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Titel: Alles normal, zur politischen Normalität gemacht
Datum: 22. Februar 2023 um 9:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Strategien der Meinungsmache, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Interessant, wie vieles zur Normalität gemacht werden kann, das noch vor einiger Zeit undenkbar war. Die Wehrbeauftragte fordert, so eine Tagesnachricht, die Aufstockung des Verteidigungsetats um zehn Milliarden und feste Finanzzusagen für die Rüstungsindustrie, weil diese Planbarkeit brauche.[1] Die Bundesrepublik unterstützt massiv ein Land mit Waffenlieferungen, militärischen Ausbildungsprogrammen und Finanzhilfen, dem gegenüber keine Bündnisverpflichtungen bestehen, ein Land, das mit seiner Politik einen Krieg provoziert hat[2] und Verhandlungen mit dem Aggressor verweigert. Nur weitere Waffenlieferungen infrage zu stellen, das haben einige gewagt. Von Georg Auernheimer.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Wir erleben gerade, wie eine neue Normalität geschaffen wird. Dass ein ausländischer Botschafter einheimische Politiker und Intellektuelle beschimpft, den Bundeskanzler eine „beleidigte Leberwurst“ nennt, sorgt nicht für Aufregung. Dass ukrainische Regierungsvertreter von einem deutschen Staatstheater die Ausladung einer unliebsamen Sängerin verlangen oder von der Mailänder Scala die Absetzung einer Oper vom Spielplan fordern, wirkt nicht befremdlich. Dass ukrainische Aktivisten beim Kölner Rosenmontagszug Flugblätter ans närrische Volk verteilen, dafür findet sicher ein Lokalhistoriker Vorbilder aus alter Zeit.
Wolodymyr Selenskyi, Präsident der Ukraine, ist seit der russischen Invasion in Europa und der Welt allgegenwärtig . Am 17. März letzten Jahres übte er vor dem Deutschen Bundestag scharfe Kritik an Deutschlands Russland-Politik. Ende November war er zu einer außerordentlichen Sitzung des UN-Sicherheitsrats zugeschaltet.[3] Ende Januar dieses Jahres forderte er die 50 Mitglieder der Ukraine-Kontaktgruppe in Ramstein zu mehr Tempo bei Waffenlieferungen auf.[4] Am 9. Februar nahm er an einer außerordentlichen Plenarsitzung des Europäischen Parlaments teil und belehrte die Abgeordneten, dass Russland „die europäische Lebensweise“ vernichten wolle.[5] Am 16. Februar appellierte er zum Auftakt der Berlinale an Filmschaffende und Künstler, sein Land zu unterstützen. Das Publikum bedachte Selenskyj mit Applaus im Stehen.[6] Am 17. Februar hielt er per Video die Eröffnungsansprache bei der Münchner Sicherheitskonferenz und drang auf weitere Waffenhilfe für die Ukraine.[7] Es dürfte kaum jemanden wundern, wenn Selenskyi demnächst eine Rede im baden-württembergischen oder hessischen Landtag hält.
Auch wenn die Supermacht USA auf deutschem Territorium zu einer internationalen Konferenz einlädt, findet niemand etwas dabei. Dass der Bündnispartner eine wichtige, mit Millionenaufwand errichtete Versorgungsleitung in die Luft sprengen lässt, nimmt man hin. Der Präsident der verbündeten Macht hatte es schon angekündigt. Und die Wahrheit sei die beste Tarnung, meint einer der beiden Brandstifter in dem Stück „Biedermann und die Brandstifter“ von Max Frisch, und zwar deshalb, weil sie niemand glauben wolle.
In dem Stück von Max Frisch wird uns sehr schön demonstriert, wie eine neue Normalität hergestellt wird. Herr Biedermann, der in der Zeitung von einer Welle von Brandstiftungen gelesen hat, überwindet sein Misstrauen, als ein Hausierer um Obdach bittet, und lässt ihn auf dem Dachboden seines Hauses nächtigen. Am nächsten Tag zieht auch dessen Kumpan, angeblicher Vertreter der Feuerversicherung, ein. Dass er plötzlich zwei ungebetene Gäste hat, das macht Biedermann zwar sprachlos, aber er bringt es nicht fertig, sie hinauszuwerfen. Damit sie ihm freundlich gewogen sind, lädt er sie zum Abendessen ein. Er wird dabei in die technische Vorbereitung der Brandlegung einbezogen. Der Rest des Stücks interessiert hier nicht weiter. Klar, dass das Haus in Flammen aufgeht.
Was hier interessiert, ist die Herstellung von Normalität. In der literarischen Fiktion reicht dafür eine gute Portion Frechheit wie bei den beiden fremden Brandstiftern, in der gesellschaftlichen Realität braucht es dazu Macht, und zwar eine Macht, die als legitim anerkannt wird. Dafür sorgen die Medien. Es kann auch geliehene Macht sein.
