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Titel: Was heißt Sieg oder Niederlage für Russland versus für Ukraine und den Westen? Eine Analyse
Datum: 22. Februar 2023 um 11:02 Uhr
Rubrik: Militäreinsätze/Kriege, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Redaktion
Derzeit scheint es, dass der Krieg zwischen der Ukraine, dem die Ukraine unterstützenden Westen und Russland auf die Zielgerade hinsteuert. In den Medien sowie in der Politik wird über die entscheidende Frühjahrsoffensive beider Seiten spekuliert. Die ukrainische Führung fordert vehement endlose Waffenlieferungen, insbesondere westliche Großwaffensysteme, nachdem die alten sowjetischen Systeme sowohl in der Ukraine als auch in den Post-Warschauer-Pakt-Staaten zur Neige gehen. Es dauerte keine 24 Stunden, nachdem Bundeskanzler Olaf Scholz in der Frage der Lieferung von Leopard-2-Kampfpanzern von den „Verbündeten“ und den deutschen politiktreibenden Medien in die Enge getrieben kapitulierte, da forderte die ukrainische Seite bereits Kampfflugzeuge. Wo soll das enden? Und vor allem, welche Szenarien entsprächen eigentlich einem Sieg oder einer Niederlage Russlands beziehungsweise der Ukraine? Von Dr. Alexander S. Neu.
Die Diskussion hierzu nimmt gerade an Fahrt auf. Besonders auch die angekündigte Lieferung von Leo-II-Kampfpanzern dürfte das deutsch-russische Verhältnis für eine sehr lange Zeit belasten, zumal derzeit die übrigen lieferwilligen Staaten hinsichtlich der realen Lieferung dieses Panzertyps sich plötzlich sehr bedeckt halten und die USA ihre Abrams-Lieferung für das Jahr 2024 ankündigten, nachdem sie zuvor Deutschland zur Lieferung und zur Erlaubnis, ihre LEO-II-Bestände liefern zu dürfen, massiv gedrängt hatten. Die Lieferung deutscher Panzer in den post-sowjetischen Raum ist gerade angesichts des deutschen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion 1941 bis 1945 mehr als heikel. Die Opfer, die Menschen der damaligen Sowjetunion und ihre Nachfahren, haben ein längeres Gedächtnis als ihre Täter. 27 Millionen unmittelbar getötete Sowjetbürger heißt, dass praktisch in jeder Familie Tote zu beklagen waren – auch in der Familie Putin, womit ein persönlicher Bezug in dem deutsch-russischen Verhältnis in Gestalt des russischen Präsidenten besteht. Die Geschichtsvergessenheit in Deutschland scheint besonders ausgeprägt zu sein, sowohl im politischen Berlin als auch in manchen vor Bellizismus triefenden Redaktionsstuben.
Frühjahrsoffensive
Wie genau die mediale und politische Diskussion zu einer Entscheidungsschlacht im Frühjahr dieses Jahres in Russland ist, vermag ich nicht seriös einzuschätzen, da die Quellen zumeist in russischer Sprache sind, die ich nicht beherrsche.
Jedenfalls scheint das Frühjahr 2023 nach Einschätzung westlicher Beobachter und Analysten ein entscheidender Zeitraum für die Ukraine hinsichtlich des Verlaufs des Krieges und somit für die Zukunft der Ukraine zu werden.
Wurde im Herbst angesichts erfolgreicher ukrainischer Offensiven einschließlich der Rückholung der Stadt Cherson im Westen noch überschwänglich der bevorstehende Sieg der Ukraine herbeigeschrieben, so beginnt nun die Skepsis über genau diesen bevorstehenden ukrainischen Sieg, d.h. die Rückeroberung aller Gebiete, möglichst inklusive der Krim, zu wachsen. Vorsichtig wird sogar über eine mögliche Niederlage der Ukraine diskutiert. Die Welt machte jüngst den Aufschlag im deutschen Blätterwald. Dem ging eine Studie der RAND-Corporation voraus, die einen raschen Waffenstillstand empfiehlt, da die Kosten der Fortsetzung des Krieges für die USA (wohlgemerkt für die USA, nicht etwa für die Ukraine) höher wögen als der Nutzen.
