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Titel: Lehrkräfte braucht das Land? „Es wird alles unternommen, jungen Menschen den Beruf zu verleiden.“
Datum: 16. Februar 2023 um 11:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Bildungspolitik, Fachkräftemangel, Interviews
Verantwortlich: Redaktion
Deutschland fehlen massenhaft Lehrkräfte, aktuell bis zu 40.000, in naher Zukunft wohl noch viel mehr. Da wird doch jeder frischgebackene Pädagoge mit Kusshand genommen – sollte man meinen. Dass dem nicht so sein muss, zeigt der Fall eines voll ausgebildeten Junglehrers mit Topabschluss und allerbesten Voraussetzungen, beruflich durchzustarten. Aber was erlebt Thilo B.* aus M. seit über einem halben Jahr? Aussichtslose Bewerbungsverhöre, stundenlange Autofahrten für die Katz’ und Absagen ohne Absage. Im Interview mit den NachDenkSeiten schildert der 28-Jährige seine ganz persönliche Odyssee durch die deutsche Schulbürokratie, für die er bisher bloß als billiger Lückenstopfer mit prekärem Status herhält. Mit ihm sprach Ralf Wurzbacher.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Thilo B. aus M.*, Jahrgang 1995, ist fertig ausgebildeter Junglehrer mit Lehramtsabschluss und erfolgreich absolviertem Referendariat in den Fächern Latein und Spanisch. Trotz eines in dieser Größenordnung nie dagewesenen Lehrermangels in Deutschland bemüht sich B. seit über einem halben Jahr erfolglos um eine dauerhafte Anstellung im Schuldienst.
* Aus Sorge vor beruflichen Repressionen zieht es der Interviewte vor, nicht unter seinem Namen in der Öffentlichkeit aufzutreten.
Herr B., Sie haben Ihr Lehramtsstudium mit Bravour gemeistert, Sie sind jung, motiviert und voller Tatendrang, dem grassierenden Lehrermangel an Deutschlands Schulen mit Ihrer Leibhaftigkeit wenigstens ein Stückchen beizukommen. Aber: Die deutsche Schulbürokratie will Sie nicht haben. Warum nicht?
Wenn ich das so genau wüsste. Vielleicht habe ich die falschen Fächer gewählt, vielleicht passt es mit der Schulform nicht. Dass ich mich zu wenig beworben hätte oder nicht mit der nötigen Professionalität, kann ich mir auch nicht vorwerfen. Und ja, ich habe ein gutes bis sehr gutes Master-Zeugnis. Ich erfülle alle Voraussetzungen, mit hundertprozentiger Tatkraft sofort loslegen zu können und zu wollen. Aber man lässt mich einfach nicht.
Aber vorsprechen lässt man Sie schon?
Ja, Vorstellungsgespräche hatte ich schon einige. In Nordrhein-Westfalen gibt es einen zentralen Bewerbertag, zu dem sich jeweils ein mehrköpfiges Gremium, bestehend unter anderem aus Schulleitung, Personal- und Elternvertretern und Gleichstellungsbeauftragtem, konstituiert. Die Einladung dazu erhält man mitunter erst am Tag davor. Möglichst viele Gespräche an einem Tag zu schaffen, erfordert Organisationsgeschick und man fährt Hunderte Kilometer durch die Gegend. Es kommt schon vor, dass man einen Termin ganz absagen muss, weil es sich einfach nicht regeln lässt. Dann fragt man sich natürlich im Nachhinein, ob einem nicht genau da die Chance fürs Leben durch die Lappen gegangen ist.
Während Sie da, wo man Sie angehört hat, den Vorstellungen nicht entsprachen. Was lief schief?
Ich hatte gute und weniger gute Gespräche. Manchmal kommt man sich vor wie bei einem Verhör. In einem hochformalisierten Prozess werden da protokollartig Fragen abhakt, dabei keine Miene verzogen, für Persönliches ist kein Platz, eigentlich ist man als Person total uninteressant. Man ahnt dann ziemlich schnell, dass man hier von vornherein nicht gewollt war und nur abgewimmelt werden soll.
