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Titel: Zeitenwende – Das falsche Wort zur falschen Zeit vom falschen Mann
Datum: 17. Februar 2023 um 10:00 Uhr
Rubrik: Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Militäreinsätze/Kriege
Verantwortlich: Redaktion
Eine nüchterne Betrachtung zeigt, dass Bundeskanzler Olaf Scholz seine Zeitenwende nur ausgerufen hat, weil jetzt nicht Nato-Staaten angegriffen haben, sondern Russland. Doch das allein rechtfertigt weder historisch noch linguistisch, von einer Zeitenwende zu sprechen. Die Wortwahl des Kanzlers zeugt vielmehr von sprachlicher Beliebigkeit, Geschichtsvergessenheit und vom Hang, mit zweierlei Maßstäben zu messen. Von Peter Vonnahme.
Am 27. Februar 2022, drei Tage nach der russischen Invasion in die Ukraine, verkündete Kanzler Scholz:
„Der russische Überfall auf die Ukraine markiert eine Zeitenwende. Er bedroht unsere gesamte Nachkriegsordnung. Das ist völkerrechtswidrig. Die Welt danach ist nicht mehr dieselbe wie die Welt davor.“
Richtig am Kanzlerwort ist, dass der Angriff auf die Ukraine völkerrechtswidrig ist. Trotzdem ist die Aussage zur Zeitenwende problematisch.
Völkerrecht
Erinnern wir uns: Das Völkerrecht wurde häufig gebrochen. Das war so im Krieg der Nato gegen Jugoslawien von 1999. Weder gab es für das Bombardement Serbiens ein Mandat der UNO, noch lag ein Fall der Selbstverteidigung gemäß Art. 51 UN-Charta vor. Auch der Nato-Vertrag rechtfertigte den Krieg nicht, weil es keinen bewaffneten Angriff auf ein Bündnismitglied gab. Der frühere Bundeskanzler Schröder räumte 2014 den Völkerrechtsbruch ausdrücklich ein.
Der Irakkrieg von 2003 war aus denselben Gründen völkerrechtswidrig. Angreifer waren die USA, Großbritannien und eine merkwürdige „Koalition der Willigen“. Der damalige US-Außenminister Colin Powell gab später zu, dass er vom US-Geheimdienst CIA getäuscht worden ist. Die angeblichen Beweise für irakische Massenvernichtungswaffen waren manipuliert. Traurige Tatsache: Es gab Krieg, weil die USA Krieg wollten.
Auch die Kriege in Afghanistan, Libyen und Syrien waren zumindest teilweise völkerrechtswidrig. Ihre verheerenden Folgen wirken bis heute nach.
Der falsche Begriff Zeitenwende
Typisch für eine Zeitenwende ist, dass die Welt vor der Wende eine völlig andere ist als in der Zeit danach. Das trifft fraglos für den deutschen Überfall auf Polen am 1.9.1939 zu, weil damit der Zweite Weltkrieg begann – mit 80 Millionen Toten. Das gilt auch für die Terroranschläge auf die USA vom 11.9.2001. Die Bilder des einstürzenden World Trade Centers haben sich in das Weltgedächtnis eingebrannt. 9/11 war das Startsignal für den von Präsident Bush ausgerufenen „war on terror“, an dem die Welt bis heute leidet.
In diese Kategorie gehört der Krieg in der Ukraine nicht. Er ist ein Krieg wie viele andere zuvor oder anderswo in der Welt. Große Teile des Globalen Südens haben keine Ahnung von diesem Krieg fernab in Europa, sie leiden allenfalls unter seinen wirtschaftlichen Auswirkungen. Es vergeht kein Tag ohne Kriege irgendwo auf der Welt, derzeit im Jemen, im Kongo, im Südsudan, in Äthiopien und in mehr als einem Dutzend anderer Länder. Seit der Jahrtausendwende gab es viele schwere Kriege in unserer Nähe, etwa in Jugoslawien, Irak, Libyen und Syrien. Warum sprach damals niemand von Zeitenwende? Das hätte nahegelegen, vor allem weil sich Deutschland im Jugoslawienkrieg erstmals nach dem Zweiten Weltkrieg wieder als Kriegspartei betätigte – fatalerweise auf der Seite der Rechtsbrecher!
