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Titel: Kindergrundsicherung: Ausweg aus der Armut?

Datum: 28. April 2023 um 11:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Familienpolitik, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Soziale Gerechtigkeit, Sozialstaat, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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„Die schaffen das Kindergeld ab“, empört sich in einer Familienrunde die Mutter eines zehnjährigen Jungen. Dafür solle die Kindergrundsicherung eingeführt werden, berichtet sie. Die würden aber nur jene Kinder bekommen, die als arm gelten. Aus Sicht der verärgerten Mutter werden damit Eltern benachteiligt, die täglich arbeiten gehen und selbst für ihre Kinder sorgen müssen. Was ist dran an diesen Befürchtungen? Von Tilo Gräser.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Die Kindergrundsicherung (KGS) gilt als eines der wichtigsten sozialpolitischen Projekte der Ampel-Regierung. Sie ist zwar für 2025 angekündigt, aber noch nicht als Gesetz beschlossen. Das soll erst nach der Sommerpause des Bundestages in diesem Jahr geschehen. Die Ampel-Parteien hatten das Projekt in ihrem Koalitionsvertrag verankert. Familienministerin Lisa Paus (Grüne) macht sich dafür seit Langem stark und will damit nicht weniger als „eine strukturell verfestigte Kinderarmut in Deutschland systematisch angehen“. Das erklärte sie im Januar dieses Jahres.

Die Grundsicherung für Kinder soll tatsächlich das Kindergeld ablösen. Dazu gehören laut den im Januar dieses Jahres aus dem Bundesfamilienministerium bekannt gewordenen „Eckpunkten“ zwei Stufen. Die erste Stufe soll so hoch sein wie das bisherige Kindergeld (derzeit 250 Euro). Erst der Zusatzbeitrag der zweiten Stufe ist abhängig vom Einkommen der Eltern. Er soll laut „Eckpunkten“ aus dem Bundesfamilienministerium „eine einkommensabhängige Leistung sein, die nur diejenigen Eltern unterstützt, die sie tatsächlich benötigen“.

Je höher das Einkommen der Eltern ist, desto geringer wird der Zusatzbetrag sein. Ab einem bestimmten Jahreseinkommen soll es kein Geld geben. Diese Grenze wie auch das gesamte Prozedere müssen erst noch festgelegt werden.

„Heute profitieren besonders Spitzenverdiener davon, dass der steuerliche Kinderfreibetrag über dem Kindergeld liegen kann, das heißt, sie sparen mehr Steuern, als andere an Kindergeld erhalten“, so die Süddeutsche Zeitung (SZ) im Januar dieses Jahres zu den „Eckpunkten“. Das solle künftig verhindert werden, indem der Garantiebetrag der Kindergrundsicherung „perspektivisch genauso hoch sein soll wie die maximale steuerliche Entlastung durch den Kinderfreibetrag“.

Erleichterter Zugang

Versprochen wird auch, dass der Zugang zu den Leistungen für die anspruchsberechtigten Familien erleichtert wird. Laut SZ gibt es in der Bundesrepublik bisher etwa 150 ehe- und familienbezogene Leistungen, die Kindern zugutekommen sollen. Eine genaue Analyse, wie viele der Anspruchsberechtigten die verschiedenen Leistungen bei den verschiedenen zuständigen Behörden und Ämtern beantragen, ist nicht zu finden.

Bis zu 70 Prozent der betroffenen Familien machen ihre Ansprüche gegenüber den Behörden gar nicht erst geltend, so Anfang April dieses Jahres ein Beitrag des Deutschlandfunk Kultur zum Thema. In Deutschland gelten 25,6 Prozent aller Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren als durch Armut oder soziale Ausgrenzung gefährdet, stellte das Statistische Bundesamt (Destatis) 2022 in einer Studie fest. Das betrifft fast drei Millionen Heranwachsende, in deren Familien „nur ein kleines oder gar kein Erwerbseinkommen erwirtschaftet“ wird.

