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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: Garküchen und Rezepte des Vergessens – die aufwühlende Vita der Hwang Kum-Ju
Datum: 19. Februar 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte
Verantwortlich: Redaktion
Seit der Eskalation des militärischen Feldzuges gegen China in den 1930er Jahren hatten der Generalstab und das Heeresministerium der Kaiserlich Japanischen Armee u.a. angeordnet, dass sich unverheiratete Mädchen und Frauen zum dreijährigen Dienst in einer japanischen Militärfabrik melden sollten. Die Koreanerin Hwang Kum-Ju folgte wie zahlreiche andere Mädchen und Frauen diesem Aufruf. Sie wollten Geld verdienen und so ihre Familien unterstützen. Sechs Jahre, von 1939 bis 1945, verbrachte Frau Hwang in der Mandschurei – nicht freiwillig in einer Fabrik, sondern als Zwangsprostituierte in japanischen Militärbordellen. Hwang Kum-Ju (1922-2013) war die zweite Koreanerin, die öffentlich auf ihr Schicksal aufmerksam machte. Unser Ost- und Südostasienexperte Rainer Werning hatte die Möglichkeit, Frau Hwang in den Jahren 2001 und 2003 in der südkoreanischen Metropole Seoul zu besuchen und zu interviewen. Aus mehrstündigen Gesprächen entstand ein beklemmendes Zeitdokument, das die NachDenkSeiten im Rahmen einer von Rainer Werning am 7. Januar begonnenen Serie anlässlich des 70. Jahrestags des Endes des Koreakrieges publizieren.
Junge Opfer – alte Opfer
Keine andere Hauptstadt in Ostasien ist so schnelllebig wie die südkoreanische Metropole Seoul. Im Zeitraffer und mit Kasernendrill wurde einer vormals bäuerlichen Gesellschaft ein gnadenloser Kapitalismus verordnet. Bis Ende der 1950er Jahre war Südkorea noch ein quasi-feudales Agrarland mit einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von umgerechnet weniger als 100 US-Dollar. Heute rangiert Südkorea weltweit auf Platz 10 der größten Volkswirtschaften.
Militärmachthaber exekutierten von Anfang der 1960er bis Ende der 1980er Jahre in dem Land einen Turbo-Kapitalismus und oktroyierten dem Land eine „Entwicklung“, für die Länder in Europa einige Jahrhunderte benötigten. In Südkorea wurde binnen dreier Jahrzehnte die Gesellschaft so ruckartig und tiefgreifend umgekrempelt, dass über die zahlreichen neuen Opfer – ausgebeutete Bauern und Arbeiter, geschurigelte Gewerkschafter und Medien sowie Tausende von politischen Gefangenen – ebenso hektisch hinweggegangen wurde wie über die Vielzahl alter Opfer.
Alte Opfer – das sind unter anderen während der japanischen Kolonialzeit, die von 1910 bis 1945 währte, enteignete Kleinbauern und Pächter. Sie wurden nach Japan verschleppt und schufteten dort unter jämmerlichen Bedingungen auf Werften, in Kohlegruben und Bergwerken sowie in Rüstungsbetrieben. Bei den alljährlichen Gedenkfeiern der Atombombenabwürfe über Hiroshima und Nagasaki im August 1945 wird geflissentlich vergessen, dass ein Großteil der Opfer solche zwangsrekrutierten Koreaner waren.
Auch das ist Seoul. Seit dem 8. Januar 1992 demonstrieren alte koreanische Frauen im Zentrum der City vor dem Gebäude der japanischen Botschaft. Jeden Mittwoch zur Mittagszeit – bei klirrender Kälte oder sengender Hitze. Am 13. März 2002 war es das 500. Mal, dass sich die Frauen auf Plastikstühle vor das Botschaftsgebäude des östlichen Nachbarn hockten und Transparente mit den Aufschriften entrollten: „Enthüllt die Wahrheit! – Löst das Problem der Comfort Women!“ Traurig und bizarr zugleich ist diese allwöchentliche Inszenierung. Die Gruppe der Demonstrantinnen, allesamt ehemalige Sexsklavinnen (siehe Exkurs), wird stets kleiner und das ihnen widerfahrene Unrecht erdrückender. Zahnlosen Omas, umringt von wenigen neugierigen Passanten, steht ein gnadenlos überlegenes, mitunter sogar martialisch ausgerüstetes Aufgebot junger Polizisten gegenüber. Offensichtlich befürchten sie, dass radikale Studentinnen die Frauendemonstration unterstützen. Hinter den Botschaftsmauern, Schutzschilden milchgesichtiger Sicherheitskräfte und Masken schotten sich die Verantwortlichen ab.
