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Titel: Der brasilianische Journalist Luiz Carlos Prestes über die Geschichte Brasiliens, den Kampf gegen die Oligarchie und seine Zeit in Moskau
Datum: 23. April 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Interviews, Länderberichte
Verantwortlich: Redaktion
Um ein Buch über seinen Vater – Luiz Carlos Prestes – vorzustellen, der 1924 einen Aufstand brasilianischer Offiziere gegen das oligarchische System leitete, flog der brasilianische Journalist, Komponist und Filmemacher, der den gleichen Namen trägt wie sein Vater, im April nach Berlin und Moskau. Nachdem das Buch über seinen Vater bereits in Deutschland erschienen ist, soll es nun auch in Russland erscheinen. Autorin des Buches ist Maria Prestes, die Frau von Luiz Carlos Prestes, der 37 Jahre lang Generalsekretär der Kommunistischen Partei Brasiliens war. Prestes’ erste Frau, Olga Benario – eine von der Komintern nach Brasilien entsandte deutsch-jüdische Kommunistin –, wurde von der brasilianischen Polizei 1936 verhaftet und, obwohl sie schwanger war, an das Hitler-Regime ausgeliefert. Sie starb 1942 in Bernburg, 150 Kilometer südwestlich von Berlin, in einer Gaskammer. Ulrich Heyden hat Luiz Carlos Prestes (junior) in Moskau über seinen Vater und die aktuelle Situation in Brasilien interviewt.
Was ist das für ein Buch, welches Sie in Berlin und Moskau vorgestellt haben?
Das Buch „Meu companheiro – Mein Leben mit Luiz Carlos Prestes“ schrieb meine Mutter Maria Prestes. Sie schrieb darüber, wie sie 40 Jahre mit ihrem Mann, meinem Vater Luiz Carlos Prestes, zusammengelebt hat. Wir haben das Buch schon in Deutschland herausgebracht. Die Übersetzung ins Deutsche machte Gudrun Havemann. Sie ist eine Freundin aus der Zeit, als wir in den 1970er-Jahren in der Sowjetunion zur Schule gegangen sind.
In Berlin wurde das Buch auf zwei Veranstaltungen vorgestellt. Es waren sehr warmherzige Treffen. Danach flog ich nach Moskau, weil wir das Buch 2024 in russischer Sprache herausgeben wollen. Das Jahr 2024 ist für uns sehr wichtig, denn in diesem Jahr liegt der revolutionäre Marsch meines Vaters – die Colonne Prestes – 100 Jahre zurück. Dieser Marsch hat eine sehr große Bedeutung für die Geschichte Brasiliens.
Was ist das Wichtigste an diesem Buch für Menschen, die Brasilien nicht kennen und die sich für die kommunistische Idee nicht interessieren?
In diesem Buch schreibt meine Mutter nicht über theoretische Fragen. Sie schreibt über das Leben. Sie finden in dem Buch keine Analyse der Geschichte Brasiliens oder über die Revolutionen in Lateinamerika. Meine Mutter schildert, wie sie mit meinem Vater 40 Jahre lang zusammengelebt, wie sie ihre Kinder großgezogen hat und wie mein Vater an der Erziehung der Kinder teilgenommen hat.
Wie hat er teilgenommen?
Sie schilderte, was er für ein Mensch war. Sie schrieb darüber, dass er ein guter Vater und ein guter Großvater war und dass er ihr viel beigebracht hat. Er hat ihr nicht nur beigebracht, Bücher klassischer Autoren zu lesen und wunderbare Theatervorstellungen und Konzerte zu besuchen. Er kochte auch sehr gerne. Er hat ihr praktisch alles in der Küche beigebracht. Mein Vater liebte es, süße Speisen zuzubereiten. Er starb im Alter von 92 Jahren. Meine Mutter schrieb darüber, wie ihr Mann 68 Jahre lang Zeit für die revolutionäre Arbeit gefunden hat, wie er die revolutionäre Arbeit während der neun Jahre Haft, den 25 Jahren im Untergrund und den 18 Jahren in der Emigration – als er nicht in Brasilien lebte – durchgehalten hat und wie er noch die Zeit fand, seine Kinder und Enkel zu erziehen und ein guter Ehemann zu sein. Mein Vater hatte mit meiner Mutter sieben Kinder.