Für Russland, so wird in westlichen Hauptstädten derweil diskutiert, eröffne sich ein günstiges Zeitfenster, da der Ukraine zunehmend die Waffen ausgingen und die ersten westlichen Großwaffensysteme frühestens im März eintreffen könnten bzw. auch die Ausbildung ukrainischer Kräfte an den Waffensystemen Zeit in Anspruch nehme. Tatsächlich scheinen der Ukraine aber nicht nur die Waffen auszugehen, sondern auch wehrfähige Kräfte. Die Verluste an Menschenleben auf beiden Seiten scheinen enorm zu sein. So hat der US-Generalstabschef Mark Milley im November von rund 100.000 Toten auf jeder Seite gesprochen, also über 200.000 Soldaten insgesamt. Nicht mitgezählt die bisher getöteten Zivilisten. Diese Zahlen von November 2022 dürften mittlerweile als veraltet gelten.
Abgesehen von der menschlichen Tragik ist eine solche Zahl an getöteten Menschen für die Ukraine als Land mit wesentlich geringerer Einwohnerzahl (laut Statista gegenwärtig knapp unter 40 Mio. – Tendenz signifikant fallend versus Russland mit 144 Millionen Einwohnern, Tendenz ebenfalls signifikant fallend) jedoch von existentieller Bedeutung. Auch nach dem Krieg, wenn arbeitsfähige Kräfte und Fachkräfte schlichtweg für den Wiederaufbau des Landes fehlen und weitere Menschen, insbesondere Fachkräfte, das Land aufgrund der drohenden Perspektivlosigkeit verlassen sollten.
Sollte die russische Seite tatsächlich das offene Zeitfenster für eine umfassende Offensive nutzen und damit sogar erfolgreich sein, so bleibt dennoch festzuhalten, dass es mehr als unwahrscheinlich ist, dass das russische Militär die gesamte Ukraine zu unterwerfen vermag. Im günstigsten Falle würde der Raum östlich des Dnepr-Flusses erobert werden können, ggf. noch die gesamte ukrainische Schwarzmeerküste mit der Stadt Odessa, was ein herber Verlust für die Ukraine darstellen würde. Damit wäre die Ukraine kein maritimer Anrainer-Staat mehr, sondern „landlocked“ mit ausschließlicher Westöffnung. Die genannte Räumgröße östlich des Dnepr ist bereits selbst um ein Vielfaches größer als der Raum, den die russischen Streitkräfte derzeit effektiv kontrollieren.
Messbarkeit von Sieg und Niederlage
Es stellt sich jedoch die Frage, was unter einem Sieg und unter einer Niederlage zu verstehen ist. Kann man objektiv nachvollziehbare bzw. messbare Kriterien entwerfen? Da nicht davon auszugehen ist, dass es eine im wissenschaftlichen Sinne idealtypische Niederlage, einen idealtypischen Sieg, wie beispielsweise 1918 und 1945, in diesem Krieg geben wird, wird jede Konfliktseite nachvollziehbar bestrebt sein, eine Niederlage als Kriegsergebnis gegenüber der eigenen Bevölkerung zu relativieren.
Eigentlicher Ausgangspunkt, also Kriterium für die Messung des militärischen Erfolges oder Misserfolges ist naturgemäß das vor Beginn bzw. zu Beginn des Krieges genannte politische und militärische Ziel der angreifenden Konfliktpartei sowie exakt die erfolgreiche Abwehr dieses Angriffs und Verunmöglichung des vom Angreifer formulierten politischen und militärischen Ziels durch die verteidigende Konfliktpartei.
Dieser Ansatz, das Ausgangspunktkriterium als Messlatte zu nehmen, ist aus zwei Gründen sinnvoll: Erstens verändern sich die Kriegsziele im Laufe des Konflikts. Verlaufen die militärischen Operationen des Angreifers unerwartet gut, werden Kriegs- und politische Ziele gern erweitert. Verlaufen die Operationen eher nachteilig, werden die politischen und militärischen Ziele unterhalb der ursprünglichen Zielmarke neu justiert. Und das umso eindringlicher, je weiter die angreifende Seite von der ursprünglichen Zielmarke sich entfernt. Schließlich kann man der eigenen Bevölkerung keinen halben Sieg oder gar eine Niederlage nach all den menschlichen Kosten und materiellen Entbehrungen verkaufen. Mit anderen Worten, die Kriegspropaganda an der Heimatfront läuft dann auf Hochtouren. Nicht anders sieht es bei der sich verteidigenden Konfliktpartei aus. Ein idealtypischer Sieg für den Verteidiger ist die Wiederherstellung des territorialen Status quo ante, wobei die menschlichen und materiellen Verluste methodisch hier nicht berücksichtigt werden können.
