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Titel: „… diese herrliche Unzulänglichkeit des Vorstellens und des Fühlens“

Datum: 6. Mai 2011 um 12:54 Uhr
Rubrik: Gedenktage/Jahrestage, Militäreinsätze/Kriege, Wertedebatte
Verantwortlich:

Von Brigitta Huhnke

Täter –Opfer Umkehr: „die Stunde Null“
Die eigentliche historische Zäsur vollzieht sich seltsam unaufgeregt. Vor 66 Jahren haben die Alliierten „das Grauen, das Deutschland über die Welt gebracht hat“[1] (Imre Kertész) zum Stillstand gebracht – zumindest äußerlich. Die letzten Überlebenden werden in wenigen Jahren endgültig gegangen sein, ebenso die letzten Täter. Doch die Übergabe ist äußerst einseitig geregelt.

„Eine Stunde Null gab es für uns freilich nicht“(Ruth Klüger)[2] . Im Gegenteil: bis heute leiden Überlebende, von denen immer weniger unter uns weilen unter Alpträumen und bedrängenden Bildern, viele am Ende ihrer Tage immer noch unter „Überlebensschuld“.
Die Fragen, denen sich die deutsche (Mehrheits-) Gesellschaft heute weitgehend entzieht sind zahlreich: Wie haben wir das Feld bestellt, um das historische Gedächtnis und Erinnerung lebendig zu halten? Wie haben wir uns noch zu Lebzeiten mit den TäterInnen auseinandergesetzt, nicht nur mit denen, die wir in Büchern, Ausstellungen und Gedenkstätten finden und die jederzeit Distanzierung ermöglichen, sondern welche Spuren und Dokumente haben wir ganz konkret über aus unseren Familien stammende Täter gesichert? Was wissen wir über ihre Dienstgrade, was von ihren Taten an welchen Orten? Wer von uns hat sie nach ihren Gefühlen von damals gefragt? Womit sind wir, die Kinder und Kindeskinder bis heute identifiziert? Rechtfertigungsdruck kommt außerdem noch von einer anderen Seite: In Großstädten wie Hamburg haben mittlerweile fast 50 Prozent der untere 25-jährigen einen Migrationshintergrund. Mit welchem gesellschaftlichen Erbe sehen sich eigentlich deutsche Bürgerinnen und Bürger konfrontiert, die in diesem Land in migrantischen Zusammenhängen geboren und aufgewachsen sind?
Wie viele Berichte von Überlebenden bezeugen, haben die Nazis bereits in den Todeslagern sehr bewusst gegen das Konzept Erinnerung Krieg geführt, die Menschen verhöhnt und das Grauen um so wilder exekutiert. Deshalb, so schreibt Primo Levi kurz vor seinem Tod, müsse die Geschichte des „’Tausendjährigen Reiches’ als Krieg gegen das Erinnern neu gelesen werden, als Orwellsche Falsifikation der Erinnerung, als Falsifikation der Realität, als Verneinung der Realität“. [3]
In „Atempause“ beschreibt Primo Levi, wie er kurz nach der Befreiung, im Oktober 1945, durch Trümmerlandschaften Münchens irrt, erkenntlich als einer der von dort gekommen ist, aber niemand nimmt die Herausforderung an, keiner stellt Fragen, stattdessen: „taub, blind, stumm waren sie eingeschlossen in Ruinen, wie in eine Festung gewollter Unwissenheit, noch immer stark, noch immer fähig zu Hass und Herabwürdigung, noch immer geknotet unters Joch von Hochmut und Schuld“ Und verzweifelt nimmt er die absolute Abwesenheit von Empathie zur Kenntnis: „Ich suchte nach Gesichtern, die unmöglich nicht wissen, nicht antworten, sich nicht erinnern konnten, da sie doch kommandiert und gehorcht, getötet, gedemütigt und von der Bestechlichkeit ihrer Geiseln gelebt hatten.“[4]
Gerade heute scheint sich der Pessimismus von Levi und anderen Überlebenden zu bestätigen, wenn auch in modifizierter Form. Vor allem drohen sich die Grenzlinien zwischen Opfern einerseits und andererseits den Tätern sowie diese sie stützenden „Bystanders“(Dabeistehenden) und Gaffern aufzulösen.
Während für die Überlebenden auch nach der Befreiung für immer die „Kontinuität des Lebens zerbrochen ist“(Kertész)[5], schufen sich die Täter mit aller wieder gewährten politischen Macht die „Stunde Null“. In atemberaubender Geschwindigkeit und zum Entsetzen der Geschundenen setzten sie diesen Leit-Diskurs durch, womit bis heute in dieser Tradition, trotz vieler Modifikationen, die allerdings eher den Charakter der Beschweigens und Beschönigens tragen, die Wahrheit der Geschichte manipuliert, wenigstens aber abgewehrt wird: Mit „Krieg und Vertreibung“ bis hin zu „Leitkultur“ oder „Land der Lebenschancen“, wie Angela Merkel 2007 die Bundesrepublik zynisch lobte. Daran kann auch der offizielle „Gedenkmarkt“ (Klaus Briegleb)[6], wie er seit etwa 25 Jahren betrieben wird, wenig ändern.