Vor diesem Hintergrund ist es unverständlich, wenn Scholz jetzt mit Blick auf den Ukrainekrieg von einer Zeitenwende spricht. Die schlimmen Zivilisationsbrüche in Butscha und Mariupol sind kein Argument. Denn Vergleichbares gab es auch im Vietnamkrieg (Massaker von My Lai, Abwurf von Agent Orange) und im Irakkrieg (z.B. Folterskandal von Abu Ghraib). Erst recht gilt das für die US-amerikanischen Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki mit Hunderttausenden Toten. Auch das war zweifelsohne eine echte Zeitenwende, wurde aber nicht so bezeichnet.
Eine nüchterne Betrachtung zeigt, dass Scholz seine Zeitenwende nur ausgerufen hat, weil jetzt nicht Nato-Staaten angegriffen haben, sondern Russland. Doch das allein rechtfertigt weder historisch noch linguistisch, von einer Zeitenwende zu sprechen. Die Wortwahl des Kanzlers zeugt vielmehr von sprachlicher Beliebigkeit, Geschichtsvergessenheit und vom Hang, mit zweierlei Maßstäben zu messen.
Seitenblick auf Putin
Doppelbödigkeit zeigt sich – nebenbei bemerkt – auch bei der politischen Bewertung des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Er wird im Westen heute als das Böse schlechthin dargestellt, allenfalls vergleichbar mit Hitler. Das Bild ist richtig und falsch zugleich. Es ist richtig, weil der Putin von 2023 wie ein zynischer und empathieloser Zerstörer auftritt. Es ist falsch, weil der junge Präsident Putin 2001 im deutschen Bundestag mit seiner teilweise auf Deutsch gehaltenen Rede die Hand weit nach Westen ausgestreckt hat und dafür von unseren Volksvertretern mit stehenden Ovationen gefeiert wurde. Abgesehen davon sind Gleichsetzungen mit Hitler immer historisch problematisch. Zwischen 2001 und 2023 liegt eine lange Reise von Putin, begleitet von westlicher Ignoranz und Arroganz. Das erklärt manches, entschuldigt aber nichts.
Eine Frage drängt sich auf: Warum werden die für frühere Kriege verantwortlichen US-Präsidenten Clinton, Bush und Obama für ihre Verbrechen nicht annähernd so verteufelt wie der russische Präsident?
Durch diese Hinweise soll die russische Invasion nicht beschönigt werden. Sie ist und bleibt ein Rechtsbruch. Und Putin bleibt ein Rechtsbrecher, der vor den Internationalen Strafgerichtshof gehört, wie auch die genannten US-Präsidenten. Putin hat Russland ins Abseits gestellt. Trotzdem muss dieses große Land Teil der Völkerfamilie bleiben.
Zwischenbilanz
Wenn der Ukrainekrieg keine wirkliche Zeitenwende war, dann ist es notwendig, alles zu hinterfragen, was unter Berufung auf eine solche inszeniert worden ist. Das gilt zunächst für das sogenannte „Sondervermögen“ von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr und für die Ausweitung der künftigen Militärhaushalte. Das gilt erst recht für die umfangreiche Sanktionspolitik, die das eigene Land und die eigenen Menschen mehr schädigt als Russland. Das gilt für die damit verbundenen Rückschritte im Klima- und Umweltschutz. Vor allem aber ist die massive Waffenlieferungspolitik Deutschlands kritisch zu untersuchen.
Ist Deutschland im Krieg?
Der Bundeskanzler hat mit seiner leichtfertigen Rede von der Zeitenwende den Boden bereitet für eine beispiellose Diskriminierung Russlands, für eine weitere Entfremdung der globalen Völkerfamilie, für wirtschaftliche Verwerfungen und für eine bedrohliche militärische Eskalation. Scholz wörtlich:
„Der Bundeshaushalt 2022 wird dieses Sondervermögen einmalig mit 100 Milliarden Euro ausstatten. Die Mittel werden wir für notwendige Investitionen und Rüstungsvorhaben nutzen. Wir werden von nun an Jahr für Jahr mehr als 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren.“
Dafür bekam er im Bundestag stehenden Applaus, bemerkenswerterweise auch von der Oppositionspartei CDU/CSU.
