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Titel: Wir ‚Russlandversteher‘ und der Krieg – Erste Hilfe-Maßnahmen und die große Vision
Datum: 1. Mai 2023 um 10:00 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Den Menschen, die sich jahrelang für ein gutes Verhältnis zwischen Russen und Deutschen einsetzten, bläst der Wind nun scharf ins Gesicht. Für den notwendigen langen Atem braucht es nicht nur Durchhaltewillen, sondern auch Konzepte. Ein Blick in die Vergangenheit könnte da helfen. Von Leo Ensel.
Es sind keine einfachen Zeiten für hierzulande mit leicht spöttischem, neuerdings auch mitleidigem oder gar boshaftem Grinsen als ‚Russlandversteher‘ bezeichnete Menschen, die sich jahre-, jahrzehntelang für ein gutes Verhältnis zwischen Russen und Deutschen eingesetzt hatten.
Nach dem Einmarsch ‚ihres Landes‘ in die Ukraine wirkte die Szene wie paralysiert. Der langjährige Vorsitzende des Deutsch-Russischen Forums (DRF), Matthias Platzeck, erklärte umgehend seinen Rücktritt, das zunächst desorientierte DRF benötigte ein Dreivierteljahr, um sich um- bzw. neu zu orientieren. Die – wenigen – Menschen, die in der Vergangenheit noch dafür warben, die russische Sicht der Dinge zumindest mal zur Kenntnis zu nehmen, sind nun entweder ‚freiwillig‘ auf Tauchstation oder längst aus dem Leitmediendiskurs verbannt. Und wer es auch jetzt noch wagt, zu erklären, dass dieser schreckliche Krieg eine lange Vorgeschichte hat, an der auch der Westen (vorsichtig gesprochen) nicht schuldlos ist, wird – wie unlängst mal wieder die ehemalige ARD-Moskaukorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz – gnadenlos zum Paria abgestempelt.
Es ist die Zeit der abgesagten Lesungen, der Auftrittsverbote für unbotmäßige Künstler und der – man kennt das noch gut aus anderen Gesellschaftssystemen – verordneten öffentlichen Selbstkritik. Der sich selbst höchste Repräsentanten von Staat und Gesellschaft unterziehen mussten. Unvergessen, wie sogar der Bundespräsident sich, würdelos „Mea culpa!“ rufend, vom damaligen forschen ukrainischen Botschafter coram publico am Nasenring durch die Arena ziehen ließ.
Der ‚Russlandversteher‘ – Zur Genese einer Abwertungsvokabel
Aber wer oder was ist eigentlich ein ‚Russlandversteher‘?
Zunächst einmal, auch wenn es penetrant oberlehrerhaft klingen mag: Das korrekte – und schöne – Substantiv für das Verb „verstehen“ lautet bekanntlich immer noch: „Verständnis“! Und nicht anders.
Das Wort „Versteher“, soviel ‚Germanistik für Dummies‘ muss sein, gibt es erst seit circa 25 Jahren und war von Anfang an abwertend konstruiert. Es begann mit dem berühmten „Frauenversteher“, womit jener bemitleidenswerte Jammerlappen gemeint war, der Nähe zu Frauen (in welcher Form auch immer) nur herstellen kann, indem er sich – gefragt oder ungefragt – in die Damen noch besser einfühlt, als die das selber vermögen. Kurz: ein Mann mit dem Sexappeal eines „Warmduschers“ – auch so eine Abqualifizierungsvokabel aus jenen Tagen. Einmal in die Welt gesetzt, war es dann, namentlich in Krisenzeiten, zum „Russland-“ oder gar „Putinversteher“ nicht mehr weit. Ein Wort, ohne das heute niemand mehr auskommt, wenn es darum geht, Menschen, die sich um ein besseres Verhältnis zu Russland bemühen, prompt der Lächerlichkeit preiszugeben. Ohne Auseinandersetzung mit deren Argumenten, versteht sich.
Und eine Vokabel, die umgekehrt die so apostrophierten Personen dazu zwingt, zum gefühlt hundertundfünfzigsten Mal klarzustellen, dass ‚Verstehen‘ nicht ‚Rechtfertigen‘ bedeutet, sondern schlicht den Versuch, sich einmal in die Schuhe des Anderen zu stellen und die Welt probeweise aus dessen Perspektive wahrzunehmen – eine für jegliches menschliches Zusammenleben unabdingbare ‚conditio sine qua non‘!