Exkurs: „Trost spenden“ im Dienst des Tenno
Zu den „Altlasten“ des japanischen Militarismus in Ost- und Südostasien zählen auch schätzungsweise 200.000 Mädchen und Frauen aus Korea, China, den Philippinen, Indonesien, Osttimor und Burma, die von den Truppen der Kaiserlich Japanischen Armee zwischen 1932 und 1945 gewaltsam in Soldatenbordelle verschleppt und dort systematisch missbraucht wurden. Die meisten dieser Sexsklavinnen waren Koreanerinnen und Chinesinnen. Diese Opfer tragen viele Namen – allesamt herabsetzend oder beschönigend. Im Deutschen spricht man von „Trostfrauen“, im Englischen von „comfort women“. Während des Krieges nannte man sie in Korea „jungshindae“, was so viel heißt wie: „den Körper freiwillig für die Arbeit einsetzen“.
Dieser „Dienst“ für den japanischen Kaiser war alles – nur nicht freiwillig. Weshalb eine internationale Juristengruppe anlässlich eines – symbolischen – Kriegsverbrechertribunals auch Kaiser Hirohito Mitte Dezember 2000 der Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig sprach. Die Sexsklavinnen der Kaiserlich Japanischen Armee wurden zwangsrekrutiert. Deren Generalstab und das Heeresministerium wollten so Geschlechtskrankheiten und den Verrat militärischer Geheimnisse vermeiden. Und man befürchtete im Falle unkontrollierter Vergewaltigungen Unruhen in der Bevölkerung.
1991 entstand der Koreanische Rat der von Japan für die militärische Sexsklaverei eingezogenen Frauen. Anfang 1992 machte er erstmalig öffentlich auf sich aufmerksam, als der damalige japanische Premierminister Kiichi Miyazawa in Südkorea zur Staatsvisite weilte:
„Wir erwarten, dass die japanische Regierung die Wahrheit enthüllt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zieht, sich offiziell für diese Verbrechen entschuldigt, die Opfer gemäß internationalen Rechtsnormen entschädigt, die Geschichtsbücher korrigiert und ein Mahnmal errichtet.“
Der Rat will so lange protestieren, bis die japanische Regierung die volle Verantwortung für die Kriegsverbrechen übernimmt. Vor allem ist es den Opfern ein Dorn im Auge, dass Tokio selektiv Kompensationszahlungen an Überlebende gewährte, japanische Berufungsgerichte hingegen Entschädigungsklagen ehemaliger Zwangsprostituierter regelmäßig abschmettern.
So groß anfänglich der Schock war, als 1991 erstmalig Kim Hak-Sun (1924-1997) das lange verschwiegene Schicksal von Sexsklavinnen der japanischen Armee enthüllte, so beharrlich widersetzen sich seitdem die Herrschenden in den jeweiligen Ländern der Aufarbeitung ihrer Vergangenheit und möchten mit all dem nicht konfrontiert werden. Jahre vergingen, bis dieses heikle Kapitel des japanischen Militarismus international Beachtung fand und beispielsweise 1998 die Sonderberichterstatterin der Vereinten Nationen, Gay McDougall, die Vergewaltigungscamps der japanischen Armee als eklatante Menschenrechtsverletzung einstufte.
Wie viele überlebende „comfort women“ es in Ost- und Südostasien noch gibt, ist unbekannt. In Südkorea, so berichtete die Seouler Tageszeitung The Hankyoreh am 3. Mai 2022, lebten noch elf der landesweit insgesamt 240 offiziell registrierten früheren Sexsklavinnen. Aus Nordkorea liegen keine genauen Zahlen vor, doch auch dort dürften es ebenso viele beziehungsweise wenige sein.
