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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: “Die Pferde müssen wieder saufen”
Datum: 23. September 2004 um 14:35 Uhr
Rubrik: Arbeitslosigkeit, Veröffentlichungen der Herausgeber, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Albrecht Müller
Eine Erinnerung an erfolgreiche Konjunkturpolitik in den Zeiten von “Plisch und Plum” oder: Wachstum scheitert derzeit hauptsächlich an Dogmen, von Albrecht Müller, Frankfurter Rundschau, 09/2004
Der immer noch als Vordenker der SPD herumgereichte Peter Glotz hat in einer gemeinsamen Besprechung eines Buches von Friedrich Merz (CDU) und meines Buches “Die Reformlüge” voller Erstaunen festgehalten, Merz und ich glaubten, Vollbeschäftigung sei möglich. Wer heute für eine Politik der Vollbeschäftigung wirbt, wer zu erkennen gibt, mit Hilfe des Wachstums unserer Volkswirtschaft dieses Ziel erreichen zu wollen und deshalb eine expansive Wirtschaftspolitik empfiehlt, der gilt als Exot, als einseitig keynesianisch und damit als traditionell und überholt.
Die Variation der Behauptungen, die wir in diesem Zusammenhang zu hören bekommen, reicht von den Thesen, das Wachstum in der Bundesrepublik Deutschland sei 1975 zu Ende gegangen (so u.a. Glotz), das Wachstum nehme geradezu gesetzmäßig ständig ab (Horst Afheldt), nie mehr könnten wir Wachstumsraten erreichen, die Vollbeschäftigung schaffen und der Kapitalismus schaffe die Arbeit ab (Ulrich Beck) bis zu dem in einem vielstimmigen Chor vorgetragenen Sprechgesang: “Keynes ist out” und “Konjunkturprogramme sind Strohfeuer”. Letzteres wird im Kanon gesungen, wobei der Einsatz für die CDU/CSU einen großen Vorlauf aus den siebziger Jahren hat und die SPD jetzt kräftig mitsingt, nachdem sie noch in den Siebzigern mit Recht taub gegen diese Parolen und stolz auf ihre Politik der Globalsteuerung war.
Die Reaktionen der heute herrschenden Meinungsführer sind rational schwer zu begreifen. Warum soll Vollbeschäftigung nicht mehr möglich sein? Warum sollen wir sie nicht wenigstens wollen?
Erfahrung wider Pessimismus
Schon die eigenen deutschen Erfahrungen sprechen gegen den gängigen “strukturellen” Pessimismus: 1975, im Jahr der angeblichen Zäsur, war das Bruttoinlandsprodukts (real) um -1,3 Prozent gefallen – vor allem eine Folge der ersten Ölpreisexplosion. 1976 stieg das Bruttoinlandsprodukt um 5,3 Prozent (!). Dann um 2,8, um drei und 1979 noch einmal um 4,2 Prozent. Damit ist in dieser Vier-Jahres-Periode nach dem angeblichen Abbruch des Wachstums der hohe Durchschnittswert von gut 3,8 Prozent p.a. erreicht – vor allem ein Erfolg der verpönten Konjunkturprogramme!
In den folgenden Jahren zwischen 1980 und 1987 dümpelte die deutsche Volkswirtschaft mit einer kläglichen Durchschnittsrate von 1,3 Prozent Wachstum dahin. Die Arbeitslosigkeit erreichte 1985 den bis dahin höchsten Wert von 9,3 Prozent. 1988, wohl gemerkt noch vor der deutschen Einheit, begann mit 3,7 Prozent eine neue Phase des Wachstums. Wie die abgebildete Tabelle von Daten der OECD zeigt, folgten 3,9 Prozent in 1989, 5,7 in 1990 und 5,1 in 1991. Die durchschnittliche Wachstumsrate in diesen vier Jahren lag real bei 4,6 Prozent. Das war 15 Jahre nach der angeblichen Zäsur von 1975 und dem Ende des Wachstums!
Dieser Boom wurde von Bundesbank und Bundesregierung willentlich abgebrochen. Nicht von irgendeiner außerirdischen Macht ökonomischer Gesetzmäßigkeiten. Die Bundesbank erhöhte den Diskontsatz von 2,9 Prozent in 1988 auf 8,75 Prozent. Die Konjunktur brach ein. Seit dem sind wir ein Land mit einem miserablen Durchschnittswachstums von 1,07 Prozent p.a.. Die 90er Jahre waren damit hierzulande, anders als es Joseph Stiglitz für die USA beschreibt, alles andere als Roaring Nineties. Seit zwölf Jahren verschenken wir durch Unterauslastung der Kapazitäten unsere Volkswirtschaft jedes Jahr rund 150 Milliarden.
Die gesamte Entwicklung bis heute ist nicht das Ergebnis eines objektiv vorgegebenen Strukturtrends. Es ist das Ergebnis einer falschen Geld- und Fiskalpolitik und damit der Missachtung der Möglichkeiten einer aktiven Konjunkturpolitik. Die Verantwortlichen in anderen Ländern verstehen davon offenbar mehr als die bei uns herrschenden Kreise.