Die „Stunde Null“ beginnt mit den Deutschen als Opfer, vor allem mit den „Vertriebenen“, die nach der Befreiung 1945 Osteuropa verlassen mussten. Eine besonders unrühmliche Rolle beim Durchsetzen dieses Diskurses spielten dabei die ersten Drahtzieher der westdeutschen Geschichtswissenschaft, in dem sie von 1951 bis 1961 das erste Großprojekt der Verleugnung betrieben, die sogenannte „Dokumentation der Vertreibung der Deutschen aus Ost-Mitteleuropa“, mit tatkräftiger Unterstützung der Adenauer-Regierung und Verbänden der Vertriebenen. Unter der Leitung von Theodor Schieder, der einige Jahre zuvor noch die „Entjudung Restpolens“ gefordert hatte, befragten Werner Conze, Hans Rothfels, Martin Broszat, allesamt tatkräftig in das NS-Regime verstrickt, 11 000 „Vertriebene“. Ihnen zur Seite stand der junge Assistent Hans-Ulrich Wehler. Unterstützt wurde diese „Forschung“, aus der etwa 1000 „Dokumente von 1954 bis 1963 veröffentlicht wurden, vom sogenannten „Ministerium für Vertriebene“, das von 1953 bis 1963 Theodor Oberländer führte. Oberländer war im Krieg unter anderem Mitglied des Bataillon Nachtigall gewesen, das im Juli 1941 unter der jüdischen Bevölkerung Lembergs ein Massaker veranstaltet hatte. Nach dem Krieg und amerikanischer Gefangenschaft trat er zunächst in die FDP ein, war dann 1950 Gründungsmitglied der Partei „Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten“, später Mitglied der CDU.

Die bisher umfassendste Untersuchung dieser „Dokumentation“ hat der US-Historiker Robert Moeller in seiner Arbeit „War Stories“[7] vorgelegt, für die er die Erlebnisberichte von Deutschen, systematisch gesichtet und analysiert hat. In keinem dieser Berichte, werden vorbehaltlos, also ohne jeglichen Zwang zur Relativierung, zur Auf- und Abrechnung, deutsche Verbrechen in Polen und in der Sowjetunion anerkannt. Damit wurde das geschaffen, was Robert Moeller „die Anerkennung einer ‘imaginierten Gemeinschaft’ als Leidensgemeinschaft“[8] analysiert. Mit Hervorheben eigenen deutschen Leidens wird so die Vernichtung „dethematisiert“. Diese Geschichten der „Vertriebenen“ sind vielmehr getrieben von dem Zwang sich oder andere Deutsche als Opfer z.B. der Polen und Russen zu inszenieren. Diesen Bekundungen fehlt jegliche Empathie und Scham für die Verbrechen an europäischen Juden, an Sinti und Roma oder anderen Opfergruppen, vielmehr widert vor dem Hintergrund der Vernichtung die Formelhaftigkeit, die Zeitlosigkeit rassistischer Klischees und vor allem der antisemitische Subtext an.

