag, den die Linke erlitten hat. Im Präsidentschaftsrennen war die Frente Guasú gespalten: Ein Teil setzte auf die Concertación und der andere auf einen ehemaligen Colorado-Minister, der 1,3 Prozent der Stimmen erhielt. Bei der Wahl zum Senat gingen die Stimmen für die Frente Guasú von 300.000 im Jahr 2018 auf etwas mehr als 60.000 zurück, was bedeutet, dass sie von den acht Sitzen nur einen behalten hat: Esperanza Martínez wird die einzige Stimme im Oberhaus sein. Der schwerkranke Fernando Lugo, der auf der internen Liste an zweiter Stelle stand, bleibt draußen; das symbolisiert den Niedergang des besten Zyklus der paraguayischen Linken, der 2008 mit der Übernahme der Präsidentschaft durch den ehemaligen Bischof begann.
Wie es in vielen Ländern der Region geschieht, ist die Strategie, auf Bündnisse mit konservativen Kräften zu setzen – vor allem, wenn diese dann an der Spitze stehen – und gemäßigte und versöhnliche Positionen einzunehmen, wieder einmal gescheitert. Wieder einmal ist der Geist des Protests und des Anti-Establishment-Diskurses in den Händen einer wahnwitzigen Figur, der es gelingt, sich mit dem Groll und den Wünschen der am meisten benachteiligten Bevölkerung zu verbinden.
Übersetzung Vilma Guzmán, Amerika21
Titelbild: @ANRParaguay
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