Was ist „Normalität“? Unsere Vorstellung, wie alles in der Welt, in unserer Welt, abzulaufen hat, macht die Normalität aus. Was wir für richtig oder falsch, für angebracht oder unangebracht halten, ohne groß nachzudenken, das ist normal. Normal ist das, was kein Unbehagen weckt, nicht befremdlich ist. Manche Theoretiker sprechen vom Alltagsbewusstsein. Sobald wir etwas seltsam finden, ist das Alltagsbewusstsein durchbrochen.
Wenn die ukrainischen Politiker aktuell Streumunition und Phosphorbrandbomben fordern und deren Einsatz „vorschlagen“, sind sie dabei, eine neue Normalität herzustellen. Wenn die Ukraine ebenso wie der Gegner heimlich schon seit langem solche Munition verwendet,[8] dann ist das etwas Anderes. Mit der offenen Forderung nach Lieferung wird eine neue Stufe erreicht. Bellizisten, die sonst jede Waffenlieferung an die Ukraine befürworten, spreizen sich dagegen. Ungeachtet dessen kommt die Forderung einem Rückfall hinter die Oslo-Konvention von 2010 gleich, mit der solche Munition international geächtet wurde.[9]
Vieles, zu vieles ist uns zur Normalität geworden. Wir finden es längst normal, dass die USA nach Gutdünken wirtschaftliche Sanktionen gegen Länder verhängen, deren Demokratiemodell und Wirtschaftssystem ihnen nicht passt oder deren Regime die von ihnen angestrebte geopolitische Flurbereinigung stört.
Wir finden es längst normal, dass die US-Administration für gefährlich erklärte Personen, eventuell auch samt Anhang, per Drohnen ermordet. Wir finden es längst normal, dass Fernseh-Moderatorinnen und -Moderatoren in Talkshows die politischen Themen setzen.
Wir finden es normal, dass Konzerne per Betriebsschließung oder Standortverlagerung über das wirtschaftliche Schicksal einer Region entscheiden können.
Wir finden es normal, dass die Post heute ein gewinnträchtiges Unternehmen mit einem miserablen Service ist. Nicht mehr normal finden wir inzwischen, dass Wohnungskonzerne das Mietpreisniveau bestimmen, das aber nur dank der Initiative Deutsche Wohnen & Co. enteignen.
Unsere Normalitätsvorstellungen ins Wanken gebracht haben viele Vertreter des globalen Südens, unter anderem Nuledi Pandor/Südafrika und Lula da Silva/Brasilien, weil sie sich dem Kreuzzug gegen die Russische Föderation verweigern. In den westlichen Medien wurden „Unverständnis“, „Verblüffung“ und „Sprachlosigkeit“ registriert.[10]
Bert Brecht liebte es, die Normalitätsvorstellungen zu verwirren oder aufzustören mit solchen Sprüchen wie „Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“. „Verfremdung“, das dramaturgische Mittel seiner Stücke, sollte den üblichen Blick der Zuschauer auf die Welt verändern. Das täte gut.
Die Funktion der Narren war es traditionell, die gängige Weltsicht der Leute zu irritieren, so wie es Eulenspiegel tat. Ganz anders die Düsseldorfer Karnevalsvereine. Mit dem Bild vom blutrünstigen Putin zum Beispiel bestätigten sich Veranstalter und Publikum mit bösem Gelächter gegenseitig in ihrer Weltsicht.
Titelbild: Cast Of Thousands/shutterstock.com
[«1] zdf.de/nachrichten/heute-sendungen/ruestungsindustrie-wehrbeauftragte-hoegl-fordert-finanzzusagen-verteidigungsetat-video-100.html abgerufen am 18.02.23
[«2] Georg Auernheimer: Der Ukraine-Konflikt. Wie Russlands Nachbarland zum Kriegsschauplatz wurde. Berlin 2023.
[«3] tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-selenskyj-un-sicherheitsrat-101.html abgerufen am 18.02.23
[«4] tagesschau.de/ausland/europa/ramstein-panzer-usa-101.html abgerufen am 18.02.23
[«5] europarl.europa.eu/news/de/press-room/20230208IPR72901/selenskyj-sieht-in-russland-ernste-bedrohung-fur-die-europaische-lebensweise abgerufen am 18.02.23
[«6] zdf.de/nachrichten/politik/selenskyj-berlinale-ukraine-krieg-russland-100.html abgerufen am 18.02.23
[«7] tagesschau.de/inland/sicherheitskonferenz-selenskyj-muenchen-101.html abgerufen am 18.02.23
[«8] nachdenkseiten.de/?p=94038 abgerufen am 20.02.23
[«9] Die USA setzten in den Irakkriegen und anfangs in Afghanistan noch Streumunition ein. Sie haben die Konvention nach wie vor ebenso wenig unterzeichnet wie die Russische Föderation.
[«10] Anne-Cécile Robert: Nicht unser Krieg. Warum so viele afrikanische Staaten Russland nicht verurteilen wollen. Le Monde diplomatique (dt.) v. Februar 2023, S.6
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