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Titel: Franz Walters Tipps für die Große Koalition in der FR sind fragwürdig
Datum: 23. November 2005 um 16:54 Uhr
Rubrik: Medienkritik, Wahlen
Verantwortlich: Albrecht Müller
Von Franz Walter konnten wir in letzter Zeit immer mal wieder weiterführende Essays lesen. Von dem heute in der Frankfurter Rundschau abgedruckten Beitrag lässt sich das nicht sagen. Ich muss vielem widersprechen und habe dazu Texteile von Franz Walter kommentiert, jeweils mit „AM:“ gekennzeichnet und kursiv geschrieben.
AM: So beginnt der Beitrag in der Frankfurter Rundschau, wer das Ganze lesen will, der Link folgt am Schluss:
Die Türen fest geschlossen
Ein Tipp für die große Koalition: Kompromisse entstehen am besten in elitären, der Öffentlichkeit strikt entzogenen Zirkeln / Von Franz Walter
Will die neue Regierung erfolgreich sein, müssen sich SPD und Union immer wieder schnell einigen. Ausführliche Grundsatzdebatten stören. Die müssen im Parlament geführt werden. Hier ist der Ort für Visionen und große Ziele.
„Unter meinen politikwissenschaftlichen Kollegen der 68er Generation ist die große Koalition nicht wohlgelitten. Sie argwöhnen, dass hinter dem Wunsch nach einer Allianz der beiden Großparteien zählebige Reste nicht gebrochener wilhelminischer Obrigkeitskultur stecken. Auch im linksliberalen Journalismus findet man dergleichen Interpretationen.“
AM: Wo denn? Insgesamt wird damit doch wenig argumentiert.
„Das fatale Charakteristikum der politischen Kultur in der deutschen Moderne ist vielmehr die Konfrontation, das Lagerdenken, die ideologische Verabsolutierung der eigenen Klasse und Grundüberzeugungen.“
AM: Das stimmt ja nicht einmal andeutungsweise. Spätestens mit der Agenda 2010 des Jahres 2003, im Kern schon viel früher, seit dem Kriegseinsatz im Kosovo und Serbien und der Ablösung Lafontaines durch Hans Eichel gibt es diese Konfrontation und das Lagerdenken kaum noch. Einvernehmlich sind Steuern gesenkt worden und die Hartz-Reformen eingeführt worden. Wenn es Konflikte im Bundesrat gab, dann waren das eher parteitaktische Spiele um die eigenen Wahlaussichten zu verbessern. Im Prinzip regierte seit langem eine Große Koalition zwischen Bundesregierung und Bundesrat.. Bis auf die Entscheidung der Bundesregierung, dass sich Deutschland nicht am Irak-Krieg der Amerikaner beteiligte, entdeckte man zumindest in der Außen- und Verteidigungspolitik schon seit Jahrzehnten eine große Koalition. Die bestimmenden Leute im Verteidigungsausschuss und dem Auswärtigen Ausschuss sind sich doch schon seit Jahrzehnten einig. Franz Walter präsentiert uns ein Konstrukt, dass mit der Realität wenig zu tun hat.
„In Deutschland waren die Parteien ganz im Unterschied zu anderen europäischen Ländern dezidierte Programm- und Weltanschauungsparteien, denen jeder Sprung über das eigene Milieu hinweg denkbar schwer fiel.“
AM: Das gilt für die SPD-Regierung schon lange nicht mehr. Das Berliner SPD-Grundsatzprogramm ist nahezu vollständig vergessen. Die SPD hat sich, von Schröder erpresst, in der Außen- und Reformpolitik nachweisbar dem konservativen Milieu angepasst. Auch die Union hat jenen Teil ihrer Weltanschauung, der mit der christlichen Arbeitnehmerschaft verbunden war, schon lange aufgegeben.