Begegnung in Balsan
Balsan ist ein Vorort Seouls. Triste, durchnummerierte Hochhäuser, die südkoreanische Antwort auf einstige ostdeutsche Plattenbausilos, säumen lustlos ganze Straßenzüge. In einem dieser anonymen Wohnhäuser, das die Nummer 507 trägt, lebte lange Zeit die am 3. Januar 2013 im Alter von 92 Jahren verstorbene Hwang Kum-Ju. Ihr knapp 20 Quadratmeter kleines Appartement im 15. Stockwerk erreichte Frau Hwang mit einem altersschwachen, knarrend-schaukelnden Aufzug.
Mit einem herzlichen Lächeln begrüßte mich die alte Dame an der Haustür, sichtlich erfreut, nach unserer letzten gemeinsamen Mittwoch-Demonstration mich nun auch in ihrem bescheidenen Zuhause willkommen zu heißen. Inmitten von Erinnerungsstücken und Fotoalben hockten wir zu Dritt auf dem Boden. Anwesend war noch Kim Eun-Sik, der dolmetschte und eine langjährige Vertrauensperson von Frau Hwang war. Herr Kim war zu jener Zeit Generalsekretär des Koreanischen Rates für die Rehabilitierung der Gewaltopfer während des Zweiten Weltkrieges. Nach einem Tee drängte Frau Hwang, doch unbedingt ihren Kimtschi (eingelegten Kohl) zu probieren.
Frau Hwang lebte lange Jahre in diesem Ein-Zimmer-Appartement inklusive einer Kochnische. Das WC war winzig und erlaubte nur streng kontrollierte Bewegungen. Ein Wandregal zierten Plaketten und Auszeichnungen – Mitbringsel zahlreicher Auslandsreisen. In den USA beispielsweise ehrten Elite-Universitäten wie Harvard und Columbia sie als „couragierteste Frau des Jahres“. Am 10. Dezember 2003, dem Internationalen Tag der Menschenrechte, erhielt sie aus den Händen des damaligen Präsidenten Roh Moo-Hyun einen Preis. Geehrt wurde Frau Hwang für ihr unermüdliches Engagement im Dienst ihrer Leidensgefährtinnen und der Entrechteten in der Gesellschaft.
Die Stimme der alten Frau war resolut und ausdrucksstark. Sie erzählte gern und unterbrach sich nur, wenn sie nach passenden Fotos kramte oder sich zutiefst unwürdiger Phasen ihres Lebens erinnerte. Geboren wurde Hwang Kum-Ju am 15. August 1922 in Buyeo in der Provinz Süd-Chungcheong, heute Teil Südkoreas:
„Unser großes familiäres Unglück bestand darin, dass mein Vater fast gleichzeitig mit dem Abschluss seiner Studien in Japan schwer erkrankte und regelmäßig Medikamente einnehmen musste. Gute Medizin kostete aber 100 Won, eine Summe, die wir beim besten Willen nicht aufbringen konnten. Durch einen glücklichen Zufall lernte ich einen reichen Geschäftsmann aus Seoul kennen. Ihm zeigte ich einfach das Diplom meines Vaters und bat ihn um finanzielle Unterstützung. Der Mann hieß Choe und stammte aus Hamhung im Norden. Er gab mir tatsächlich die 100 Won. Ich wurde seine Adoptivtochter. Bevor ich mein Elternhaus verließ, versteckte ich das Diplom meines Vaters und die 100 Won unter seinem Kopfkissen und sagte ihm zum Abschied, er solle dort nachschauen – aber erst, nachdem ich fortgegangen sei. Ich war knapp dreizehn Jahre alt, als ich das elterliche Haus verließ. Zurückkehren wollte ich erst, wenn ich es zu etwas gebracht und genügend Geld gespart hätte.“
Im Hause ihrer Adoptivmutter in Hamhung, im heutigen Nordkorea, erinnerte sich Frau Hwang, sei sie anständig behandelt worden. Sie konnte sogar eine Abendschule besuchen. Tagsüber war sie Mädchen für alles:
„Der damalige Chef unseres Wohnviertels war Japaner – ein Steuereintreiber oder ein Militärpolizist. Ihn selbst bekam ich nur selten zu Gesicht, umso häufiger aber seine Frau und die Kinder. Vor allem seine Frau war sehr rührig; sie zog durch die Straßen, ging von Haus zu Haus und redete auf die Leute ein: ‚Der Kaiser hat angeordnet, dass sich unverheiratete Mädchen und Frauen zum dreijährigen Dienst in einer japanischen Militärfabrik melden sollen. Dort verdienen sie eine Menge Geld‘. Erst später erfuhr ich, dass von jedem Wohnbezirk aufwärts bis hin zur Provinzebene eine bestimmte Quote solcher Mädchen und Frauen zu erfüllen war. Wurde diese Quote nicht erreicht, mussten notfalls die jeweiligen Dorfvorsteher und Distriktchefs ihre eigenen Töchter entsenden. Niemand schöpfte damals Verdacht, was das bedeutete – ‚kaiserliche Dienste‘.