Sollte der Verteidiger sogar den Angreifer auf dessen Staatsgebiet nicht nur zurückwerfen, sondern darüber hinaus dieses auch besetzen, die Hoheitsgewalt gar temporär übernehmen und Reparationszahlungen erzwingen, so wäre dies ein Sieg der Genugtuung des Verteidigers. Da auch hier davon auszugehen ist, dass die Ukraine und selbst die NATO nicht in der Lage wären, die größte Atommacht der Welt, die Russische Föderation, in eine solche Situation zu bringen, ohne dass dies zu einem alles vernichtenden Nuklearkrieg führen würde, kann man dieses potentielle Kriegsziel hoffentlich als realitätsfern ausschließen.
Damit bliebe für die Ukraine als maximales politisches und militärisches Ziel die vollständige Rückeroberung aller seit 2014 verlorenen Gebiete.
Der zweite Grund für das Ausgangspunktkriterium ist, dass selbst ein militärischer Sieg unterm Strich eine politische Niederlage sein kann. Selbst wenn alle militärischen und vor allem politischen Ziele zunächst erreicht wurden, können die Kosten des Krieges für die Gesellschaft und Wirtschaft so enorm sein, dass bei einer ehrlichen, also umfassenden politischen und volkswirtschaftlichen Aufrechnung, d.h. unter Einbeziehung der Toten, der ökonomischen und ökologischen Schäden, der internationalen Reputation etc., mittel- und langfristig eine Niederlage zu konstatieren wäre. Nur, eine solch umfassende und interdisziplinäre Methode ist eine Mammutaufgabe für Forschungsinstitute, kann also in einem kurzen Artikel wie diesem nicht geleistet werden.
Russlands deklariertes Ziel am 21. und 23. Februar 2022
In der Rede Wladimir Putins an die Nation am 21. Februar 2022 formulierte er die Absicht, die beiden „Volksrepubliken“ diplomatisch anzuerkennen und sie damit der Hoheitsgewalt der Ukraine dauerhaft zu entziehen:
„Daher halte ich es für unumgänglich, die längst überfällige Entscheidung zu treffen und unverzüglich die Unabhängigkeit und Souveränität der Volksrepublik Donezk und der Volksrepublik Lugansk anzuerkennen.“
Kurz darauf traten die beiden „Volksrepubliken“ der Russischen Föderation bei, wurden also nach russischer Lesart Teil des russischen Staates – eine völkerrechtliche Analyse/Bewertung kann hierzu in der gebotenen Sorgfalt nicht geleistet werden.
Darüber hinaus erläuterte Putin in dieser Rede die russische Sicht auf die sicherheits- und militärpolitische Lageentwicklung zwischen der Russischen Föderation und der NATO bzw. der ungebremsten NATO-Osterweiterung inklusive der Ukraine.
In einer weiteren Rede an die Nation in der Nacht vom 23. auf den 24. Februar formulierte der russische Präsident folgende politische Ziele:
Sehr konkret formulierte und operationalisierbare Ziele sind die Absicherung der beiden „Volksrepubliken“ im Bestand der Russischen Föderation, die Verhinderung des Erwerbs von Atomwaffen seitens der Ukraine sowie die Verhinderung des Beitritts der Ukraine zur NATO, der eigentliche strategische Kriegsgrund für Russland. Aber genau dieses strategische Motiv wird in der westlichen Politik und den Medien möglichst nicht diskutiert bzw. dem herrschenden Narrativ entzogen. Kritische Geister, die dennoch auf diese sicherheits- und militärpolitische Komponente des Konfliktes verweisen bzw. sich nicht mit der vom Westen propagierten reinen imperialen Motivlage Moskaus abspeisen lassen, werden als „Putinisten“ und Personen, die die Kremlpropaganda fütterten, diffamiert.