„Die Permanenz dieser Wahlauseinandersetzungen hat die schon im 19. Jahrhundert entstandene Mentalität des antagonistischen Gegnerhasses konserviert.“
AM: Von Gegnerhass zu sprechen, ist fast schon wieder lustig, soweit entfernt ist es von der Realität der parlamentarischen Praxis. Der Autor hat wohl völlig übersehen, wie nahe die Seeheimer und die Netzwerker der SPD zum Beispiel in Ideologie und Mentalität und Inhalt an der CDU/CSU dran sind. Dass es bei Wahlen dann eine Konkurrenz um die Machtpositionen und auch um Jobs gibt, und dass dabei dann auch hart gekämpft wird, ist verständlich, aber dies hat mit Schwarz und Rot im ideologischen Sinne doch überhaupt nichts mehr zu tun gehabt.
„ Der Abend des 18. September 2005 hat dafür ein schönes, besser: deprimierendes Beispiel geboten. Man sah die Anhängerschaften von Parteien, die im Grunde gerade bitter verloren hatten, in frenetischen Jubel ausbrechen und sich enthusiastisch in den Armen liegen: einzig und allein, weil der Gegner ebenfalls taumelte. Das ist übrig geblieben von den ideologischen Kämpfen der Vergangenheit: die Häme, die Schadenfreude, die Herabsetzung des Gegners. Demgegenüber ist die Sicherheit der eigenen, positiv formulierten politischen Ziele längst zerronnen und perdu.“
AM: Das ist richtig beobachtet, aber dies hat nichts mit Gegnerschaft sondern schlicht und einfach mit Konkurrenz zu tun. Das glich doch eher einem Verhalten von Fußballfans, die ihrem Verein zujubelten.
„Der gemeinsame Stolz auf die ungewöhnlichen Leistungen der alten Bonner Republik, des katholisch-sozialdemokratischen Sozialstaats hätte ein solcher Bezugspunkt sein können. Doch haben sich die Politikereliten beider Parteien bizarrerweise unisono von dieser keineswegs schmählichen Vergangenheit gelöst, ja sie nachgerade verächtlich gemacht.“
AM: Da kann ich dem Autor leichten und freudigen Herzens zustimmen.
„Der Erwartungsdruck der Wahlbürger ist nicht gering. Sie wollen, dass effizient und lösungsbezogen regiert wird. Die beiden Volksparteien müssen also eine rationale Verhandlungsstruktur finden, um zügig zu handlungsorientierten Konsenspunkten zu finden, bei denen keine der beiden Parteien das Gesicht verliert.“
AM: Es geht doch nicht um eine Verhandlungsstruktur. Es geht vor allem darum, welche Inhalte und Ideologien praktisch politisch relevant werden. Es zeichnet sich zum Beispiel ab, dass die beiden großen Parteien immer noch nicht richtig verstanden haben, wie wichtig eine expansive Politik auf dem Binnenmarkt ist. Das haben sie zwar im Ansatz verstanden, aber dieser Ansatz, die geplante Expansion des Jahres 2006, wird kaum ausreichen, um den von einer Spar-Ideologie geprägten Bremseffekt im Jahre 2007 zu konterkarieren. – Beide großen Parteien haben zum Beispiel auch nach wie vor verinnerlicht, was die Neoliberalen zur Durchsetzung ihrer Vorstellung uns erzählen: dass Globalisierung und Demographie umfassend neue Probleme seien, die Strukturreformen verlangten. Beide haben die gleiche ideologische Basis.
“Der Diskurs in der demokratischen Öffentlichkeit also fördert das Pathos der Grundsatzfestigkeit“.
AM: Franz Walter ist zu bewundern, wenn er noch irgendwo Grundsatzfestigkeit findet. Er ist nicht so bewundern, wenn er aufgrund solch falscher Vorstellungen nach Lösungen sucht.
„Die Einsicht in die Motive des Anderen, der Willen, auf den Verhandlungspartner zuzugehen, die Fähigkeit, von starren Ursprungspositionen zu lassen, dogmatische Fesseln aufzulösen“.
AM: Noch einmal die Frage nach den dogmatischen Fesseln. Wo sind Sie denn?