Warum hat man Sie dann eingeladen?
Weil das die Regularien bei einer Stellenausschreibung vorsehen. Man liest und hört ja immer wieder, die öffentliche Verwaltung gehöre nach unternehmerischen Effizienzkriterien modernisiert. Aber dann erlebt man, dass der Bewerberprozess das genaue Gegenteil davon ist. Ich habe kein Problem damit, wenn eine Schule sich schon frühzeitig auf einen Kandidaten festlegt, zum Beispiel die Referendarin mit Stallgeruch. Dann schreibe ich die Stelle aber doch nicht so aus, als wäre das Rennen völlig offen, und bestelle pro forma Leute ein, nur um die dann abzuservieren. Es ist eine Ressourcenverschwendung sondergleichen, an so einem Tag 300 oder 400 Kilometer im Auto durch die Lande zu gondeln, dafür den eigenen Unterricht ausfallen zu lassen, und am Ende des Tages wird einem klar, du hattest nicht den Hauch einer Chance. Und bei all dem halten es manche Schulen nicht einmal für nötig, einem abzusagen.
Aha …
Es ist vollkommen legitim, wenn eine Schule einen anderen Kandidaten vorzieht. Dann erwarte ich aber auch, dass man das wenigstens mit einem Dreizeiler per E-Mail kommuniziert. Selbst das haben in meinem Fall gleich mehrere Schulen unterlassen. Man sitzt da zu Hause auf glühenden Kohlen, aber keiner meldet sich. Ich bin mit 28 Jahren in einem Alter, in dem man sich so langsam stabile Verhältnisse wünscht, man denkt über Dinge wie Familie und Häuslebauen nach. Aber dafür braucht es wenigstens mal eine berufliche Perspektive für die nächsten fünf Jahre.
Nun waren Sie nach Abschluss Ihres Referendariats im Sommer 2022 ja nicht völlig ohne Engagement.
Zum Schuljahresbeginn konnte ich auf der letzten Rille eine Teilzeitstelle in Vertretung ergattern, befristet auf drei Monate, später eine 60-Prozent-Stelle als Vertretung in Latein, wofür ich täglich 100 Kilometer zurücklegen musste. Das ist sogar noch komfortabel, wenn man sich andere Angebote ansieht. Mein lieber Scholli! Da ist man für ein paar Wochen für ein paar Stunden Lückenbüßer und dann wird auch noch erwartet, dass man sich aktiv in irgendwelchen Schulgremien einsetzt. Da fasse ich mir an den Kopf, einmal wegen der Dreistigkeit solcher Angebote, und dann mit Blick auf die armen Schweine, die in ihrer Verzweiflung nach so einem Strohhalm greifen und sich derart ausnutzen lassen müssen.
Wenn man Ihnen zuhört, fällt es schwer zu glauben, dass aktuell ein nie dagewesener Mangel an Pädagogen an Deutschlands Schulen herrscht. Bis zu 40.000 Kräfte sollen im laufenden Schuljahr fehlen und die Aussichten für die Zukunft sind noch viel schlechter. Fühlen Sie sich angesichts des persönlich Erlebten manchmal wie im falschen Film?
Bei mir macht sich vor allem Verständnislosigkeit breit. Entweder ist es ein Märchen, dass wir zu wenige Lehrer haben, wogegen meine Erfahrungen sprechen: Alle Schulen, an denen ich bisher war, haben auf jeden Fall Bedarf. Oder geht es um ein Ressourcenproblem, weil einfach nicht genug Geld da ist, Lehrer einzustellen? Ich frage mich auch, wer für die Planung zuständig ist. Als ich begonnen hatte, Spanisch und Latein zu studieren, hieß es, in beiden Fächern wären die beruflichen Aussichten in NRW rosig. Zumindest hat das damals ein Studienberater an der Uni Münster so dargestellt.