Währenddessen waren viele NS Opfer noch stumm bzw. versuchten sich vergeblich Gehör zu verschaffen, wie beispielsweise Primo Levi mit seinen Erinnerungen „Ist das noch ein Mensch“: Sie waren noch mit dem Überleben beschäftigt, mit der Trauer um die Ermordeten der Familie, nicht wenige mit „Überlebensschuld“. Viele jüdische Überlebende waren durch Europa geirrt, versuchten in Israel oder in den USA Fuß zu fassen oder kamen ins Land der Täter zurück. Während Überlebende damit gerungen haben, eine Sprache für ihre Qualen zu finden, hatten sich die Täter bereits eine neue kollektive Identität als Opfer geschaffen, mit entsprechenden Diskursen über „Befehlsnotstand“, „die saubere Wehrmacht“, bis hin zu Gesetzen, die fast allen der Millionen von Tätern bis zu ihrem Lebensende Straffreiheit gewährten.[9]
Das alles war und ist weiterhin nur möglich bei völliger Abwesenheit von Schuld- und Schamgefühlen. Noch unter dem Eindruck des Prozesses gegen Adolf Eichmann und des Frankfurter Auschwitz Prozesses stehend verweist Günther Anders auf das Monströse und wie es psychisch abgewehrt wurde: „Es gab ja diese herrliche Unzulänglichkeit des Vorstellens und des Fühlens“.[10]
Die Nachgeborenen der Täter waren damals überwiegend noch Kinder und Jugendliche, also unschuldig, viele aber waren der Dauerkontamination mit einschüchternden Mantren über „Flucht und Vertreibung“ ausgeliefert, hörten aber ebenso magische Worte wie „Partisanenbekämpfung“.
Warum aber diese „herrliche Unzulänglichkeit des Vorstellens und des Fühlens“ bis heute andauert, das zu erklären, dafür sind wir Nachgeborenen sehr wohl verantwortlich, z.B. dafür:
Ausgerechnet im Vorfeld des 60. Jahrestages der Befreiung veröffentlichte der Deutsche Taschenbuch Verlag das Machwerk der Opfer-Täterumkehr erneut, ohne jegliche Reflexion oder gar quellenkritische Einschätzung. Positiv bewirbt „Weltbild“ für seinen Internetversand: „Die Vertreibung der Deutschen 1944 bis 1947. Über 1.000 Augenzeugenberichte und Dokumente über eine der größten Katastrophen, die die deutsche Bevölkerung im Osten erleben musste.“ Und zitiert dazu aus „Der Spiegel“: ”Bis heute eine der beeindruckendsten Sammlungen über das Elend am Ende des Krieges.”

Der „Zeitzeuge“ erobert den „Gedenkmarkt“
Erst mit dem Eichmann Prozess und noch stärker mit dem Auschwitzprozess fassten mehr und mehr Überlebende den Mut in die Öffentlichkeit zu treten. Die Grausamkeiten, die Morde an Millionen von Menschen ließ sich nicht mehr verleugnen, zu viel kam ans Tageslicht. Nicht zuletzt fingen auch heranwachsende Kindern der Täter – vereinzelt zumindest – Fragen zu stellen, wenn auch weniger nach den persönlichen Taten der Väter und Großväter als abstrakter nach der Kriegsschuld. Und sie klagten öffentlich alte Nazis und Kriegsverbrecher an, die erneut Macht und Ansehen genossen.