Im Hause meiner Adoptiveltern gab es einschließlich mir drei unverheiratete Töchter. Da die anderen beiden studierten, bot ich mich an, zwei bis drei Jahre lang in einer solcher japanischen Fabriken zu arbeiten. Meine Adoptivmutter war sehr erleichtert und versprach mir, sich während meiner Abwesenheit um einen guten Partner zu kümmern, den ich dann nach meiner Rückkehr heiraten könnte.“
Mandschurische Albträume
Die Frau des Dorfchefs teilte Kum-Ju und den anderen Mädchen mit, sich vor der Bahnstation von Hamhung zu versammeln. Die meisten Mädchen waren zwischen fünfzehn und siebzehn Jahre alt. Es gab keine Abschiedszeremonie. Ein älterer Herr führte die Mädchen wortlos zu einem japanischen Soldaten, der sie dann zum Zug begleitete:
„Die vorderen Waggons waren mit Militärs besetzt. In unserem Waggon befanden sich etwa fünfzig Mädchen. Die Fahrt ging nach Norden. Meistens war unser Abteil abgedunkelt. Häufig blieb der Zug in Tunnels stehen, nachts fuhr er kaum. Zweimal am Tag erhielten wir von den Militärpolizisten, die die Eingänge der Waggons bewachten, einige Reisbällchen mit Wasser. Einige Tage dürften wir so verbracht haben. Der Zug erreichte schließlich den Zielbahnhof in Jirin. Vor dem Bahnhofsgebäude parkte ein Lastwagen, über den eine Plane gezogen war. Wir mussten auf die Ladefläche steigen, jede mit ihrem Bündel Habseligkeiten bepackt. Einen halben Tag lang holperten wir dann über schlechte Straßen und Schlammwege.
Der Laster stoppte auf einem Militärgelände. Uns wurde als Schlafstätte eine der zahlreichen Baracken zugewiesen, die man koya nannte – Hütte. Eine koya hatte ein abgerundetes Dach aus Wellblech, der Boden war mit Strohmatten ausgelegt. Wir bekamen eine Decke und ein Kopfkissen. Es war so kalt, dass wir uns während des Schlafs aneinander kuschelten. Ich dachte, dass wir hier nun für die Truppen arbeiten.“
Es gab Frauen und Mädchen, die bereits eine Zeitlang dort waren. Sie sagten den Neuankömmlingen:
„Vielleicht ist es besser, tot zu sein. Es ist wirklich schlecht für euch. Was ihr tun müsst, ist Arbeit, aber keine wirkliche Arbeit. Tut einfach nur das, was man von euch verlangt. Sonst prügeln sie euch zu Tode.“
An dieser Stelle wurde Frau Hwangs Stimme zittrig. Leise fuhr sie fort, einfühlsam unterstützt von Herrn Kim, dem sie diese Erlebnisse in der Mandschurei bereits früher eidesstattlich anvertraut hatte:
„Am nächsten Tag holte ein Soldat jede von uns einzeln ab. Ich wurde in den Raum eines Offiziers geführt. Ich solle an sein Bett treten und ihn umarmen, forderte er. Ich weigerte mich und er fragte, warum ich mich ziere. Ich sagte ihm, dass ich lieber putzen und seine Wäsche waschen würde. Das kümmerte ihn nicht. Als er versuchte, mich zu umarmen, widersetzte ich mich. Dann schlug er mir mitten ins Gesicht. Ich wimmerte vor Schmerzen und bat um Mitleid. Das störte ihn nicht; im Gegenteil, er wurde wütend. ‚Tu gefälligst, was ich dir sage‘, brüllte er mich an und drohte, mich umzubringen. Er riss mir das Hemd vom Leib und durchschnitt mit seinem Schwert meine Unterwäsche. Ich wurde ohnmächtig. Später kam ein Soldat, um mich zurückzubringen. Weinend wankte ich langsam hinter ihm her.“