Ihnen wurde ausdrücklich zu der Fächerkombination geraten. Und jetzt: Pustekuchen …
Genau. Ich weiß nicht, wie dieser Studienberater zu seinem Votum kam. Man selbst findet nämlich keinerlei verlässliche Daten darüber, auf deren Grundlage man sich für oder gegen eine Fächerkombination entscheiden könnte. Für mich ging es aber auch um Berufung: Ich brenne für meine Fächer und ich halte die Vermittlung von Sprachen in unserer globalisierten und konfliktbeladenen Welt für etwas immens Wichtiges.
Könnte man Sie nicht in anderen Fächern einsetzen?
Tatsächlich bin ich im Rahmen der neuerlichen Vertretungsstelle, die ich gerade erst angetreten habe, im Unterstufenbereich für das Fach Geschichte eingeteilt. Wegen meines Studiums und meines ohnehin bestehenden geschichtlichen und politischen Interesses sehe ich mich der Herausforderung auch gewachsen.
Bekanntlich unterrichten heutzutage ja sehr viele Lehrkräfte, die eigentlich keine echten, also voll ausgebildeten Pädagogen sind: Quer- und Seiteneinsteiger, Lehrer ohne volle Lehrbefähigung (Lovls), Lehramtsstudierende, mithin werden Pensionäre oder sogar Eltern eingesetzt, um den Betrieb irgendwie am Laufen zu halten. Wenn dann jemand wie Sie als echter pädagogischer Profi haufenweise Steine in den Weg gelegt bekommt: Ist das dann nicht doppelt frustrierend?
Ich vergleiche das damit: Wer gibt sein Auto in eine Werkstatt ohne Kfz-Meister, aber mit einem Mechaniker, der sein Handwerk in einem Dreiwochen-Crashkurs erlernt hat? Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich schätze die Arbeit und das Engagement von Quer- und Seiteneinsteigern im Schuldienst sehr, manch einer von ihnen ist sogar motivierter als der alteingesessene Kollege, der sich in 30 Jahren krummgebuckelt hat. Aber natürlich machen Profis einen anderen und in der Regel gedeihlicheren Unterricht. Und es kann doch auch nicht die Lösung sein, die Löcher nur noch mit Quer- und Seiteneinsteigern zu stopfen.
Aber genau darauf setzen im Wesentlichen die jüngst durch eine Expertenkommission der Kultusministerkonferenz (KMK) präsentierten „Notmaßnahmen zum Umgang mit dem akuten Lehrkräftemangel“. Das Hauptmanko besteht nun einmal darin, dass von den Hochschulen viel zu wenig professioneller Nachwuchs nachkommt. Das wundert Sie nicht?
Es wurde und wird ja alles unternommen, jungen Menschen den Lehrerberuf zu verleiden. Das geht mit dem bürokratischen Wahnsinn beim Bewerben los und damit weiter, dass ein BWL-Student, der nach sechs Semestern seinen Bachelor-Abschluss macht, in der freien Wirtschaft sofort einen gut bezahlten Job bekommt. Als voll ausgebildete Lehrkraft mit Bachelor, anschließendem Master und späterem Referendariat kommt man nach vielleicht sieben Jahren zum Geldverdienen – oder auch nicht. Ich stehe mit Ende 20 noch immer in einem prekären Beschäftigungsverhältnis und kann bestenfalls für ein halbes Jahr planen. So etwas spricht sich natürlich herum, genauso wie die schlechten Arbeitsbedingungen, wie sie an den Schulen herrschen. Und besser wird das bestimmt nicht damit, dass man jetzt auch noch die Klassen größer machen oder die Leute aus der Teilzeit drängen will.
Auch das gehört zu den Rezepten besagter KMK-Kommission.
Und dabei wird sogar behauptet, dass höhere Klassenfrequenzen sich nicht negativ auf den Unterrichtserfolg auswirken würden. Was für ein Unsinn! Im NRW-Schulgesetz ist verbrieft, dass jeder Schüler ein Recht auf individuelle Förderung hat und gemäß seiner Stärken und Schwächen Unterstützung erhalten soll. In einer Gruppe mit 15 Schülern kann ich mir doch viel mehr Zeit für den Einzelnen nehmen als bei 30 Schülern. Das Gegenteil zu propagieren, zeugt entweder von kompletter Unwissenheit oder ist schlicht Desinformation. Wo soll das hinführen? Wollen wir zurück zu Zuständen wie im 19. Jahrhundert, als man in der Volksschule die Kinder und Jugendlichen des ganzen Dorfes in eine Klasse gesteckt hat? Herzlichen Glückwunsch!