2022 hat sich die Stellung Deutschlands in der Welt geändert. Erstmals seit der Jahrtausendwende stellt sich die Frage, ob Deutschland wieder Kriegspartei ist. Im Normalfall lässt sich das mit einem einfachen Ja oder Nein beantworten. Doch in Zeiten des Ukrainekrieges ist das anders. Die deutsche Außenpolitik ist heute so verwirrend wie nie. Einerseits beschwört der Kanzler, Deutschland sei in der Ukraine keine Kriegspartei. Gleichzeitig brüstet sich seine Außenministerin, die sich als „Völkerrechtlerin“ bezeichnet, auf höchster internationaler Bühne: „We are fighting a war against Russia.“ Man fragt sich unwillkürlich, ist das Verwirrspiel Folge von Baerbocks diplomatischer Unerfahrenheit oder Resultat einer olivgrünen „wertebasierten Außenpolitik“? Grüne Parteifreunde beruhigen, es sei nur ein sprachlicher Lapsus gewesen. Wer das holprige Englisch der Ministerin schon mal gehört hat, hält das für möglich. Tatsache ist, dass der Kreml Baerbocks Fauxpas genüsslich aufgreift und fragt: Was gilt nun? Kriegspartei oder nicht?
Zunächst fällt auf, dass unsere Regierung einen Kabinettsbeschluss aus dem Jahr 1971, Waffen nur an Bündnispartner zu liefern und keinesfalls an Länder, die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind, still und heimlich beerdigt hat.
Das zeigt sich daran, dass Deutschland Selenskyj alles geliefert hat, was sein Kämpferherz begehrt: Helme, Aufklärungsdrohnen, Panzerfäuste, Raketenwerfer, Haubitzen, Flak-, Schützen- und Kampfpanzer. Dazu natürlich Munition und Granaten. Im Aufrüstungspaket ist weiter die Ausbildung ukrainischer Soldaten in Deutschland enthalten, ebenso die Wartung des Kriegsgeräts in Deutschland. Eine lesenswerte Liste aller bisher an die Ukraine gelieferten Waffen und Ausrüstungsgegenstände findet sich unter diesem Link.
Ein Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages lässt keinen Zweifel, dass damit die Grenze zur Kriegsbeteiligung überschritten ist.
So überzeugend diese völkerrechtliche Einschätzung ist, sie hilft im konkreten Fall nicht weiter. Denn entscheidend ist nicht, was kluge Juristen und Militärexperten in Berlin meinen, sondern wie der Kreml die Situation bewertet. Es ist nämlich offensichtlich, dass sich Putin nicht an rechtlichen Kriterien ausrichtet. Putin wusste auch vor dem Angriff auf die Ukraine, dass er damit Völkerrecht bricht. Das scherte ihn allerdings nicht, weil er vitale Interessen seines Landes bedroht sah. Nichts deutet darauf hin, dass sich an dieser Haltung etwas geändert hat.
Der Ritt auf der Rasierklinge
Die deutsche Waffenlieferungspolitik ist ein Ritt auf der Rasierklinge. Sie wird unterstützt durch das parlamentarische Büchsenspannerquartett Strack-Zimmermann, Hofreiter, Kiesewetter und Roth. Es gibt seit Monaten kaum eine TV-Talkshow, in der sie nicht für ihre bellizistische Weltsicht werben dürfen. Sie betreiben das Geschäft von Scholz, Merz, Baerbock und Lindner und damit das der USA. Stimmen, die zur Vorsicht und Diplomatie mahnen, sind medial deutlich unterrepräsentiert. Der regierungsnahe Mainstream in TV, Rundfunk und Presse versteht sich als Lautverstärker der ohnehin Mächtigen und der nimmermüden Waffenlobby, die auf die Überzeugungskraft von Panzer & Co. setzt.