Etwa zwei Wochen lang dauerte diese Tortur. Jeden Tag mussten Kum-Ju und die anderen Mädchen die Offiziere „besuchen“. Die Neuankömmlinge waren meistens Jungfrauen, so dass die Offiziere es mit ihnen zuerst trieben. Kondome benutzten sie nicht, viele Mädchen waren bald schwanger. Wenn sie das feststellten, bekamen sie eine Spritze. Ihre Körper schwollen dann an und es stellten sich starke Blutungen ein. Danach schabte man ihnen in der Klinik die Gebärmutter aus. Wer sich dieser Prozedur unterziehen musste, wurde nicht mehr schwanger:
„Nach zwei Wochen wurden wir zur „comfort station“ geschickt. Das war eine Holzkonstruktion mit bis zu sechs abgetrennten Räumen. Als Türen dienten Decken. Vier Gebäude dieser Art standen dicht gedrängt beieinander. Ich hörte, dass es zahlreiche solcher Stationen in der Umgebung gab. Die Räume waren winzig, auf den Holzböden lagen Tücher und Decken. Nach der ‚Arbeit‘ hätten wir eigentlich in unsere koya zurückgehen sollen. Doch häufig waren wir so erschöpft, dass wir auch nachts in der „comfort station“ schliefen. Ständig gingen Soldaten ein und aus – auch nach Mitternacht.
Wir aßen in derselben Kantine, wo auch die Mannschaften aßen. Die Soldaten gaben uns Reis, Suppen mit Bohnenpaste und eingelegten Kohl. Zuerst erhielten wir als Kleidungsstücke weite, am Körper schlabbernde Hosen, eine übergroße Jacke, Soldatensocken und ausgetretene Stiefel. Später gab es dann richtige Hosen und passende Hemden.“
In der „comfort station“ gab es für die Soldaten keinen Zeitplan. Es kamen einfache Soldaten und Offiziere. Letztere ließen sich allerdings seltener blicken – aus Angst, sich eine Geschlechtskrankheit zuzuziehen. Täglich musste ein Mädchen bis zu 40 Soldaten „bedienen“. An Sonn- und Feiertagen bildete sich vor den „comfort stations“ eine Traube von Soldaten, die teils in Unterwäsche dastanden. Wenn es einmal länger dauerte, schrien sie „Mach’ schneller, mach’ voran“:
„Einige Soldaten reagierten sich wild ab, andere heulten, weil sie bald an die Front mussten. Einige kamen mit Kondomen, die meisten allerdings ohne. Wöchentlich gingen wir in die Klinik, um uns untersuchen zu lassen. Viele Mädchen wurden schwanger und mussten mehrfach Abtreibungen über sich ergehen lassen. Wenn sich jemand eine ansteckende Krankheit geholt hatte, wurde sie auf eine Isolierstation gebracht. Einige Mädchen waren von den Schamhaaren aufwärts bis zum Bachnabel mit eiternden Wunden übersät. Ihre Gesichter schwollen gelb an, sie verschwanden dann einfach.