Die übrigen formulierten Ziele sind eher abstrakter Art. Ganz offensichtlich scheint sich indessen in der russischen Gesellschaft ein erheblicher Erklärungsbedarf hinsichtlich der übrigen Ziele zu entwickeln. So griff die Chefredakteurin des russischen Medienunternehmens Rossija Sewodnja, Margarita Simonjan, jüngst das Thema der Ziele des russischen Krieges mit Verweis auf die Aufklärungsforderungen der russischen Gesellschaft auf. Simonjan erklärte, die Ziele Russlands in der Ukraine seien dynamisch, also in Abhängigkeit der militärischen Möglichkeiten. Dazu zähle auch die Sicherung der gesamten ukrainischen Schwarzmeerküste, um den Aufbau militärischer Infrastruktur der NATO dauerhaft zu verhindern – also eine sicherheits- und militärpolitische Begründung. Als Minimalziele nannte sie die Absicherung der territorialen Eroberungen – mittlerweile um die Region Cherson und Saporischschja erweitert. Im Hinblick auf die „Denazifizierung“ und „Demilitarisierung“ blieb sie nicht nur unkonkret, sondern verteidigte offensiv die Unbestimmtheit der Begriffe.
Denn, wie ist eine Demilitarisierung zu definieren und zu operationalisieren? Heißt das die vollständige Zerschlagung aller waffentragenden Sicherheitsorgane der Ukraine, wie zunächst nach der Kapitulation Deutschlands 1945, oder eine relative Entwaffnung, Verbot aller Großwaffensysteme (Kampfpanzer, Flugzeuge etc.) und nur die Erlaubnis zur Aufrechterhaltung kleiner militärischer Verbände, wie zunächst die Kasernierte Volkspolizei der frühen DDR? Das zeigt, wie schwierig eine Umsetzung von formulierten Kriegszielen sein kann. Nicht anders verhält es sich mit der Forderung der Entnazifizierung. Was heißt das konkret?
Auch die Zielsetzung, nicht die gesamte Ukraine besetzen zu wollen, hinterlässt sehr viel Interpretationsspielraum.
Aber all diese eher abstrakten Ziele können für die russische Seite jedoch von Vorteil sein, um Spielräume bei der Verlautbarung vom großen Sieg oder nicht ganz so großem Sieg gegenüber der eigenen Bevölkerung zu haben. Ein Verständigungsfrieden (Sicherung der Minimalziele) würde sicherlich nicht den großen Sieg für Russland bedeuten – aber einen Gesichtsverlust Moskaus vermeiden. Hingegen wäre ein Siegfrieden oder Diktatfrieden, bei dem Moskau die Zukunft der Ukraine diktieren könnte, ein großer Sieg. Mit einem russischen Diktatfrieden gingen neben massiven Raumverlusten auch ein erheblicher Souveränitätsverlust der Ukraine einher.
Eine De-facto-Anerkennung der Sezession der Krim und Integration in die Russische Föderation sowie der annektierten „Volksrepubliken“ Lugansk und Donezk in den Grenzen bis zum 23. Februar 2022 seitens des Westens wäre ein Minimalsieg für Russland. Darüberhinausgehende Raumgewinne, wie oben bereits erwähnt, plus die Verhinderung einer NATO-Mitgliedschaft wäre ein großer russischer Sieg. Wobei die Neutralisierung (gemeint als bündnisfreier und somit neutraler Staat) der Ukraine nur dann möglich wäre, wenn die NATO ihre sicherheitspolitisch destruktive Politik der Osterweiterung endlich beenden und akzeptieren würde, dass auch andere Staaten, insbesondere auch Nuklearmächte, die nicht der NATO angehören oder zum Westen zählen, legitime Sicherheitsinteressen haben dürfen. Des Weiteren müsste die gegenwärtige ukrainische Elite dieses Szenario auch mittragen.
Eine über die Neutralisierung hinausgehende Russifizierung der Ukraine würde die Machtübernahme einer prorussischen Elite voraussetzen oder die ukrainische Souveränität müsste durch eine umfassende russische Besatzung o.ä. weitgehend aufgehoben werden. Für andere Modelle, die eine NATO-Mitgliedschaft dauerhaft ausschlössen, fehlt mir derzeit die Phantasie.
Die deklarierten Ziele der Ukraine zu Beginn des Krieges
Bei der Ukraine sehen die erklärten Kriegsziele wesentlich konkreter aus, was in der Natur der Sache liegt: Rückeroberung aller verlorenen Gebiete. Diese umfassende Forderung wurde bereits mehrfach artikuliert seitens Kiewer Vertretern. Die Verhandlungsbereitschaft der ukrainischen Politikentscheider wird sogar mit einer zeitlichen Reihenfolge konditioniert: Erst der vollständige Abzug russischer Kräfte aus der Ukraine, dann Verhandlungen mit Russland. Worüber dann allerdings noch verhandelt werden soll, wird in den entsprechenden Aussagen nicht weiter qualifiziert. Jedenfalls unterstreicht diese Forderung bislang die Entschlossenheit der ukrainischen Politik, den Krieg bis zur Erreichung des vollständigen Status quo ante (Stand Februar 2014) fortzusetzen.
