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Titel: Plünderung der Sozialkassen auf dem Rücken der Behinderten
Datum: 24. Mai 2011 um 17:16 Uhr
Rubrik: Rente, Sozialstaat
Verantwortlich: Jens Berger
Wer muss die Rentenversicherungsbeiträge für Menschen zahlen, die in einer Behindertenwerkstatt tätig sind? Nach dem Sozialgesetzbuch zählen Behindertenwerkstätten zu den sozialstaatlichen Aufgaben, ihre Finanzierung untersteht dem jeweiligen Sozialträger. Somit ist der Bund für die Rentenversicherungsbeiträge zuständig. Geht es nach Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen, soll sich dies ab nächster Woche rückwirkend für die letzten drei Jahre ändern. Wenn die Gesetzesnovelle von der Leyens am nächsten Mittwoch vom Bundestag angenommen wird, müssen künftig die Arbeitsagentur und die Rentenversicherung die Beiträge für die Behinderten zahlen. Sozialstaatliche Aufgaben, die eigentlich von allen Bundesbürgern finanziert werden müssten, werden somit einmal mehr den Sozialkassen auferlegt – ein klarer Verfassungsbruch. Von Jens Berger
Seit es die Rentenversicherung des Bundes gibt, muss sie auch versicherungsfremde, also nicht beitragsgedeckte, Leistungen übernehmen. Der Katalog dieser Leistungen ist lang und reicht von Ersatzzeiten (z.B. Wehrdienst), Anrechnungszeiten (z.B. bei Krankheit oder Schwangerschaft), Kriegsfolgelasten und Frührenten bis hin zur Witwenrente. Für alle diese Leistungen gibt es einen guten politischen Grund, sie sind Bestandteil des Sozialstaats. Allen diesen Leistungen stehen jedoch keine Beiträge der Rentenversicherten gegenüber. Aus diesem Grund sollen diese Leistungen auch über den sogenannten Bundeszuschuss aus dem Steuertopf getragen werden. Verschiedene Untersuchungen ergaben jedoch, dass die Summe der Bundeszuschüsse konstant weit unter den tatsächlich erbrachten versicherungsfremden Leistungen liegt. Bezogen auf die Rentenversicherung ergab beispielsweise eine DIW-Studie [PDF – 530 KB] aus dem Jahre 2005 für das Betrachtungsjahr 2002 einen Fehlbetrag von 39,2 Milliarden Euro. Eine konservativere Schätzung von Bert Rürup im Auftrag der Bundesregierung [1] geht für das Jahr 2003 von einem Fehlbetrag von 23,5 Milliarden Euro aus. Die Differenz beträgt somit 19% (DIW) bzw. 12% (Rürup) der Gesamtleistungen der Rentenversicherung.
Versicherungsfremde Leistungen werden nicht nur in der Rentenversicherung, sondern in allen Sozialversicherungen nicht vollständig durch Bundeszuschüsse gedeckt. Die DIW-Studie beziffert den ungedeckte Saldo der versicherungsfremden Leistungen aus Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung für das Jahr 2002 auf 83,7 Milliarden Euro. Jedes Jahr wird somit ein sehr hoher zweistelliger Milliardenbetrag über die Sozialsysteme finanziert, der eigentlich in voller Höhe durch Steuergelder gedeckt werden müsste. Das DIW beziffert die zusätzliche Belastung der Sozialsysteme auf neun Beitragspunkte – bei der paritätischen Finanzierung der Sozialsysteme könnten also sowohl Arbeitnehmer als auch Arbeitgeber Bruttolohnanteile von jeweils 4,5% einsparen, wenn die versicherungsfremden Leistungen ordnungsgemäß über die Steuern finanziert würden.
Der Staat hat jedoch kein Interesse daran, diesen offensichtlichen Missstand zu beheben. Das mangelnde Problembewusstsein fängt bereits damit an, dass noch nicht einmal belastbare Zahlen über die versicherungsfremden Leistungen erhoben werden, weshalb man für Schätzungen auch auf Zahlen zurückgreifen muss, die bereits fast 10 Jahre alt sind. Ob diese Zahlen für die Rentenversicherung noch aktuell sind, lässt sich daher auch nicht mit Gewissheit sagen. Einige versicherungsfremde Leistungen, wie beispielsweise die Kriegs- und Wiedervereinigungslasten sind in den letzten 10 Jahren durch das Ableben einiger Leistungsempfänger gesunken, während andere Leistungen wie die arbeitsmarktbedingte Frühverrentung jedoch gestiegen sind. Wenn man die DIW-Zahlen auf das Jahr 2010 übertragen würde, käme man auf ein nicht durch Steuergelder gedecktes Saldo versicherungsfremder Leistungen der Rentenversicherung in Höhe von rund 46 Milliarden Euro.
Vordergründig könnte man natürlich sagen, dass es schlussendlich doch egal ist, aus welchem Topf diese Leistungen bezahlt werden. Das ist jedoch falsch, da die Finanzierung aus Steuermitteln auf einer wesentlich breiteren Basis steht, als die Finanzierung aus den Sozialkassen. In die gesetzliche Rentenversicherung zahlen beispielsweise weder Beamte noch Selbstständige, die nicht freiwillig versichert sind, ein. Ferner gilt hier die sogenannte Beitragsbemessungsgrenze – Einkommen oberhalb von 5.500 Euro brutto (West) werden für die Rentenversicherung nicht mehr herangezogen.
Die Finanzierung sozialpolitischer Leistungen ist jedoch Aufgabe der Allgemeinheit und nicht nur der sozialpflichtig versicherten Arbeitnehmer. Wenn die Politik das Problem ernst nehmen würde, könnte sie beispielsweise die Rentenversicherungsbeiträge senken und im Gegenzug die Bundeszuschüsse um den Differenzbetrag erhöhen. Um dies zu finanzieren, könnte beispielsweise die Einkommenssteuer erhöht werden, was in toto den sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern zugute käme.
Wenn die Bundesregierung nun jedoch plant, mit den Rentenversicherungsbeiträgen für Menschen in Behindertenwerkstätten weitere versicherungsfremde Leistungen an die gesetzlichen Sozialsysteme auszulagern, tut sie das genaue Gegenteil. Sie verschiebt die Finanzierung von sozialstaatlichen Leistungen, die durch die Allgemeinheit getragen werden müssen, in die Sozialsysteme, die von den sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmern getragen werden. Damit setzt die schwarz-gelbe Koalition ihre politische Linie der Umverteilung von unten nach oben schamlos fort – diesmal auf dem Rücken der Behinderten. Nach Ansicht der Deutschen Rentenversicherung ist die geplante Gesetzesnovelle sogar verfassungswidrig. Die Deutsche Rentenversicherung und die Arbeitsagentur sind jedoch als Anstalten des öffentlichen Rechts nicht grundrechtsfähig und dürfen somit keine Verfassungsklage erheben.
[«1] Bericht der Bundesregierung zur Entwicklung der nicht beitragsgedeckten Leistungen und der Bundesleistungen an die Rentenversicherung vom 13. August 2004 – aus „Deutsche Rentenversicherung“, Heft 10, Oktober 2004
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