Getragen von einem abgründigen Ukraine-Hype und einer absichtsvoll entfachten Russophobie dreht der Hasardeur Selenskyj die Eskalationsschraube immer weiter. Kaum hatte Scholz der Lieferung von Kampfpanzern zugestimmt, forderte Selenskyj umgehend die Lieferung von Kampfflugzeugen und Kriegsschiffen. Es ist zu befürchten, dass auch diesen Forderungen entsprochen wird. Der frühere CIA-Chef und Vier-Sterne-General Petraeus glaubt jedenfalls daran. Zudem lehrt die Erfahrung, dass ein orientierungsloses Deutschland dem vereinten Druck von Ukraine, USA und Nato nicht standhält. Zuerst wird gezaudert, gezählt und geprüft. Zu guter Letzt wird gezockt – in Abstimmung mit Weißem Haus und Nato. Und wieder dreht sich die Rüstungsspirale eine Windung weiter. In der Logik von Selenskyjs Salamitaktik ist es nur eine Frage der Zeit, bis er seine alte Forderung nach einer Flugverbotszone wiederholt. Irgendwann wird er auch den Einsatz von westlichen Bodentruppen ins Spiel bringen. Für Deutschland wird es von Tag zu Tag schwieriger, auf der abschüssigen Bahn seiner bizarren Außenpolitik einen aktiven Kriegseintritt zu vermeiden.
Die eigentliche Zeitenwende
Die Stimmen in Deutschland mehren sich, dass man sich von Putins Drohungen mit Atombomben nicht einschüchtern lassen solle. Denn, so sagen sie, Hunde, die bellen, beißen nicht. Außerdem: Angst sei ein schlechter Berater, sie lähme nur. Kürzlich meinte einer: Hätte Putin tatsächlich Nuklearwaffen einsetzen wollen, dann hätte er es schon längst getan. Das heißt nichts anderes als: Volles Risiko, Augen zu und durch!
Das ist frivol und lebensgefährlich zugleich. Wer solches sagt, hat nichts begriffen. Diese Leute setzen die Angst vor dem Krieg mit Feigheit gleich. Sie tun das vermutlich, weil sie nicht wissen, wie sich Krieg anfühlt. Das gilt praktisch für alle, die heute politische Entscheidungen treffen. Sie beschwören einen Sieg der Ukraine über Russland. Und je mehr sie das hoffen, desto sorgloser schwadronieren sie über westliche Wertegemeinschaft und regelbasierte Außenpolitik. Die Worte Diplomatie, Interessenausgleich und Frieden fehlen im sprachlichen Repertoire der Nato-Musterschüler Annalena, Agnes und Anton. Ihre Gehirne wirken wie zubetoniert. Indiz für eine emotionale Zeitenwende? Oder für einen irrationalen Glauben an die Heilkraft von Waffen? An dem Tag, als der Kanzler die Lieferung von Leopard-Kampfpanzern an die Ukraine zusagte, rückten amerikanische Wissenschaftler die Zeiger der symbolischen Weltuntergangsuhr („Doomsday Clock“) auf 90 Sekunden vor Mitternacht vor. Das ist der dramatischste Wert seit ihrer Einführung im Jahre 1947; selbst bei der Kubakrise 1962 waren es noch sieben Minuten bis Mitternacht.
Wenn man heute von einer Zeitenwende sprechen will, dann besteht sie darin, dass es keines Atomschlags mehr bedarf, um die Welt an den Rand des Abgrunds zu führen. Kennzeichen der westlichen Politik nach dem Ukraineüberfall ist es, dass das in der UN-Klimakonferenz von Paris 2015 feierlich vereinbarte „1,5-Grad-Ziel“ zugunsten einer größtmöglichen Sanktionierung Russlands hintangestellt wurde. Dahinter steht der Glaube, dass der Ruin Russlands wichtiger ist als die Bewahrung unseres Planeten in einem bewohnbaren Zustand. Doch an das dachte unser aller Olaf nicht, als er unter Beifall des Hohen Hauses die Zeitenwende verordnete. Er ist nämlich Realpolitiker durch und durch, notfalls bis zum Untergang der ihm Anvertrauten.
Nachbemerkung des Textverfassers: Das ist die Weltsicht eines Mannes, der mitten im Zweiten Weltkrieg geboren wurde, und heute als Achtzigjähriger bekennt, dass er trotz eines Lebens in Frieden die Schrecken des Krieges nicht vergessen hat. Vielleicht liegt das auch daran, dass der Schreiber seinen Vater nicht kennengelernt hat, weil dieser als deutscher Landser in Russland den Heldentod gestorben ist.
Außerdem ist der Schreiber bekennender Putin-„Versteher“, nicht in dem Sinne, dass er Putins Handlungen billigt, sondern, dass er verstehen (begreifen) will, warum dieser so gehandelt hat. Das ist ein großer Unterschied.
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