Hatte der Schuldabwehr-Diskurs „Stunde Null“ das Verbrechen als Geschehen exkulpiert und die Vertriebenenverbände mit Hilfe vor allem der CDU mit ihren Mantren „Flucht und Vertreibung“ zu einer Art parlamentarischen Kraft gemacht, so tauchte ab Mitte der siebziger Jahre langsam und erst fast unbemerkt der „Zeitzeuge“ auf. Die Absurdität steckt schon im Komposita, dem zusammengesetzten Hauptwort, denn: wäre ein Nicht-Zeitzeuge denkbar? Eine Zeugin oder ein Zeuge ist ein Mensch, der bei einem Ereignis zugegen ist. Davon zu unterscheiden wäre die sekundäre Zeugenschaft, die ein Mensch übernimmt, der einem beim Ereignis anwesenden Menschen zuhört, beispielsweise einem Überlebenden von Auschwitz und dessen Bericht über die dort erlittene Qual anhört und in moralischer Verantwortung dafür Sorge trägt, dieses Zeugnis der Geschichte weiterzutragen.
In keinem Fall aber kann ein Täter der Vernichtung bloß „Zeuge“ sein. Mit dem zunächst aber unsinnig erscheinenden Verdopplung „Zeitzeuge“ wird der Täters lediglich zu einem, der in der Zeit (von 1933 bis 1945) anwesend war, trivialisiert. Kein zweiter hat wie Guido Knopp seit den achtziger Jahren die PR für den „Zeitzeugen“ betrieben und so unzähligen Wehrmachtssoldaten die Gelegenheit geboten, sich in ihrer Verlogenheit noch einmal (und davon einige dauernd) mitzuteilen, umrahmt von Kitsch und Melodrama. Somit wird nicht nur das Grauen der Geschundenen sondern auch die Täterschaft nivelliert. Das Bigotte der modifizierten Mantren, unterstützt von erhabenen Klängen zum Berichteten oder auch gezeigten Schlachtgetümmel. Bis heute aber wird der Euphemismus „Zeitzeuge“ kaum hinterfragt.
Der politische Philologe Klaus Briegleb beschreibt bereits 1989 den „widerwärtige(n) Börsenton der Gedenk-Markttage“[11] und analysiert dafür sehr ins Detail gehend. Sein ernüchterndes Resultat: „Geschäftige Gedenksprachen, Dokumentationstrubel, Leitartikelglätte gedeihen zur Normalität geordneter Diskursverhältnisse, weil Vernunft in ihnen ist“.[12] Seither ist die Trivialisierung zum ohrenbetäubenden Getöse wie auf einem Jahrmarkt angeschwollen. In den letzten fünfundzwanzig Jahren wurde viel debattiert. Laut und vollmundig in der Bundesrepublik, doch selten reflektieren insbesondere Angehörige der Nachfolgegenerationen in Deutschland und Österreich die historische Rolle ihrer Familien. Demgegenüber haben Kinder und Enkel der Überlebenden insbesondere in den USA und auch in Israel eine reichhaltige Erinnerungskultur geschaffen, vielfältig, kontrovers, auch Geschmacklosigkeiten und dementsprechende Debatten[13] gehören durchaus dazu.
In diesem Land erstarren die Rituale. Für Gedenkveranstaltungen sind in den letzten zehn Jahren die letzten Überlebenden besonders begehrt, die Regie dafür obliegt in der Regel den Nachkommen der Täter, deren konkrete Taten nach wie vor ausgeblendet bleiben. Dabei ist oft eine unheimliche Geschäftigkeit zu beobachten. Die Überlebenden werden so häufig für die eigene Abwehr funktionalisiert, um sich z.B. nicht mit der persönlichen NS-Familiengeschichte und den Folgen für das eigene Leben auseinandersetzen zu müssen.

Der Ausschluss Polens aus dem „Gedächtnisraum“
Mangelnde Empathie ist besonders im Verhältnis zum östlichen Nachbarland festzustellen. Polen, als erstes Land gezielter und umfassendster kriegerischer Aggression, war als gesamtes Land das erste Opfer des modernen Vernichtungskrieges zu Land, zu Wasser und aus der Luft eines absolut asymmetrischen Krieges und hatte zudem zentrale Bedeutung den Terror von 1939 bis 1945 betreffend. Aber auf eine verstörende Weise wird das Land (auch international) vor allem lediglich als geographischer Schauplatz der Vernichtungslager zur Kenntnis genommen, bleibt aber in theoretischen und politischen Diskursen über Erinnern und Gedenken auf eigentümliche Weise noch immer weitgehend fast ausgegrenzt. Im deutschen „Gedächtnisraum“ sind Polinnen und Polen als Opfer, die, sowie deren Kinder und Kindeskinder, noch heute an den Folgen zu tragen haben, so gut wie nicht vorhanden. Wohl aber gerät Polen regelmäßig seit 66 Jahren in den Fokus offener Aggressionen der sogenannten „Vertriebenenverbände“, die sich noch heute den Interessen der damaligen „Volksdeutschen“ verpflichtet fühlen. Die Bearbeitung des historischen Traumas der Polen bzw. wenigstens die Kenntnisnahme steckt in der deutschen historischen bzw. sozialwissenschaftlichen Forschung allenfalls in den Anfängen.
In der neueren deutschen historischen Forschung haben sich die Untersuchungen zum NS-Terror in den letzten Jahrzehnten im wesentlichen auf die Ermordung der europäischen Juden und den Vernichtungskrieg ab 1941 in der Sowjetunion konzentriert und auch das erst relativ spät. Empfehlenswert sind deshalb die Veröffentlichungen des am Historischen Institut in Warschau arbeitenden deutschen Historikers Jochen Böhler, der sehr akribisch versucht deutsche Verbrechen in Polen nachzuzeichnen[14] .
Das Ziel war seitens der Aggressoren immer eindeutig: Bereits im März 1939 hatte Hitler gegenüber dem Oberbefehlshaber des Heeres Walter von Brauchitsch sein Vorhaben Polen betreffend keine Zweifel gelassen. Das Land solle „so niedergeschlagen werden, dass es in den nächsten Jahrzehnten als politischer Faktor nicht mehr in Rechnung gestellt zu werden braucht.“. Ende August gab er seinen Befehlshabern als Verhaltensregel mit auf den Weg: „Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen. 80 Millionen [deutsche] Menschen müssen ihr Recht bekommen.“ [15]
Nach dem Krieg sind die Gewaltexzesse zwar in vielen Berichten polnischer Zeugen und Zeuginnen festgehalten worden. Aber im Westen wurden diese Zeugnisse lange nicht zur Kenntnis genommen oder mit der Begründung, diese Aussagen seien durch kommunistische Sichtweise entstellt worden, abgewehrt.