Erste Hilfe: Retten, was zu retten ist!
Wie auch immer: Wem es auch jetzt noch eine Herzensangelegenheit ist, dass zumindest die jahrzehntelang mühsam aufgebauten zwischenmenschlichen Kontakte überleben, der kann sich Resignation, gar Selbstmitleid nicht leisten. In diesen Zeiten eines im Worst Case nicht mehr eingrenzbaren Krieges mitten in Europa, in dieser Zeit, in der Putins Herrschaftssystem von der Autokratie endgültig in die Diktatur kippt, in der immer mehr aufrechte Menschen das Land verlassen und in der hüben wie drüben die Medien zum Halali blasen, können wir zunächst nichts Anderes tun, als überall, wo das überhaupt noch möglich ist, zur Schadensbegrenzung beizutragen: in den – noch nicht gecancelten oder auf Eis gelegten – Städtepartnerschaften, in den wenigen noch verbliebenen Wirtschaftskontakten, im Jugendaustausch, im Sport, in den Kulturprojekten, im interkonfessionellen Dialog und nicht zuletzt in den allerprivatesten Beziehungen.
Und zwar im vollen Bewusstsein, dass auch die verbliebenen Kontakte jederzeit vom Krieg vergiftet zu werden drohen. Schon zu gemütlichen Friedenszeiten gibt es kaum ein Thema, über das man sich so sehr entzweien kann, wie die Politik! Aber wie patriotisch oder ideologisch auch immer die Situation jetzt aufgeladen sein mag – jede Möglichkeit des Kontaktes zwischen beiden Seiten muss genutzt werden. Alle Formen der Kooperation müssen weitergehen, selbst dann – und das erfordert eine willentliche Entscheidung –, wenn dies mit einer zeitweisen Ausblendung strittiger Themen erkauft sein sollte. „Business as usual“ kann in einer akut zugespitzten Krisensituation eine erste deeskalierende Maßnahme sein.
Wir werden lange überwintern müssen. Unter erheblich schwierigen Bedingungen. Zumal die Kommunikationskanäle und Reisemöglichkeiten nun massiv eingeschränkt sind. Aber es gibt dazu keine Alternative. Es sei denn, der kommende zweite Kalte Krieg soll sich auch noch in den Köpfen und Seelen der Menschen dies- und jenseits des neuen Eisernen Vorhanges festsetzen, gar verewigen.
Die Konzeptionslosigkeit des Westens
Irgendwann wird auch dieser Krieg zu Ende sein. Die Frage ist: Wann? Zu welchem Preis? Mit wieviel weiteren Toten, Verwundeten, Flüchtlingsströmen und Zerstörungen jeglicher Art? Und wie die geopolitische Landschaft in Europa und der ganzen Welt dann aussehen wird. Wozu nicht zuletzt auch die globalen ökonomischen Folgen einschließlich steigender Energiepreise und knapper werdender Nahrungsmittel sowie die daraus resultierenden sozialen Verwerfungen gehören werden.
Wer hier nicht alles dem Lauf der akuten Eskalation überlassen will, täte gut daran, schon jetzt realpolitische Konzepte für eine Nachkriegszeit zu entwerfen.
Nach wie vor aber fahren alle politischen Akteure auf Sicht. Außer einer wahren Sanktions- und Aufrüstungsorgie scheint der Westen immer noch über kein strategisches Konzept zu verfügen, was in der Ukraine denn eigentlich anzuvisieren sei. Um einen möglichst schnellen Waffenstillstand, d.h. Stop der Kampfhandlungen und des Blutvergießens, geht es jedenfalls spätestens seit Boris Johnsons Kiewer Besuch bei Wolodymyr Selenski – der das Ende der bereits weit fortgeschrittenen Verhandlungen zwischen russischen und ukrainischen Delegationen besiegelte –, also bereits seit Anfang April letzten Jahres, nicht mehr.