Das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erklärt dazu: „Nach dem von der EU gesetzten Standard liegt die Armutsgrenze bei 60 Prozent des mittleren bedarfsgewichteten Einkommens der Bevölkerung in Privathaushalten.“ Danach lag diese Grenze für eine alleinerziehende Person mit einem Kind unter 14 Jahren 2021 bei 1.492 Euro. Für eine Familie mit zwei kleinen Kindern lag sie laut WSI bei 2.410 Euro, für eine Familie mit zwei Kindern über 14 Jahre bei 2.869 Euro. Laut Statistischem Bundesamt gibt es aber keine einheitliche amtliche Definition, ab wann jemand als „einkommensschwach“ gilt.

In der Destatis-Studie heißt es:

„In Deutschland existieren viele parallele Leistungen und viele Behörden können zuständig sein. In manchen Fällen ist es nicht direkt eindeutig, welche Leistung in Frage kommt und welches die zuständige Behörde ist. Wann ein Anspruch besteht und dass eine Prüfung auf vorrangige Leistungen vorzunehmen ist, ist vielen Antragstellenden nicht klar.“

Einer der Vorschläge der Bundesstatistiker:

„Um den einkommensschwachen Familien die Antragstellung zu vereinfachen, sollte das Leistungsangebot nicht erweitert, sondern eher verschlankt werden, indem Leistungen zusammengefasst werden.“

Massives Gegenfeuer

Das scheint nun mit dem Modell der Kindergrundsicherung umgesetzt zu werden: durch Online-Antragsmöglichkeit, eine einfache Einkommensprüfung und, indem verschiedene sozialpolitische Leistungen zusammengeführt werden. Den „Eckpunkten“ des Familienministeriums nach soll dazu eine zentrale Kindergrundsicherungsstelle eingerichtet werden. Die soll anspruchsberechtigte Eltern informieren, dass sie einen Antrag auf den Zusatzbeitrag stellen können. Dazu werde durch einen „Kindergrundsicherungs-Check“ anhand der von den Finanzämtern bereitgestellten Steuerdaten geprüft, ob ein solcher Anspruch besteht.

Seit Langem setzt sich ein Bündnis aus 14 Sozialverbänden dafür ein: das „Bündnis Kindergrundsicherung“. Auf der Webseite des beteiligten Kinderhilfswerkes heißt es, es gebe „gewichtige ökonomische Argumente dafür, in eine gute materielle Absicherung aller Kinder zu investieren“. Und: „Denn sonst können Kinder weder voll am sozialen Leben teilhaben noch zukünftig dem Arbeitsmarkt im notwendigen Maß zur Verfügung stehen.“ Gefordert wird eine „sozial gerechte Kindergrundsicherung von 628 Euro“.

Das, was bisher zum Regierungsprojekt bekannt ist, liegt deutlich unter diesem Betrag. Und Gegenfeuer kommt von Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP). Die Kosten für die Kindergrundsicherung werden von Familienministerin Paus mit mindestens zwölf Milliarden Euro angegeben. Aus Sicht von Lindner ist das Geld nicht da, weshalb er Medienberichten nach nur etwa drei Milliarden Euro dafür ausgeben will.

Lindner macht sich laut Süddeutscher zudem Sorgen, bei der Ausgestaltung der Kindergrundsicherung bestehe „die erhebliche Gefahr, dass aus guten Motiven die Arbeitsanreize für Geringqualifizierte beeinträchtigt werden“. Dem erwähnten Eckpunkte-Papier nach „werden negative Erwerbsanreize der Eltern minimiert“. Das lässt darauf schließen, dass mit dem neuen Modell auch neue Auflagen für die Anspruchsberechtigten verbunden sein können.

Deutliche Kritik an FDP

Kritik an den Aussagen des Bundesfinanzministers äußerte Anfang April Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbands. Er kritisierte in einem Brief an Lindner auch die offiziell und medial verbreiteten Zahlen wie die, dass nur 35 Prozent der Antragsberechtigten den ihnen zustehenden Kinderzuschlag abriefen. Diese hätten „allesamt keinerlei empirische Grundlage“.