Die Gegenwärtigkeit der Verbrechen in Polen
Seit einigen Jahren bin ich häufig in Polen. Eines Tages berichtete mir eine befreundete Kollegin, die aus einer nicht-religiösen, akademischen Familie in Polen stammt, heute in Norddeutschland lebend, Folgendes: Die Familie lebte in den sechziger Jahren in einem eigenen Haus, in einer größeren polnischen Stadt. Häufig kam die Mutter abends vor dem Schlafen in das Zimmer dieses polnischen Kindes und ihrer Schwester und sagte: „Betet Kinder, dass die Deutschen nicht kommen und uns das Haus wegnehmen“. Beide Eltern haben Verfolgung durch Deutsche erlebt. Sie haben zwar nicht im Lager gesessen. Aber jetzt am Ende ihres Lebens bricht das Traumatische von damals wieder in ihr Erleben ein. Die Mutter ist unterdessen verstorben, um so stärker kommen jetzt beim Vater die alten Ängste zurück, bis hin zu Verfolgungsängsten. Seither bin ich für solche Schilderungen empfänglich, höre viel über Opfer in polnischen Familien, sehe aber manchmal ebenso Verflechtungen mit der (volks-) deutschen Seite.

Versuche der Annäherung an meine eigene Familiengeschichte unternehme ich schon lange, aber erst 2008 habe ich den Weg in die kleine Stadt Nakło nad Notecia in Westpolen gefunden, mich getraut dorthin zu gehen. Die Familie meines Vaters hat dort gelebt und war von Anfang an in die Grausamkeiten gegen die polnische Bevölkerung, der jüdischen und nicht-jüdischen involviert. Vorher habe ich viele Umwege unternommen. Ich habe in Archiven gesucht, bis ich im National Archive in Washington fündig wurde. Seit vielen Jahren halte ich Lehrveranstaltungen über Erinnerungskulturen ab, bemühe mich, Studierende zu ermutigen, in ihre Familiengeschichten zu schauen. Immer wieder aber wird das Studium der Erinnerungen von Überlebenden für mich zentral. Über sie bekomme ich nicht nur Einblick in das Ausmaß des Leidens sondern auch in die grenzenlosen Perversionen der Täter. Aber die Lektüre zeigt mit ebenso immer wieder das Desiderat auf unserer Seite der Nachkommen der Tätergesellschaft.

Im Gemeindeamt habe ich im Frühjahr 2008 in den Unterlagen das Dorf gefunden, das früher Wilhelmsdorf hieß. Mit dem Namen – Polichno- und der Hausnummer der Bürgermeisterin bin ich dann in einen kleinen lokalen Bus gestiegen. Noch steht in Polichno die Scheune des Bauernhofes, wo die Familie des Vaters gelebt hat. Wenig später an diesem ersten Tag, im Wohnzimmer der Bürgermeisterin, berichtet mir ein alter Dorfbewohner, der etwas Deutsch kann, noch aus seiner Kindheit, als er zwangsweise Deutsch in der Schule hat lernen müssen – dann Folgendes unter Tränen: in die Scheune haben die Volksdeutschen des Ortes gleich in den ersten Septembertagen 1939 vor allem polnische Männer des Ortes getrieben und misshandelt. Er konnte dann nicht weiter sprechen. Später am Nachmittag zeigte mir die Bürgermeisterin Gräber im gegenüberliegenden Wald, ein größeres Denkmal steht am Wald zur Straße hin. Im November 2009 war ich bei der Gedenkfeier für die in den ersten Septembertagen 1939 in diesem kleinen Dörfchen 28 Ermordeten. Eine anwesende Polin der Enkelgeneration, zeigte mit vier Namen von damals Ermordeten, deren Träger alle Vorfahren ihrer Familie sind.