Frankreich z.B. hat in den Jahren nach 1997 eine expansive Konjunkturpolitik betrieben und immerhin Wachstumsraten von 3,5 Prozent, 3,2 und 4,2 Prozent erreicht. – Schweden hat vier Mal innerhalb von sieben Jahren die Vier-Prozent-Marke überschritten. – Die USA haben in der 90ern eine pragmatische Mischung von Angebotsökonomie und Keynesianismus angewandt und ebenfalls vier mal die Vier-Prozent-Marke überschritten.
Früher wussten auch wir, wie das geht. Wie beschrieben in der 2. Hälfte der 70er. Oder noch früher. Die erste Rezession mit einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um -0,3% im Jahr 1967 war innerhalb von nur einem Jahr überwunden worden. Damals haben der Wirtschaftsminister Karl Schiller (SPD), genannt auch Plisch, und der Finanzminister Franz Josef Strauß (CSU), genannt Plum, eine expansive Konjunktur- und Finanzpolitik betrieben, mit Konjunkturprogrammen und vor allem mit der Verbreitung von Optimismus. “Die Pferde müssen wieder saufen”, schwärmte Karl Schiller. “Die Richtung stimmt!”, verkündete die Bundesregierung in Anzeigen, auf Plakaten und Zündholzschachteln. Damals wusste man noch: eine gute Wirtschaftspolitik ist zur Hälfte Psychologie. Soll das heute nicht mehr gelten? Dann möchte ich den Beleg dafür sehen. Nachgeplapperte Parolen wie “Keynes ist out” und “Konjunkturprogramme sind Strohfeuer” sind keine Belege.
Sachlich gibt es keine Gründe, die vorhandenen Kapazitäten unserer Volkswirtschaft nur zu rund 82 Prozent zu nutzen. Anders als immer behauptet wird, haben viele Menschen noch Bedarf an alltäglichen Gütern; unsere Gemeinden lassen viele ihrer Einrichtungen aus Geldmangel verkommen; viele Alleinerziehende und Eltern, die arbeiten wollen, sind auf der Suche nach einer guten Betreuung ihrer Kinder; die Schüler-Lehrer-Relation ist nicht gut; wir könnten mit einfachen Tiefbaumaßnahmen, die vielen kleinen Unternehmen Aufträge brächten, ökologisch vernünftige Rückbaumaßnahmen unserer Bäche und Flüsse betreiben. Usw. Diese Arten von Wachstum wären ökologisch nicht bedenklich. Im Gegenteil. Die mit dem Wachstum verbundene Verbesserung der wirtschaftlichen Lage vieler Menschen ist sogar die Voraussetzung dafür, sie wieder aufgeschlossener zu machen für ökologische Belange.
Der Wille der Eliten fehlt
Deutschland mangelt es nicht an Wachstumspotential, unserer Volkswirtschaft fehlt der Wille der Eliten, sie auf Wachstumskurs zu bringen. Nirgendwo in der Welt ist der Dogmatismus der herrschenden ökonomischen Lehre und ihrer Jünger in Politik und Medien größer als bei uns. Der Chefökonom der US-Investmentbank Goldman Sachs, Jim O’Neill nennt Deutschlands Volkswirte “dogmengläubig”. Konfrontiert mit dem gängigen Glaubenssatz “Keynes ist tot” antwortet O’Neill treffend: “Adam Smith ist auch tot. Und wenn die deutschen Ökonomen weiterhin so kategorisch denken, wird auch die deutsche Wirtschaft demnächst tot sein.”
Dass bei uns das Notwendige nicht geschieht, dass wir unsere Volkswirtschaft weit unter unseren Möglichkeiten fahren, ist nicht sachlich bedingt sondern die Folge einer eigenartigen öffentlichen Meinungsbildung. Sie ist geprägt von einer Fülle von Vorurteilen und Denkfehlern: Wachstum bringe es nicht mehr, wir lebten über unsere Verhältnisse, staatliche Konjunktur und Wachstumspolitik führten nur zu weiterer Verschuldung, Wachstum sei ökologisch nicht vertretbar, der Bedarf sei gesättigt, die Produktivität sei zu hoch – dieser Wust von vorgefassten Meinungen verhindert rationale politische Entscheidungen und die Optimierung der wirtschaftspolitischen Instrumente. 40 derartige Denkfehler und Legenden habe ich meinem Buch “Die Reformlüge” analysiert – ein kleiner Beitrag zur dringend notwendigen Aufklärung.
Der Standpunkt des Autors
Die gegenwärtige Debatte über Wege aus der Wirtschaftsflaute wird von Dogmen beherrscht. Dazu gehören Sätze wie “Keynes ist tot” oder “Konjunktur-programme sind Strohfeuer”. Dabei fehlt es der deutschen Volkswirtschaft nicht an Wachstumspotential. Weder ist der private Bedarf an Konsumgütern vollständig gedeckt noch mangelt es an Aufgaben, bei denen der Staat konjunkturfördernd – und umwelt-schonend – investieren könnte, urteilt Albrecht Müller. Er ist freier Autor, Politik- und Unternehmensberater. Lange Zeit war er in den Beraterstäben von Politikern wie Karl Schiller oder Willy Brandt tätig. Für die SPD war er von 1987 bis 1994 im Bundestag. In seinem jüngsten Buch “Die Reformlüge” zählt er 40 Denkfehler auf, die die aktuelle Wirtschaftspolitik behindern.
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