Zu Lindners Aussage, eine auskömmliche Erwerbstätigkeit schütze vor Armut, verwies Schneider auf „die Tatsache, dass in über einem Drittel der Familien im Hartz-IV-Bezug mindestens ein Elternteil durchaus erwerbstätig ist und dass die Eltern von einem weiteren knappen Drittel dem Arbeitsmarkt gar nicht zur Verfügung stehen – weil sie ein Kind unter drei Jahren haben, weil sie in Maßnahmen sind, aus gesundheitlichen oder anderen Gründen“.

Bei den erwerbstätigen Hilfebedürftigen komme hinzu, dass sie vielfach nicht Vollzeit arbeiten können, was insbesondere für Alleinerziehende gelte. „Vielfach sind es auch wieder gesundheitliche Einschränkungen, die die Annahme einer auskömmlichen Vollzeitstelle unmöglich machen. Lediglich auf die Arbeitsmarktintegration zu setzen, geht an den Hartz-IV-Realitäten völlig vorbei.“

An der Armut von Familien mit Kindern kann laut Schneider die stärkere Inanspruchnahme der Leistungen nichts ändern. „Kerngedanke der Kindergrundsicherung ist der, unseren Familienlastenausgleich endlich vom Kopf auf die Füße zu stellen. Wer ohnehin am meisten hat, braucht auch am wenigsten Unterstützung, wer wenig hat, braucht eine Zuwendung, die das Existenzminimum des Kindes auch wirklich armutsfest abdeckt.“ Die Kindergrundsicherung werde sich daran messen lassen müssen, „ob sie zuverlässig und möglichst bürokratiearm Kinder aus der Armut holt“.

Starke Zweifel

Die FDP wolle „das Projekt offenbar verhindern, verschieben oder nur in einer Schrumpfversion passieren lassen“, vermutet Armutsforscher Christoph Butterwegge in einem Kommentar zum Thema in den Blättern für deutsche und internationale Politik, Ausgabe 4/23. Zugleich fragt er, „ob das – bislang noch recht vage – Konzept des Bundesfamilienministeriums überhaupt seinem Anspruch genügen kann, ‚einfach, unbürokratisch und bürgernah‘ zu sein“.

Armutsforscher Butterwegge hat Zweifel, ob das erreicht werden kann. Verteilungsgerecht sei eine Kindergrundsicherung erst, „wenn sie neben dem Kindergeld und ergänzenden Familienleistungen auch den bisherigen steuerlichen Kinderfreibetrag integrieren würde“. Letzteren beizubehalten, sei „nicht bloß ungerecht, sondern auch unlogisch“. Damit würden Spitzenverdienende im Jahr 2023 um gut 354 Euro pro Monat entlastet, „während Normalverdienenden, die das Kindergeld (heute 250 Euro) bzw. künftig den vermutlich gleich hohen KGS-Garantiebetrag erhalten, monatlich 104 Euro weniger zur Verfügung stehen“.

Die vom Familienministerium angekündigte „perspektivische“ Angleichung des Garantiebetrags auf die Höhe des steuerlichen Kinderfreibetrages sei zu vage. Aus Sicht von Butterwegge bleibt das „grundsätzliche Gerechtigkeitsproblem“ der Sozialleistungen für Heranwachsende auch bei den KGS-Plänen der Regierung „vorerst weiter bestehen“. Zugleich begrüßt er das Vorhaben, den Zugang zu den Leistungen für die Anspruchsberechtigten zu erleichtern. Er befürchtet jedoch auch: „Es ist nicht auszuschließen, dass diese Digitalisierung des Antragsverfahrens gerade jene Familien benachteiligt, die am meisten auf KGS-Leistungen angewiesen sind: weil gerade ihnen oft die nötigen Kenntnisse, die passenden Geräte oder ein WLAN-Anschluss fehlen. Wer als ‚bildungsfern‘ gilt, könnte damit noch mehr als bisher im Hinblick auf das Antragsverfahren benachteiligt werden.“