Und er hat die Zeit für die Kinder gefunden? Ich meine, er war der Parteivorsitzende. Ich denke, das war sehr schwierig.
Natürlich war das schwierig. Ich wurde geboren, als meine Mutter noch im Untergrund lebte. Das war im Jahr 1959. In die Geburtsklinik ging sie allein, mein Vater konnte nicht dabei sein. Er war zu dieser Zeit in China. An dem Tag, an dem ich geboren wurde, hatte er ein Treffen mit Mao Tse-tung. 1964 gab es einen Militärputsch. Deshalb lebten wir von 1971 bis 1979 zusammen mit meinem Vater in Moskau. Ich war damals 11 bis 18 Jahre alt. Es waren sehr glückliche Jahre, denn die ganze Familie lebte zusammen und es gab keine Verfolgung von der Polizei. Wir waren klein, aber wir konnten ohne Begleitung in die Schule, ins Theater oder ins Kino gehen.
Klassenfoto von Luiz Carlos Prestes als Schüler in Moskau der 1970er Jahre, Quelle: Luiz Carlos Prestes
Wie hat Ihr Vater seine Kinder erzogen?
Es gab eine interessante Episode. Meine Mutter schrieb in ihrem Buch darüber. 1971/72 bat mein Vater, dass die Kinder in der Wohnung gut angezogen sein sollen, mit Hosen und Hemden und die Mädchen dementsprechend, damit alles ordentlich aussieht – denn es konnten Gäste kommen. Er hatte in unserer Wohnung ein Arbeitszimmer. Meine Mutter sagte ihm, nun, das sind doch Kinder. Und es ist schon Abend. Die Kinder können sich doch einfacher und spontaner anziehen. Wir sind doch eine Familie. Aber ihm gefiel nicht, dass wir in Pyjamas oder in T-Shirts herumliefen.
Eines Tages saßen wir vor dem Fernseher und sahen das sowjetische Nachrichtenprogramm „Wremja“. Es war acht Uhr abends. Meine Mutter ging zum Fernseher, schaltete ihn aus und erklärte: „Wir können uns diese Unordnung nicht angucken. Euer Vater sitzt um acht Uhr abends im Pyjama vor dem Fernseher.“ Nach eineinhalb Jahren hatte sich mein Vater daran gewöhnt, dass Kinder um ihn herum waren, und er hat selbst begonnen, sich einfacher anzuziehen. Auf Formalitäten hat er nicht mehr so geachtet. In den Jahren, als wir in der Sowjetunion lebten, wurde unsere Familie zu einer richtigen Familie.
Er war ja von Beruf Militär, von daher hatte er wohl diese Strenge und dieses Ordnungsgefühl.
In dem ganzen Buch schreibt meine Mutter darüber, wie sich mein Vater seinen Kindern und Enkeln langsam näherte, wie er die Kinder in die Arme genommen hat. Er entfernte sich von Formalitäten und seiner militärischen Haltung. Natürlich war er sehr diszipliniert. Er konnte nicht zu spät kommen zu irgendwelchen Sitzungen.
Wer war Ihr Großvater?
Mein Großvater war auch Militär. Er war beteiligt an der Errichtung der Republik in Brasilien. Deshalb hat mein Vater ab dem Alter von zehn Jahren eine Militärschule besucht. Danach besuchte er ein Institut, wo man ihn zum Ingenieur für militärische Aufgaben ausbildete. In Santo Ângelo baute er eine Eisenbahnstrecke. Dort rief er seine Soldaten zum Protest gegen die Regierung auf. Das war im Jahr 1924.
Was ist der Grund dafür, dass sich Militärs in Lateinamerika oft in die Politik einmischen?
Die Militärs in Brasilien waren immer an den wichtigsten Umgestaltungen in unserem Land und auch an der Ausrufung der Republik beteiligt. Was das Jahr 1924 betrifft, möchte ich hervorheben, dass es sich um junge Offiziere handelte, die sehr unzufrieden waren mit der Situation in der Armee. Der Erste Weltkrieg war schon vorbei. Brasilien hatte aber nur Waffen aus dem 19. Jahrhundert. Die Militärs haben auch verstanden, dass es geheime Wahlen geben muss und die Frauen das Recht haben sollen, an den Wahlen teilzunehmen. Außerdem ging es darum, die Industrialisierung des Landes voranzutreiben und die Gesetzgebung zum Schutz der Arbeiterklasse und der Bauern zu entwickeln. Das war das Ziel der Colonne Prestes. Mein Vater war 26 Jahre alt, als er den Aufstand anführte. Weil es keine anderen Möglichkeiten gab, haben die jungen brasilianischen Offiziere damals mit der Waffe in der Hand für ein Brasilien des 20. Jahrhunderts gekämpft.