Wenn wir die Regel hatten, gaben uns die Ärzte Watte oder Baumwolle. Als der Nachschub stoppte, mussten wir sehen, wie wir irgendwie an Stofffetzen herankamen. Manchmal benutzten wir sogar die Einlegesohlen von Soldaten, die diese weggeschmissen hatten. Wenn sie das herausfanden, schlugen sie uns und sagten, das bringe Unglück.“
Täglich wurden Kum-Ju und die anderen Mädchen geschlagen. Selbst wenn sie den Mond anschauten, erinnerte sich Frau Hwang, schlugen die Soldaten sie und fragten, woran die Mädchen gerade dächten:
„Ich wurde so häufig geschlagen, dass ich noch heute manchmal minutenlang nichts hören kann. Meine Knie und Oberschenkel sind bandagiert. Immer, wenn ich diese Bandagen vor dem Baden abnehme, treten Schwellungen auf und ich habe große Schwierigkeiten, aufrecht zu sitzen.“
Lautlose Kapitulation
Lebhaft erinnerte sich Frau Hwang an den 15. August 1945. Niemand rief an diesem denkwürdigen Tag zum Abendessen. Überall Stille, nur einige Stofffetzen, die sich im elektrischen Zaun des Militärcamps verfangen hatten, flirrten im Wind. Als sie im leeren Speisesaal gerade Wasser trank, erschien ein Soldat. Er sagte ihr, sie sei jetzt frei und solle sofort abhauen, bevor die Chinesen kämen und alle töten würden. Der Kaiser hätte nämlich kapituliert, weil Amerikaner Bomben mit verheerender Wirkung über Japan abgeworfen hätten:
„Sofort informierte ich die anderen Frauen. Die klagten über zu große Schmerzen im Unterleib und wollten die weite Flucht nicht riskieren. Sie weinten und baten mich, allein zu gehen. Zuerst wollte ich nicht, dann aber entschloss ich mich zur Flucht. Ich rannte, so schnell ich konnte. Ich passierte mehrere Tore und zerschnittene Stacheldrahtverhaue und erreichte nach etwa 15 Kilometern eine belebte Straße, die sich immer mehr füllte. Alle möglichen Leute hatten nur ein Ziel vor Augen: die Flucht gen Süden. Durch Betteln hielt ich mich über Wasser. Unterwegs fand ich ab und zu weggeschmissene Kleidungsstücke, die immer noch in besserem Zustand als meine zerzausten, völlig verdreckten Kleider waren. Nach viermonatigem Fußmarsch erreichte ich im Dezember 1945 schließlich die Station Cheongnyangni in Seoul.“
An der Cheongnyangni-Station ließ sich Frau Hwang erschöpft nieder. Als Erstes ging sie zu einem Imbissstand und bat um eine heiße, kräftig gewürzte Suppe. Die Besitzerin empfand offensichtlich Mitleid mit der völlig heruntergekommenen Person, die sich aus der Mandschurei in die Heimat gerettet hatte. Frau Hwang bekam ausreichend zu essen. Nach Jahren war das die erste menschliche Regung, die sie verspürte:
„Ich war gerührt und weinte. Endlich konnte ich mich mal wieder sattessen, richtig waschen, erhielt saubere Kleidung und Unterwäsche. Die Besitzerin war sogar so liebenswürdig, mir die Haare zu schneiden, die Läuse zu entfernen und mein Haar dann mit DDT zu besprühen.“
Unter Brückenpfeilern – auf der Flucht
Nach dem Krieg lebte Frau Hwang in Cheongnyangni drei Jahre lang unter einer Brücke. Sie bettelte und kochte sich Brei, den sie in aufgesammelten Butterbüchsen der amerikanischen Besatzer abfüllte. In der Nähe gab es eine Gemeinde von Adventisten:
„Als die Leute mitkriegten, dass ich häufig starke Unterleibsblutungen und große Schmerzen hatte, dachten sie, ich würde sterben. Sie informierten deshalb den Chefarzt eines amerikanischen Krankenhauses. Drei Ärzte haben mich dann auf einem Tisch operiert und mir die Gebärmutter entfernt.“
Frau Hwang rückte näher zu uns, zog mit einem Ruck ihr Hemd hoch und zeigte uns eine große Narbe. Ihr „ganzer Bauch” sei „weg“, sagte sie:
„Nach drei Monaten konnte ich, auf einem Stock gestützt, aufstehen. Da ich damals unter einer Brücke geschlafen hatte, mieteten die Ärzte für mich ein Zimmer neben der Polizeiwache von Cheongnyangni an. Die Leute brachten mir Töpfe, Geschirr, Kleidungsstücke und Schuhe, alles, was man halt zum Leben braucht. Ich fühlte mich reich.“
Ein kurzlebiges Gefühl. Im Sommer 1950 stürzte ein Bruderkrieg die koreanische Halbinsel in Elend und Chaos. Es war der erste „heiße“ Konflikt im Kalten Krieg, der fast zum Dritten Weltkrieg geführt hätte. Zwar war der 15. August 1945 der Tag der Befreiung für Korea. Doch nach der japanischen Kolonialzeit verwalteten die Siegermächte, die USA und die Sowjetunion, treuhänderisch die koreanische Halbinsel. Der 38. Breitengrad diente zunächst als provisorische, später als hermetische Grenze zwischen dem von der Sowjetunion verwalteten Norden und dem von einer US-Militärregierung kontrollierten Süden des Landes. Bereits 1948 hatte sich die Spaltung des Landes so weit vertieft, dass zwei unterschiedliche Staaten entstanden waren, die beide den Herrschaftsanspruch über die gesamte Halbinsel beanspruchten. Mit verheerenden Konsequenzen: Drei lange Jahre, bis Sommer 1953, dauerte der Koreakrieg – mit ständig wechselnden Frontverläufen.