Butterwegge befürchtet zudem ein Mehr an Bürokratie statt deren angekündigtem Abbau. Der angekündigte Zusatzbetrag decke nicht den tatsächlichen Bedarf armer Kinder ab, so mit Blick auf die Wohnsituation der Familien, Ausgaben etwa für Klassenfahrten und solche für Freizeitangebote nach dem bisherigen „Bildungs- und Teilhabepaket“.

„Das aber heißt, dass Eltern alle anderen Leistungen weiter separat beantragen müssen. Von einer Vereinfachung des Antragsvorgangs kann in diesem Fall keine Rede sein.“

Politische Stimmungsmache

Zu den Bedenken aus der FDP, Geringverdienende würden durch höhere Leistungen vom Arbeiten abgehalten, meint der Armutsforscher, es handele sich um „eine politische und mediale Stimmungsmache auf Stammtischniveau, wie es sie zuletzt gegen die Bürgergeldreform gab“. Er verweist nicht nur darauf, dass die FDP künftig mindestens zehn Milliarden Euro jährlich für eine finanzmarktabhängige Altersvorsorge aufwenden will. Zugleich plädiere Verteidigungsminister Boris Pistorius (SPD), die Rüstungsausgaben um dieselbe Summe zu steigern.

Butterwegge widerspricht auch Behauptungen wie der von Finanzminister Lindner, „Kinderarmut ist ja vor allem durch Zuwanderung gestiegen“. Der Minister stütze sich dabei auf die statistisch gesunkene Zahl von Kindern mit deutscher Staatsangehörigkeit, die Grundsicherungsleistungen beziehen. Doch das sage nur bedingt etwas über die soziale Lage der Familien aus, so der Armutsforscher. „Denn diese Familien kommen nicht schon dadurch aus der Armutsrisikozone heraus, dass ihnen kein Bürgergeld mehr zusteht, weil sie den verbesserten Kinderzuschlag, den entfristeten Unterhaltsvorschuss oder das erhöhte Wohngeld in Anspruch nehmen können.“ Ihr Haushaltseinkommen bleibe trotz leicht verbesserter Einkommenssituation unter der offiziellen Armutsgrenze von 60 Prozent des mittleren Einkommens.

Die Zahl der betroffenen Familien habe sich nicht verändert. Es sei auch „äußerst fragwürdig, arme Kinder nach ihrer Staatsangehörigkeit zu sortieren – nicht zuletzt deshalb, weil die Zukunftsfähigkeit unseres Landes eben auch davon abhängt, dass nicht ein großer Teil der jungen Generation sozial benachteiligt und wegen der Herkunft seiner Eltern diskriminiert wird“. Zudem habe die Kinderarmut in der Bundesrepublik unabhängig von der Staatsangehörigkeit einen historischen Höchststand erreicht. Armutsforscher Butterwegge warnt vor einer „zu erwartenden Kampagne auf ‚Bild‘-Zeitungsniveau“ vor der Verabschiedung des Gesetzes zur Kindergrundsicherung.

Die unterschiedlichen Sichten in der Ampel-Regierung führten dazu, dass der Koalitionsausschuss sich Ende März nicht darauf einigen konnte, wie die Kindergrundsicherung ausgestaltet und finanziert wird. „Die Ampel vertagt die Zukunft der Kinder auf den Sankt Nimmerleinstag“, kommentierte das Heinz Hilgers, Präsident des Kinderschutzbundes und Koordinator des „Bündnisses Kindergrundsicherung“. Für eine umfassende Reform der Familienleistungen sei es damit schon fast zu spät, erklärte er in einer Pressemitteilung.

Titelbild: Slava Samusevich/shutterstock.com


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