Welchen Lebensweg hatte Ihre Mutter?
Meine Mutter wurde 1930 geboren. Ihr Vater nahm 1935 – damals war sie fünf Jahre alt – an einem antifaschistischen Aufstand in der Stadt Recife teil. Man nahm ihn fest. Man folterte ihn, weil er Kommunist war. Meine Mutter nahm schon in jungen Jahren am Kampf im Untergrund teil. Als die Kommunistische Partei 1945 wieder legal arbeiten konnte, arbeitete meine Mutter – sie war zu diesem Zeitpunkt 15 Jahre alt – in der kommunistischen Jugend. Sie nahm an Veranstaltungen teil, wo sie meinen Vater sah. 1947 wurde die Kommunistische Partei wieder in die Illegalität getrieben. Die Genossen der Partei hatten bemerkt, dass meine Mutter ihre Tätigkeit sehr ernsthaft ausführt und sich gut um die Häuser kümmert, in denen die Leiter der Partei leben. Man gab ihr den Tarnnamen Maria. Sie hieß eigentlich Altamira. In Sao Paulo bereitete sie ein Haus für einen Funktionär vor. Sie war damals 20 Jahre alt. Als man ihr den Funktionär vorstellte, um den sie sich kümmern sollte, sagte sie: „Ja, ich kenne ihn, das ist Genosse Prestes. Aber wie kann ich für ihn die Verantwortung übernehmen?“ Bis 1960 lebte sie mit meinem Vater im tiefsten Untergrund. Nach einigen Jahren gemeinsamer politischer Arbeit wurden sie ein Paar. Und während sie im Untergrund lebten, wurden meine Geschwister und ich geboren.
Spielte in Ihrer Familie Religion eine Rolle?
Nein, meine Eltern hatten keine Beziehung zur Religion. Aber viele Mitglieder der Kommunistischen Partei Brasiliens waren Katholiken oder Juden. Viele Mitglieder der Partei und auch Funktionäre lebten nach afrikanischen Sitten. Wir haben in Brasilien zwei Religionen, die afrikanische Wurzeln haben, Umbanda und Candomblé.
Sind Sie selbst Mitglied einer Partei?
Ich bin kein Mitglied einer Partei. Vielleicht hat es damit zu tun, dass mein Vater 1980 aus der Kommunistischen Partei austrat. Er war von 1943 bis 1980 Generalsekretär der Kommunistischen Partei gewesen. Er schrieb einen Brief an die Kommunisten Brasiliens. Er meinte, die Kommunistische Partei Brasiliens habe keinen revolutionären Charakter mehr. Sie sei eine solche bürgerliche Partei wie alle anderen Parteien auch. Was mich betrifft: Ich denke, um der Demokratie in Brasilien zu helfen, muss ich nicht unbedingt Mitglied einer Partei sein.
Ihr Vater wendete sich ganz von der Politik ab?
Nein, er unterstützte die Demokratische Arbeiterpartei (Partido Democrático Trabalhista – PDT). Er unterstützte diese Partei zehn Jahre seines Lebens.
Das ist eine sozialdemokratische Partei?
Ja, sozialdemokratisch. Aber Parteien prägen das politische Leben in Brasilien heute nicht besonders. Wir haben Lula da Silva zum Präsidenten gewählt. Wir wählten die PT, die Partei der Arbeitenden. Das erste Mal in der Geschichte Brasiliens leben wir seit 30 Jahren in einer Demokratie. 1889 wurde in Brasilien die Republik ausgerufen. Bis zum Jahr 1989 gab es mehrere Staatsstreiche. In dieser Zeit hat es keine normalen Wahlen gegeben. Aber seit 1989 wurden mehrere Präsidenten demokratisch gewählt. Seit 30 Jahren haben wir keine Staatsstreiche mehr. Brasilien hat im Prinzip eine demokratische Struktur. Es ist schwer, aber man muss einen Dialog führen. Unabhängig davon, was Bolsonaro die letzten vier Jahre gemacht hat, haben wir doch erreicht, dass die Demokratie siegte.