Wie Millionen ihrer Landsleute begab sich auch Frau Hwang mit ihren wenigen Habseligkeiten auf die Flucht in den Süden – in die Städte Daegu und Busan:
„Ich habe Waisenkinder aufgenommen. Während des Krieges wimmelte es nur so von Waisenkindern. Wohin man kam, überall waren Kinder, die ihre Eltern nicht kannten. Sobald Kinder mich sahen, riefen sie ‚Mama, Mama‘ zu mir und klammerten sich an mich. Eines dieser Kinder habe ich auf den Rücken gepackt und wir sind nach Busan geflüchtet. Dort verbrachten wir den Sommer, dann gingen wir nach Daegu. Es war leichter, mit einem Kind durchs Leben zu kommen. Alle wollten dem Kind etwas zum Essen geben, so konnte ich mich und das Kind täglich ernähren. Auf dem Weg zurück nach Seoul habe ich die ganze Zeit das Kind auf dem Rücken getragen. Kaum kamen wir dort an, mussten wir wieder nach Süden fliehen, weil nordkoreanische Truppen auf dem Vormarsch waren. Unterwegs riefen mir wieder Kinder zu – ‚Mama, Mama‘ – und wollten mich nicht loslassen. Da sagte meine Busan-‚Tochter‘: ‚Mama, nimm noch ein Kind mit!‘ ‚Und was ist dann mit dir?‘, fragte ich sie. Sie wolle dann zu Fuß gehen. So packte ich wieder ein Kind auf den Rücken. Wir liefen und liefen, endlos, wieder nach Daegu. Später ging ich nochmals zwei Monate lang zu Fuß nach Seoul zurück.“
Insgesamt kümmerte sich Frau Hwang während der Kriegswirren um fünf Waisenkinder, von denen eins sehr jung starb. Die anderen wuchsen auf, Frau Hwang bezahlte ihr Schulgeld und später heirateten sie. Nachdem der Krieg im Sommer 1953 endlich vorbei war, arbeitete sie eine Zeitlang als landwirtschaftliche Gehilfin.
Marketenderin im Moloch Seoul
Auf dem Lande hielt es Frau Hwang jedoch nicht lange. Es zog sie zurück nach Seoul, erneut nahe der Station Cheongnyangni, wo sie zunächst Gemüse, später Nudeln, dann Magkoli (Reisbier) und Reis verkaufte. Kleine Ersparnisse ermöglichten ihr einen großen Sprung; sie konnte sich eine Garküche leisten – sogar mit eigenem Imbissstand. Täglich stand sie um halb Sechs auf, trank mehrere Tassen Kaffee, um sich aufzurappeln, und deckte sich dann mit allem Notwendigen auf nahegelegenen Märkten ein. Ihr Überlebensrezept bestand darin, das Vergangene zu vergessen und sich mit ihrer selbstständigen Arbeit Respekt zu verschaffen:
„Ich habe meine Vergangenheit verheimlicht, weil es mir so peinlich war. Ich konnte nicht heiraten, und wem sollte ich mich anvertrauen? Nach Hause zurückgehen, kam nicht in Frage. Wenn ich den Leuten meine Geschichte erzählt hätte, wäre ich wie eine Aussätzige behandelt worden. Deshalb habe ich geschwiegen. Nur dem Arzt erzählte ich alles, bevor ich operiert werden sollte.“
Frau Hwangs Leben veränderte sich schlagartig, als Kim Hak-Sun (1924-1997), ebenfalls eine ehemalige Sexsklavin, im Sommer 1991 erstmalig ihr eigenes Schicksal und das ihrer zahlreichen Leidensgenossinnen publik machte. Dazu gehörte – erst recht in einer betont schamorientierten Kultur – eine gehörige Portion Mut:
