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Titel: Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, die militärische Unterstützung der Ukraine und der gebrochene Amtseid des Bundeskanzlers
Datum: 18. April 2023 um 8:50 Uhr
Rubrik: Außen- und Sicherheitspolitik, Audio-Podcast, Aufrüstung
Verantwortlich: Redaktion
Es besteht offensichtlich ein Zielkonflikt zwischen dem Erhalt und Verbesserung der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr zur Landesverteidigung und der umfassenden militärischen Unterstützung der Ukraine. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die derzeitige politische Entscheidung der Bundesregierung zu Gunsten der militärischen Unterstützung der Ukraine mit dem Grundgesetz und dem Amtseid des Bundeskanzlers zu vereinbaren ist. Von Jürgen Hübschen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr
Bereits im November 2022 hatte der oberste Soldat des deutschen Heeres, Heeresinspekteur Generalleutnant Alfons Mais, in einem Artikel der SZ u. a. festgestellt: „Wir haben einen riesigen Aufholbedarf… Die Bundeswehr ist trotz des Milliardenpakets kaum verteidigungsfähig.“ Von dem Geld sei noch nicht viel zu sehen.
Generalleutnant Alfons Mais sieht kaum Fortschritte bei der Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr. Auch acht Monate, nachdem Bundeskanzler Scholz eine Zeitenwende und ein 100-Milliarden-Euro-Paket angekündigt hatte, sei die Lage kaum verändert. Zwar werde seit dem russischen Überfall auf die Ukraine in Deutschland „sachlicher und tiefer“ über Fragen der Sicherheit diskutiert, an der Ausstattung habe sich aber nicht viel getan. Mais wörtlich: „Momentan ist die materielle Einsatzbereitschaft des Heeres nicht größer als am 24. Februar 2022.“ Mais hatte am Tag des Kriegsbeginns gewarnt, die Truppe des Heeres, bestehend aus 60.000 Frauen und Männern, stehe „mehr oder weniger blank“ da.
Bislang habe man sich auf Auslandseinsätze konzentriert, und da sei die Verteidigung zu Hause zu kurz gekommen. „Wir verfügen derzeit über keine komplette deutsche Brigade, die sofort und ohne längere Vorbereitungszeit in der Lage wäre, einen Kampfauftrag über mehrere Wochen durchzuführen. Das müssen wir angesichts der Lage schnell ändern“, erklärte Mais. Unter anderem in der Artillerie sieht er „riesigen Aufholbedarf“.
Der Heeresinspekteur wörtlich:
„Das Heer, so wie es heute dasteht, verfügt noch über vier Artillerie-Bataillone, etwa 100 Panzerhaubitzen und knapp 40 Raketenwerfer MARS. Von denen ist tagesaktuell immer nur ein Teil einsatzbereit. Das macht mir mit Blick auf die Zukunft große Sorgen.“
Zu Zeiten des Kalten Krieges sei die Artillerie-Truppe größer als die gesamte Marine gewesen. Das sei nicht mehr notwendig.
„Aber wir wollen die Zahl der Bataillone auf mehr als das Doppelte erhöhen. Dazu brauchen wir zusätzliche Geschütze und Raketenwerfer… Für uns so wichtige Projekte wie die Nachrüstung beziehungsweise Stückzahlerhöhung des Schützenpanzers Puma, Radfahrzeuge für die Mittleren Kräfte, neue Hubschrauber, Drohnenschutz – über all diese Vorhaben müssen wir jetzt entscheiden, denn es dauert, bis die Waffen produziert sind“, mahnte er.
Die Verbände seien aus dem Stand nicht fähig, die Landes- und Bündnisverteidigung sicherzustellen.
Getan hat sich offensichtlich bislang wenig, wenn man liest, was der Heeresinspekteur am 12. April 2023 in einem Artikel in der SZ sagt, in dem es u. a. um Deutschlands Zusagen an die NATO geht. Konkret geht es um eine voll ausgestattete Heeresdivision, die Deutschland in der Amtszeit von Verteidigungsministerin Lambrecht für 2025, also zwei Jahre früher als geplant, der NATO zugesagt hatte. Generalleutnant Mais geht davon aus, dass diese Heeresdivision mit ca. 15.000 Soldaten nur bedingt einsatzbereit sein wird, weil es der Bundeswehr weiterhin fast an allem fehle: Personal, Gerät, Munition. Mais wörtlich: „Zurzeit sind selbst bei Rückgriff auf die Bestände des ganzen Heeres 256 von insgesamt 1.139 Positionen zu weniger als 60 Prozent verfügbar.“ Und selbst wenn umgehend z. B. neue Leopard-Kampfpanzer bestellt würden, um das durch die Lieferung an die Ukraine entstandene Fehl aufzufüllen, kämen diese nicht rechtzeitig bis 2025.