Was erwarten Sie von Präsident Lula?
Ich wünsche mir natürlich, dass er sich um die wichtigsten Fragen unseres Landes kümmert. Er muss den Hunger im Land beenden. Es gibt Bezirke in Brasilien, wo die Menschen Hunger leiden. 15 Prozent der Bevölkerung haben keine Arbeit. Wir müssen die Schulbildung verbessern. Es müssen neue Häuser und Wohnungen gebaut werden. Man muss die Verkehrsverbindungen verbessern.
Präsident Lula ist ein Mensch, der weiß, was Hunger ist. Er weiß, was Arbeitslosigkeit bedeutet. Deshalb glaube ich, dass er Kräfte einsetzt, um diese Probleme zu lösen. Für seine Vorgänger existierten diese Probleme nicht.
Was bedeutete Ihrer Meinung nach der Sturm auf das Parlament Anfang Januar?
Es ist wichtig zu verstehen, dass das Land gespalten ist. Diejenigen, welche die Wahlen verloren haben und die wollten, dass Bolsonaro Präsident wird, organisierten diesen Protest. Der Sturm auf das Parlament zeigte, dass wir sehr viel arbeiten müssen, damit die Menschen verstehen, was Demokratie bedeutet. Die Leute, die das Parlament angegriffen haben, verstehen nicht, was Demokratie ist.
Wie wird Brasilien jetzt in den internationalen Beziehungen agieren?
Meiner Meinung nach hat Lula eine Situation geschaffen, damit Brasilien wieder ein Partner der europäischen, amerikanischen und asiatischen Staaten und der USA werden kann. Wir sind jetzt offen für die Europäische Union und für den südamerikanischen Wirtschaftsraum Mercosur. Außerdem arbeitet Brasilien intensiv in der Wirtschaftsgemeinschaft BRICS.
Unter Bolsonaro war unser Land vollständig isoliert. Viele Jahre hat China kein Fleisch mehr von uns gekauft. Aber vor einem Monat wurden neue Verträge gemacht, und der Fleischexport nach China ist wieder angelaufen. Nicht die USA sind heute unser wichtigster Wirtschaftspartner, sondern China. Mit Russland haben wir sehr gute Beziehungen. Wir kaufen in Russland Düngemittel. Die sind sehr wichtig für unser Land.
Was die internationalen Beziehungen betrifft: Der deutsche Kanzler hat Brasilien gebeten, Panzermunition an die Ukraine zu liefern. Aber Lula hat das abgelehnt und erklärt, dass Brasilien sich in den Ukraine-Krieg nicht einmischt. Als Antwort hat Deutschland Brasilien den Export von bestimmten Waren verboten, die deutsche Einzelteile enthalten. Man hat versucht, Brasilien für seine Position zu bestrafen.
Sie haben in den 1970er-Jahren in Moskau gelebt. Wie fühlen Sie sich jetzt in dieser Stadt?
Es ist eine Rückkehr an die Stätten meiner Kindheit und Jugend. Ich kam hierher, als ich zehn war, und ich verließ Russland, als ich 24 Jahre alt war. Manchmal möchte ich weinen, wenn ich die Straßen besuche, in denen ich viel erlebt habe. Natürlich hat sich Moskau in den letzten 40 Jahren sehr verändert. Moskau wurde eine sehr starke, erneuerte Stadt. Ich habe mich mit meinen Schulfreunden getroffen und mit Absolventen der Universität für Kinematografie, WGIK, wo ich zum Regisseur für Dokumentarfilme ausgebildet wurde. Außerdem traf ich mich mit Freunden eines Technikum-Theaters, wo ich drei Jahre als Schauspieler gearbeitet habe. Hier zu sein, ist für mich sehr emotional und sehr positiv.
Buchhinweis: Maria Prestes: „Meu companheiro. Mein Leben mit Luiz Carlos Prestes“ (Zambon, 281 S., br., 16 €, aus dem Russ. v. Gudrun Havemann).
Titelbild: Luiz Carlos Prestes im April 2023 in Moskau, Foto: Ulrich Heyden
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