„Ich habe Kim Hak-Sun zum ersten Mal in den Fernsehnachrichten abends um Neun gesehen. Sie forderte Frauen auf, die in einer ähnlichen Lage sind wie sie, zu ihr nach Yongsan zu kommen und gemeinsam ein Projekt zu starten. Am nächsten Tag ließ ich meinen Laden Laden sein und machte mich direkt auf den Weg nach Yongsan. Am Abend zuvor hatte ich mir gleich Frau Kims Telefonnummer notiert, sodass ich sie direkt anrufen konnte. Sie holte mich ab und brachte mich zu anderen Betroffenen. So arbeiteten wir zusammen, bis Frau Kim starb. Solange ich lebe, erwarte ich, dass aus Tokio endlich ein Schuldeingeständnis kommt. Im Falle von einem Dutzend verschleppter Japaner nach Nordkorea, wovon fünf starben, verlangen die japanischen Behörden mit Mordsgeschrei, dass sich Nordkorea entschuldigt und die Opfer entschädigt. Von uns aber, die wir jung und unverheiratet waren, wollen dieselben Stellen in Japan nichts wissen und hören. Sie warten wohl nur darauf, dass Frauen wie ich sterben.“
Mutig und engagiert bis zum letzten Atemzug
Frau Hwang wusste nur zu gut, dass ihre verlorene Jugend nicht „wiedergutzumachen“ war. Eine finanzielle Entschädigung interessierte sie in ihrem Alter kaum noch. Vom Staat bekam sie einen Zuschuss für den Lebensunterhalt und die Miete, und Freunde unterstützten sie mit allem Notwendigem. Hätte Frau Hwang jemals eine Entschädigung bekommen, hätte sie das Geld ohnehin unter engen Freunden und engagierten Frauenorganisationen aufgeteilt. Sterben wollte sie mit dem Gefühl, in ihrem Leben nicht verachtet worden zu sein. Neben Kim Hak-Sun wollte sie begraben werden, weil sie sonst niemanden hätte, der nach ihrem Tod zu ihr spräche.
Mit ihren Leidensgefährtinnen stritt Frau Hwang dafür, dass Tokio sich öffentlich für das ihnen widerfahrene Leid und Unrecht entschuldigt. Das weckte in der alten Dame noch glühende Kampfeslust. Sollte sie ohne ein solches Schuldeingeständnis sterben, werde sie nach ihrem Tod alle Japaner „auffressen“ und sich als erstes auf Ministerpräsident Koizumi stürzen und ihn „zerreißen“. Ihre Kampfeslust haben bei den Mittwochsdemonstrationen der ehemaligen Sexsklavinnen vor der japanischen Botschaft in Seoul schon mehrfach Sicherheitskräfte zu spüren bekommen:
„Warum bewacht ihr mich? Sind wir Schweine oder Bettler? Warum hindert ihr mich daran, in die Botschaft zu gehen? Wir wollen sie ja nicht auseinandernehmen, sondern nur mit den Leuten drinnen sprechen. Wieso seid ihr hier und habt diese uniformierten Kerle mitgebracht? Ich schrie sie immer wieder an: ‚Sind wir denn Diebinnen oder Verbrecherinnen?‘, packte einen von ihnen am Kragen, bespuckte und kratzte ihn. Die Polizisten sagen dann nichts, weil sie nichts zu sagen haben.“
Am 3. Januar 2013 veröffentlichte die Seouler Tageszeitung The Korea Herald eine Meldung der südkoreanischen Nachrichtenagentur Yonhap, in der es hieß:
„Eine weitere koreanische Frau, die während des Zweiten Weltkriegs von Japan in die sexuelle Sklaverei gezwungen wurde, ist am Freitag gestorben, wie die Bürgergruppe Koreanischer Rat für die von Japan zur sexuellen Sklaverei im Militärdienst gezwungenen Frauen mitteilte. (…) Hwang Kum-Ju starb im Alter von 92 Jahren, wie der Rat mitteilte. Mit ihrem Tod stieg die Zahl der von der südkoreanischen Regierung registrierten überlebenden Opfer der von Japan erzwungenen sexuellen Versklavung auf 58. Ursprünglich standen insgesamt 234 Opfer auf der Liste.“ [Die Tageszeitung Hankyoreh und andere Quellen sprechen hingegen von 240 offiziell aufgelisteten Opfern – RW.]
Titelbild: Kim Eun-Sik & Rainer Werning
Literatur & Links zum Thema:
Hauptadresse: http://www.nachdenkseiten.de/
Artikel-Adresse: http://www.nachdenkseiten.de/?p=93913