Bereits im November 2022 hatte Generalleutnant Mais festgestellt, dass die massive Waffenhilfe der Bundesregierung an die Ukraine für die lediglich bedingte Einsatzbereitschaft der Bundeswehr eine große Rolle spiele. Mais wörtlich:
„Das ist als politische Entscheidung angesichts der Lage auch völlig nachvollziehbar. Es dauert allerdings, bis wir dieses Material ersetzt bekommen. Unterm Strich heißt das: Es ist weniger da als vor dem Kriegsbeginn.“
Die militärische Unterstützung der Ukraine durch die Bundesrepublik Deutschland
Deutschland unterstützt die Ukraine mit Ausrüstungs- und Waffenlieferungen – aus Beständen der Bundeswehr und durch Lieferungen der Industrie, die aus Mitteln der sogenannten „Ertüchtigungshilfe“ der Bundesregierung finanziert werden. Dazu veröffentlicht die Bundesregierung regelmäßig eine listenmäßige Übersicht.
Um die Dimension der militärischen Unterstützungsleistungen einmal aufzuzeigen, sollte man sich die von der Bundesregierung veröffentlichte Liste aller militärischen Unterstützungsleistungen mit Stand vom 6. April 2023 – trotz oder gerade wegen ihrer Länge – einmal im Detail ansehen. Die aufgeführten Positionen sind natürlich von unterschiedlicher Bedeutung für die Einsatzbereitschaft der Streitkräfte, aber ihnen ist gemeinsam, dass Material, Waffen, Gerät und Munition in der Bundeswehr ja nicht über dem Soll vorhanden waren/sind, sondern in vielen Fällen ein vorhandenes Defizit sich noch vergrößert hat.
Wie bereits erwähnt, umfasst die Liste Lieferungen aus Beständen der Bundeswehr – und solche der deutschen Industrie, die aus Mitteln der „Ertüchtigungshilfe“ der Bundesregierung finanziert werden.
Das Material, das die Bundesrepublik auch hätte liefern können, ohne die Auflagen des Kriegswaffenkontrollgesetztes aufzuheben, nämlich keine Waffen in Krisen- und Kriegsgebiete zu liefern, wurden von mir markiert. Einige dieser Positionen könnte/müsste man bei strenger Auslegung dieses Grundsatzes einer „Grauzone“* zuordnen.
Offizielle Liste der gelieferten militärischen Unterstützungsleistungen:
Militärische Unterstützungsleistungen in Vorbereitung/Durchführung:
(Aus Sicherheitserwägungen sieht die Bundesregierung bis zur erfolgten Übergabe von weiteren Details insbesondere zu Modalitäten und Zeitpunkten der Lieferungen ab.)
*Dieses Material könnte man der angesprochenen „Grauzone“ zuordnen.
Auf das Aufzeigen des finanziellen Aspekts der aufgeführten Unterstützungsleistungen wurde von mir bewusst verzichtet.
Das Grundgesetz als rechtliche Grundlage für die Bundeswehr
Das Grundgesetz ist die entscheidende rechtliche Grundlage für die Aufstellung und Existenz der Bundeswehr. Es heißt dazu im Artikel 87a (1) GG: „Der Bund stellt Streitkräfte zur Verteidigung auf.“ Damit ist in erster Linie gemeint: Die Bundeswehr verteidigt Deutschlands Souveränität und territoriale Integrität. Das kann national oder im Bündnisrahmen erfolgen, also im Rahmen der NATO und der EU oder auf der Basis eines UN-Mandats. Die Bundeswehr ist eine Parlamentsarmee, und deshalb ist, vor allem bei Auslandseinsätzen, eine vorherige Genehmigung durch den Deutschen Bundestag verpflichtend.