Oder geht es darum, Russland zu ‚bestrafen‘? Soll der Krieg noch jahrelang weitergehen? Soll den russischen Aggressoren ein ‚zweites Afghanistan‘ – sowjetischer oder gar westlicher Couleur – beschert werden? Geht es um die Vertreibung der russischen Truppen aus der Ukraine? Wenn ja: inclusive der Rebellenrepubliken im Donbass? Am Besten auch noch aus der Krim? Geht es am Ende um den Sieg über Russland? „Wir wollen“, so tönte US-Verteidigungsminister Lloyd Austin am 25. April 2022, „dass Russland so weit geschwächt wird, dass es zu so etwas wie dem Einmarsch in die Ukraine nicht mehr in der Lage ist“.
An markig dröhnenden Parolen herrscht jedenfalls kein Mangel. An moralisierenden Imperativen, dieses oder jenes umgehend zu tun bzw. zu lassen, ebenfalls nicht.
Die große Vision: Helsinki 2.0
Dennoch: Es wird ein Leben nach dem Krieg geben – wann auch immer das sein mag! Fragt sich nur, wie es für alle direkt und mittelbar involvierten Akteure aussehen wird.
Vielleicht wäre es hilfreich, sich einmal an die Zeit nach dem Einmarsch der Sowjetunion und der mit ihr verbündeten Warschauer-Pakt-Staaten in die Tschechoslowakei zu erinnern, die Zeit, nachdem im August 1968 Panzerketten den Prager Frühling niedergewalzt hatten. Damals gab es im Westen Männer, die den Mut und die Weitsicht hatten, antizyklisch zu denken und zu handeln. Willy Brandt und Egon Bahr starteten wenig später ihre Entspannungspolitik, die in den Siebziger Jahren ein erstes bedeutendes Resultat zeitigte: Die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) mit der Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki im Sommer 1975. Dort einigten sich alle europäischen Staaten blockübergreifend auf verbindliche ‚Spielregeln‘ wie Gewaltverzicht, Unverletztlichkeit der Grenzen, die territoriale Integrität der Staaten, Nichteinmischung in innere Angelegenheiten und Achtung der Menschenrechte.
Ein solches „Helsinki 2.0“, sprich: eine komplette Neujustierung der gesamten europäischen Sicherheitsstruktur unter dem Primat der Gemeinsamen Sicherheit, ist auch heute wieder dringend geboten! Der Punkt Null, an dem sich nun alle befinden – wir denken jetzt sehr optimistisch, aber dazu sind wir angesicht einer mangelnden vernünftigen Alternative verpflichtet –, könnte im optimalen Fall auch der Startpunkt für den ‚Turn around‘ werden, wenn sich überall wieder die Einsicht durchsetzen sollte, dass Sicherheit in der Tat nur gemeinsam möglich ist. Maßstab wäre immer noch der klassische Satz aus der „Charta von Paris“ vom 21. November 1990: „Sicherheit ist unteilbar und die Sicherheit jedes Teilnehmerlands ist untrennbar mit der Sicherheit aller verbunden.“ Anderenfalls werden alle verlieren – außer die Rüstungsindustrie und die USA.
Die Idee einer neuen hochrangigen Konferenz, die „ohne Vorbedingungen und in unterschiedlichen Formaten und auf verschiedenen Ebenen über das Ziel einer Revitalisierung der europäischen Sicherheitsarchitektur berät“, stammt übrigens noch aus der Vorkriegszeit und wurde Ende 2021 von einer Gruppe prominenter ehemaliger Generäle und Botschafter in die Öffentlichkeit lanciert. Die Vorschläge sind durch Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine nicht etwa überholt, sondern noch dringlicher geworden. Sie sollten umgehend ausgearbeitet werden.
‚Russlandversteher‘ und eine neue Friedensbewegung hätten hier über die notwendigen Erste-Hilfe-Maßnahmen hinaus einen verlässlichen Kompass, wohin die Reise gehen muss, wenn ein Kalter Krieg 2.0, eine erneute tiefe Spaltung des Kontinents und ein extrem gefährliches – auch atomares – Wettrüsten doch noch verhindert werden soll. Sie sollten für diese Perspektive nach allen Seiten hin intensiv werben.
Denn: Resignation können wir uns nicht leisten. Und Arbeit gibt es mehr als genug!
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