Eine vollständige Rückeroberung inklusive der Krim käme einem beachtlichen Siegfrieden für die Ukraine gleich. Würde Russland im Ergebnis sogar noch zu Reparationszahlungen verpflichtet und diese auch geleistet werden, hätte die Ukraine einen Genugtuungsfrieden erreicht. Für Russland würde dies einen enormen internationalen Gesichtsverlust darstellen. Zumal dann die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine wieder auf der Tagesordnung stünde und die Ukraine massiv gegen Russland aufgerüstet werden würde – mit US-amerikanischen Truppen direkt an den russischen Grenzen.
Sollte die Ukraine tatsächlich die Ost- und Südostukraine – ohne die Krim – zurückerobern, so stellte dies ebenfalls einen beachtlichen ukrainischen Sieg dar, der für Russland eine enorme Belastung hinsichtlich der dauerhaften Absicherung der Krim bedeutete. Hinzu kämen die Evakuierung und Unterbringung all jener Menschen, die die russische Staatlichkeit aktiv unterstützt hatten und nun der ukrainischen Rache für die Kollaboration ausgesetzt wären.
Mit der Rückeroberung der Gebiete bis zum 24. Februar 2022, also der Gebiete Cherson und Saporischschja, wäre ein kleiner Sieg erreicht. Dennoch für die russische Seite katastrophal, da diese Gebiete nach russischer Auffassung bereits russisches Staatsgebiet darstellten und auch in diesem Falle der Landzugang zur Krim für Russland versperrt werden würde, was, wie oben bereits ausgeführt, eine enorme Belastung für Russland darstellte.
Für die Ukraine wäre ein Verhandlungsfrieden, also Verzicht auf Territorien, auf jeden Fall eine, wenn auch in abgestuften Qualitäten, Niederlage – anders als für Russland. Um diesem Szenario zumindest hinsichtlich der eigenen Öffentlichkeit entgegenzutreten, verbot der ukrainische Präsident Selenski am 4. Oktober 2022 per Dekret die Möglichkeiten, mit dem russischen Präsidenten Putin in Verhandlungen zu treten. Was dieses Verbot genau bedeutet, sei dahingestellt. Bezieht sich dieses Verhandlungsverbot „nur“ auf die Personalie Putin, nicht aber auf Russland als Verhandlungspartner, so wäre es relativ unbedeutsam, da es ohnehin unwahrscheinlich ist, dass der russische Präsident selbst in Verhandlungen träte. Viel wahrscheinlicher wäre die Entsendung einer Verhandlungsdelegation ggf. unter Leitung des russischen Außenministers oder einer seiner Stellvertreter. Bezieht sich das Verhandlungsverbot jedoch auf die herrschende politische Klasse Russlands, so wäre es der Versuch, einen Regimechange in Russland zu befördern, für den Fall, dass die russische Gesellschaft des Krieges und der damit einhergehenden Entbehrungen müde werden sollte.
In letzterem Falle könnte sich dieses Verhandlungsverbot auch als Eigentor für die Ukraine erweisen, weil keine Verhandlungen den Diktatfrieden für die eine oder andere Seite bedeuten.
Die ukrainische Seite steht vor dem Dilemma, entweder den Krieg soweit fortzusetzen, bis sie ihre Territorien gänzlich oder teilweise zurückerobert hat, dessen Erfolg aber erstens sehr ungewiss ist und zweitens vermutlich die totale Zerstörung ihrer Infrastruktur bedeuten wird. Oder aber den Krieg und somit das Sterben der eigenen Bevölkerung und der Soldaten zu beenden sowie die noch bestehende Infrastruktur zu schützen, dafür aber massive Territorialverluste und die Neutralität der Ukraine zu akzeptieren.