Was ist davon zu halten, Lehramtsstudierende schon vor dem Referendariat für den Unterricht einzuspannen?
Schon der Übergang von der Uni ins Referendariat ist ein Sprung ins kalte Wasser, trotz aller Praktika davor. Ich habe höchsten Respekt vor denen, die als Studierende ohne jede Rückendeckung durch einen Lehrer vor eine Klasse treten. Ich fürchte nur, dass viele eher ein Erweckungserlebnis haben werden und für sich feststellen: lieber doch nicht diesen Job. Hier drohen massenweise Leute verheizt zu werden.
Was später auch für jene gilt, die den Beruf jahrelang praktizieren. Welchen Eindruck haben Sie von Ihren bisherigen Kollegen gewonnen?
Der Wunsch, krankzufeiern, weil so viel zu korrigieren, vorzubereiten oder sonst zu regeln ist, ist im Lehrerzimmer praktisch greifbar. Ich habe Hochachtung vor denen, die eine 100-Prozent-Stelle ausfüllen und trotzdem nicht zusammenklappen. Aber es gibt eben auch nicht wenige, die unter der Last kapitulieren und nur noch Dienst nach Vorschrift machen.
Immerhin haben Sie selbst dieser Tage das nächste Beschäftigungsverhältnis auf Zeit angetreten.
Ja, nachdem es eigentlich schon zum 1. Februar losgehen sollte, durfte ich eine Woche mehr den Irrsinn deutscher Schulbürokratie durchleben, also Krankenversicherung informieren oder mich für eine Woche arbeitslos melden. Das setzt einem schon zu: Man war froh, willig und gespannt auf die neue Herausforderung – und dann steht man frühmorgens vor der Arbeitsagentur. Aber am Ende ging es ja dann doch gut.
Wie lange haben Sie die Stelle?
Ich profitiere von einer Neuerung der NRW-Schulpolitik, wonach befristete Lehrkräfte nicht mehr vor den Sommerferien rausgeschmissen werden, um Geld zu sparen, das dann zu Lasten der Arbeitslosenversicherung geht. Für mich heißt das, dass ich erst nach den Ferien vor die Tür gesetzt werde.
Ohne Chance auf Vertragsverlängerung?
Da bin ich skeptisch. Für meine ausgelaufene Stelle bestand auch weiterer Bedarf, nur wurde das Budget dafür nicht bewilligt. Aber natürlich werde ich vor den Sommerferien das Gespräch mit der Schulleitung suchen.
Wie desillusioniert sind Sie nach ein paar Monaten Schuldienst?
Ich bin politisch ein kritischer Zeitgenosse und weiß ziemlich gut, was läuft und was nicht. Ich habe kaum noch Hoffnung auf durchgreifende Besserung in Sachen Bildung und Schulen. Es bedürfte schon eine riesengroße Kelle an Reformen, Mitteln und Personal, um den Karren aus dem Dreck zu ziehen. Es braucht multiprofessionelle Teams, Sozialarbeiter, Schulpsychologen, Inklusions- und Integrationshelfer, Übersetzer, IT-Fachkräfte. Und an jeder Ecke müsste eine Werbetafel stehen, um Leute anzuwerben und für den Beruf zu begeistern. Aber der nötige bildungspolitische Doppelwumms lässt sich nicht einmal erahnen. Stattdessen prangen überall Werbeplakate für die Bundeswehr. Entsprechend resigniert sind auch viele Kollegen, manche sind schon über den Burnout hinaus in einer Art Coolout nach dem Motto: Rutscht mir den Buckel runter.
Wie lange werden Sie sich das alles noch antun?
Ich mache das vielleicht noch, bis ich die Dreißig voll habe. Wenn ich bis dahin keine sichere Anstellung mit langfristiger Perspektive habe, wird es höchste Zeit, mich beruflich umzuorientieren.
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