“Marionetten des Basiswillens und Tempelhüter von Parteiidentitäten sind für Verhandlungs- und Ausgleichssysteme – wie eben die Kompromissbildung in einer großen Koalition – gänzlich ungeeignet.“
AM: Wo gibt es denn die Tempelhüter und den Basiswillen noch?
“Prägen, konzipieren, entwerfen, vordenken, Ideen hervorbringen, die große Debatte führen, Zukunft antizipieren, Themen setzen, die wesentlichen Inhalte von Gesellschaft und Politik definieren – das ist die Aufgabe von brillanten Parlamentariern und anspruchsvollen Parteileuten. Keine Koalitionsrunde kann ihnen diese Funktion wegnehmen.“
AM: Dieser Absatz zeigt eher, dass der Autor noch von den alten Lehrbuchmythen von den herausragenden Geistern und Persönlichkeiten als Abgeordneten träumt, als dass er die Realität bundesdeutscher Parlamentarier im Auge hat. Die Rolle des Parlaments und damit auch der Parlamentarier wurde ja sowohl unter der Kanzlerschaft Kohls als auch Schröders auf die Funktion von Funktionsgehilfen der Regierung degradiert. Brillanz und Selbstansprüche der Abgeordneten wurden systematisch der Fraktionsdisziplin untergeordnet. Das hat ja auch dazu geführt, dass sich immer weniger profilierte Leute in den Parteien nach einem Parlamentsmandat drängen. Die Rolle des Stimmviehs im Parlament und dem Watschenmann vor Ort war auch bestimmt nicht gerade dazu angetan, dass sich Leute, die etwas auf dem Kasten hatten, für eine Kandidatur zu gewinnen.
“Und der politische Bewegungsraum dafür ist im Deutschen Bundestag unter den Bedingungen der großen Koalition breiter als sonst. Große Koalitionen lockern die Fesseln der Disziplin, lösen den Druck der Uniformität. Die Möglichkeiten für abweichende Positionen, gesonderte Gruppierungen, unorthodoxe Anträge und eigensinnige Redebeiträge sind größer als in Zeiten kleiner Koalitionen mit knappen, also prekären Mehrheiten.“
AM: Das wollen wir erst mal noch sehen. Vorerst ist die Behauptung ein reines Konstrukt.
„Zwischen 1966 und 1969 war das Selbstbewusstsein der deutschen Bundestagsabgeordneten deshalb erheblich angewachsen. Die Regierungsfraktionen sahen sich nicht mehr ausschließlich als parlamentarische Exekutive des Kabinetts, sondern als primärer Ort der Willensbildung und Themensetzung.“
AM: Ich war damals Mitarbeiter eines Ministers der Großen Koalition und kann mich nicht an das erinnern, was Franz Walter hier behauptet.
“Moderne, fragmentierte, aufgeklärte Gesellschaften sind auf beides angewiesen: Auf kompromissfähige Effizienz und auf charismatisch-programmatische Überzeugungskraft. Beides gedeiht in unterschiedlichen Arenen mit gegensätzlichen Logiken. Eben das macht Politik so schwierig, oft auch schwer verständlich. Politische Koalitionen benötigen effektiv, verlässlich und verschwiegen operierende Elitezirkel für die Kompromissbildung. Sie brauchen aber auch selbstbewusste, öffentlich agierende Parlamentarier, die die großen Linien ziehen, einprägsame Begriffe kreieren, mehr noch: die dem politischen Bündnis orientierende Leitvorstellungen voranstellen können“…
AM: Auch diese letzte Passage ist wie nahezu der gesamte Beitrag ohne Verbindung zur Realität, zum Beispiel ohne Verbindung und Bezug zur Koalitionsvereinbarung geschrieben worden. Es könnte aus einem Stehsatz stammen oder aus einem Lehrbuch der Politologe. Das ist schade, denn von Franz Walter sind wir in der letzten Zeit erleuchtendere Beiträge gewohnt.
Quelle: FR
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