Güterabwägung – Territorien oder Zerstörung
In der jüngeren Geschichte gibt es ein Beispiel für das zweite Szenario zwecks Auflösung des Dilemmas:
Die jugoslawische Regierung nahm ihre Niederlage nach 77 Tagen massiver NATO-Bombardierung in Kauf, da sie die weitere Zerstörung jugoslawischer Infrastruktur und Tötung von Zivilisten durch die NATO-Luftangriffe nicht weiter erleiden wollte. Tatsächlich erlitt die jugoslawische Armee aufgrund ihrer Taktiken kaum Verluste am Boden. Angesichts dessen verlagerte die NATO ihre Angriffe auf die zivile Infrastruktur, also genau das, was die russische Armee seit Oktober 2022 eben auch verstärkt ins Visier nimmt. In der Güterabwägung entschied sich die jugoslawische Seite für den Schutz der Menschen und der Infrastruktur. Dies wurde der jugoslawischen Seite auch durch die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 leichter gemacht, da darin die territoriale Integrität und Souveränität auch über den Südwesten des serbischen Staates, die Region Kosovo, zugesichert wurde.
Vertrags- und Vertrauensbrüche
Dass die NATO, EU und die führenden westlichen Hauptstädte diese völkerrechtlich verbindliche Zusage brachen und vom ersten Tag des Waffenstillstandes an die Sezession des Kosovo unter dem Faktor Zeit vorantrieb, sagt viel über die Völkerrechtstreue des Westens aus. Und genau dieses instrumentelle Verständnis des Völkerrechts erschwert auch noch einmal die wünschenswerte Option eines Verhandlungsfriedens. Denn die russische Seite konnte nicht nur den Umgang des Westens mit Serbien und der gewaltsamen Abtrennung der serbischen Provinz Kosovo trotz UN-Sicherheitsratsresolution 1244, trotz UN-Charta etc. beobachten. Vielmehr „genoss“ Russland das „Privileg“, die Vertrags- und somit Völkerrechtstreue Frankreichs und Deutschlands hinsichtlich der intendierten Nicht-Umsetzung des Minsker Abkommens selbst zu erfahren: Altkanzlerin Angela Merkel sowie der frühere französische Präsident Francois Hollande erklärten vor wenigen Wochen unverblümt:
„Und das Minsker Abkommen 2014 war der Versuch, der Ukraine Zeit zu geben. Sie hat diese Zeit auch genutzt, um stärker zu werden, wie man heute sieht.“
Mithin, sich militärisch soweit aufzurüsten, um die Ostukraine militärisch zurückzuerobern, wie dies bereits Kroatien 1995 mit wohlwollender Unterstützung des Westens mit der Region Krajina getan hatte. Da es sich bei dem Minsker Abkommen nicht „nur“ um ein multilaterales Protokoll zwischen den Verhandlungsparteien handelte, sondern das Abkommen darüber hinaus auch noch vom UN-Sicherheitsrat, dem höchsten Gremium zur Wahrung des „Weltfriedens und der internationalen Sicherheit“, als Sicherheitsratsresolution (2202) verabschiedet wurde, hatte es eine völkerrechtlich eindeutig verbindliche Wirkung erlangt. Der Bruch stellt einen erstklassigen Rechtsnihilismus dar, der neben vielen anderen rechtsnihilistischen Aktivitäten des Westens das Völkerrecht immer weiter zertrümmert. So viel dazu, wenn der Westen von der Notwendigkeit der Einhaltung des Völkerrechts schwadroniert.
Das Problem ist nun, dass multilaterale Verhandlungsergebnisse und deren dauerhafte Absicherung in einem Klima massiven Vertrauensverlustes kaum zu erzielen sein dürften. Zumindest Frankreich und Deutschland als potentielle Garantiemächte dürften sich selbst ins Aus geschossen haben.
Kritiker mögen zu Recht mit Hinweis auf Art. 52 („Zwang gegen einen Staat durch Androhung oder Anwendung von Gewalt“) des „Wiener Übereinkommens über das Recht der Verträge“ argumentieren, das Minsker Abkommen sei aufgrund des militärischen Drucks Russlands entstanden und daher könne es nicht verbindlich sein. Dieses Argument trifft aber nicht minder auf die Abkommen und die UN-Sicherheitsratsresolution 1244 mit Blick auf die südserbische Provinz Kosovo zu. Auch hier wurde mit Hilfe der Anwendung militärischer Gewalt seitens der NATO Serbien genötigt, den diversen Abkommen zuzustimmen. Zweierlei Maß und Doppelstandards erfolgreich praktiziert in den Zeiten der unipolaren Weltordnung werden in der sich aktuell herausbildenden multipolaren Weltordnung keine Zukunft mehr haben. Dieses westliche „Privileg“ ist an sein Ende gelangt.
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