Der Amtseid des Bundeskanzlers und der Bundesminister
Der Bundeskanzler und die Bundesminister leisten bei der Amtsübernahme vor dem Bundestag ebenfalls den in Artikel 56 vorgesehenen Eid (Art. 64 Abs. 2 GG).
„Ich schwöre, dass ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. (So wahr mir Gott helfe.)“
Zusammenfassende Bewertung
Die Aussagen des Heeresinspekteurs beschreiben einen offensichtlichen Zielkonflikt, nämlich entweder die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr zu garantieren oder die Ukraine militärisch zu unterstützen, und das offensichtlich unter Inkaufnahme einer weiteren Verschlechterung der ohnehin nur bedingt gegebenen Fähigkeit der Streitkräfte zur Landes- und Bündnisverteidigung. Die Bundesregierung hat in diesem Konflikt eine Entscheidung zu Gunsten der militärischen Unterstützung der Ukraine getroffen, und damit verstoßen der Bundeskanzler ebenso wie die Bundesminister gegen den geleisteten Amtseid.
Die Aufhebung des Kriegswaffenkontrollgesetzes ist das eine, aber die Waffen zu Lasten der Bestände der Bundeswehr zu liefern, ist das andere, und das ist mit dem Amtseid nicht zu vereinbaren. Besonders deutlich wird dieser Verstoß am Beispiel des Luftverteidigungssystems „IRIS-T-SLM“, das statt der geplanten und dringend erforderlichen Einführung in die Bundeswehr an die Ukraine geliefert wurde.
Ein weiterer Aspekt, der in der Liste der Bundesregierung gar nicht berücksichtigt wird, ist die indirekte Unterstützung der Ukraine, z. B. durch die Stationierung von „Patriot“-Luftabwehrsystemen in der Slowakei und in Polen zu Lasten der Luftverteidigung Deutschlands.
In Kenntnis, dass die Bundeswehr schon zu Beginn des Krieges in der Ukraine nur bedingt in der Lage war, ihren im Grundgesetz verankerten Auftrag der Landes- und Bündnisverteidigung wahrzunehmen, wiegt die Verletzung des Amtseides doppelt schwer. Die Bundeswehrausstattung entsprach schon am 24. Februar 2022 in vielen Bereichen nicht dem vorgegebenen Soll; Überbestände waren überhaupt nicht vorhanden. Daraus folgt, dass die gesamte militärische Unterstützung der Ukraine zu Lasten der Einsatzbereitschaft der Streitkräfte geleistet wurde, und zwar in den Bereichen Material, Geräte, Waffen und Munition annähernd gleichermaßen. Das ist grundsätzlich nicht akzeptabel, wäre aber aus politischen Überlegungen im Zweifelsfall noch nachvollziehbar, wenn die Unterstützung im Rahmen des Kriegswaffenkontrollgesetzes geleistet worden wäre und weiterhin stattfinden würde. Das ist aber nicht der Fall. Aus der dargestellten offiziellen Liste der Bundesregierung geht deutlich hervor, dass man wesentliche Unterstützungsleistungen hätte erbringen können, ohne gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz zu verstoßen. Damit wäre die Bundesregierung konsequent geblieben und hätte sich außerdem die Option bewahrt, sich als Vermittler anzubieten, um diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden. Stattdessen wurden und werden immer mehr und immer schwerere Waffen geliefert. Zusätzlich wird durch die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland an Waffensystemen, die von der Bundesrepublik an die Ukraine geliefert wurden, das Risiko in Kauf genommen, dadurch selbst zur Kriegspartei zu werden.
Mittlerweile ist die Bundesrepublik Deutschland durch ihre militärische Unterstützung der Ukraine zur europäischen Speerspitze im Stellvertreterkrieg zwischen Russland und den USA geworden – und das zu Lasten der eigenen Verteidigungsfähigkeit.
Dadurch, dass die CDU/CSU als mit Abstand größte Oppositionspartei die Regierungspolitik der militärischen Unterstützung der Ukraine nicht nur uneingeschränkt mitträgt, sondern sogar immer wieder eine Ausweitung der Unterstützungsleistungen fordert, ist eine Änderung dieser Politik, durch die letztlich die Sicherheit der deutschen Bevölkerung zunehmend gefährdet wird, nicht zu erwarten.
Titelbild: Olaf Scholz beim NATO-Gipfel im Juni 2022 in Madrid, shutterstock / Belish
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