In jedem dieser kleinen zu Nakło gehörenden Dörfer dieses Gebietes liegen Leichen ermordeter Polen in den Wäldern. Im Dorf Paterek. z.B. sind Hunderte von Leichen verscharrt worden, ebenfalls gleich im September 1939 wurden dort mindestens 390 Polinnen und Polen ermordet, jüdische und nicht-jüdische. Wenn ich in dem Städtchen bin, wohne ich bei einem Ehepaar, in einem schönen alten Stadthaus. Der Erbauer des Hauses, der jüdische Großvater der Frau, ist von den Nazis ermordet worden. Im Salon hängt noch immer sein Bild, vor dem die Frau jeden Tag ein paar Momente verweilt – vor dem Großvater, den sie nie hat kennen lernen können. Immer stehen frische Blumen auf dem Tischchen vor seinem Bild. Überhaupt liegen über all im Land vor vielen polnischen Gedenksteinen für die Zeit von 1939 bis 1945 Blumensträuße.

Im Herbst 2009 stand ich vor dem heutigen Standesamt in Nakło, dem ehemaligen örtlichen Gestapo-Quartier, um die Gedenktafel zu entziffern, die Namen abzuschreiben. Was ich wusste: dort hat eine Verwandte als Sekretärin gearbeitet, während sie noch 1944 auf den positiven Bescheid zu ihrem Antrag auf Mitgliedschaft in der NSDAP gewartet hatte. Plötzlich kommt – sehr aufgeregt – ein kleiner alter, vom Wetter gegerbter Mann auf mich zu. Ich konnte ihm nur irgendwie verständlich machen Deutsche zu sein. Er hat mir dann sehr eindrücklich mit Hand- und Körperbewegungen erklärt, was damals an dem Ort passiert ist. Schließlich führt er mich um das Haus herum, zu den Kellerfenstern, wird noch aufgeregter, zeigt mir mit seiner Gestik, wie dort Polen gequält und ermordet worden sind, zieht mich auf die andere Straßenseite zur Schule. Der Pausenhof diente früher als Platz für Hinrichtungen.
Er muss damals noch ein Kind oder Jugendlicher gewesen sein.

Polnische und deutsche Jugendliche erarbeiten sich die Geschichte
Am nächsten Tag besuche ich das Museum des kleinen Städtchens. Dort war im Herbst 2009 einige Wochen lang der Nachbau einer Folterszene aus dem KZ Mauthausen zu sehen, von dem Künstler Jan Topór aus Nakło. Die Szene und die Figuren der Mörder sind äußerst präzise gestaltet, die Opfer, vor allem Frauen und Kinder, halb nackt. Im Mittelpunkt steht das Foltern von Kindern. „Schauen Sie wie die SS Männer dabei grinsen“, kommentiert die Museumshistorikerin. Die ganze Szene ist unerträglich sadistisch aufgeladen. Topór muss viele Jahre an diesem Kunstwerk gearbeitet haben. Das ist das Schockierendste, was ich je an künstlerischer Aufarbeitung gesehen habe. Aber leider ist das Werk wieder im Keller des Museums gelagert. Es gehört dringend in ein großes Museum oder müsste für von vielen kleineren zeitlich befristet angefordert werden, auf Wanderung gehen, da es ein einzigartiges Zeugnis ist, nicht zuletzt für diesen Überlebenden Jan Topór. 1967 ist er verstorben, hatte lange unter Depressionen gelitten.

Wenig später kommen an diesem späten Vormittag deutsche und polnische SchülerInnen in das Museum, überwiegend Mädchen, zwischen 13 und 15 Jahre alt. In einem Nachbarort arbeiten sie gemeinsam an einem deutsch-polnischen Geschichtsprojekt. Die deutsche Gruppe begleiten eine Lehrerin und eine Sozialpädagogin, die polnische mehrere Lehrerinnen. Alle Jugendlichen waren beim Anblick des Kunstwerks entsetzt und verstört. Die polnische Lehrerin allerdings hat sich ihrer Gruppe sofort angenommen. Die deutsche Lehrerin bewegte sich teilnahmslos, ohne den jungen, vorwiegend Mädchen auch nur irgendeine Hilfestellung zu geben. Ich habe dann zumindest einigen der Mädchen versucht zu erklären, was wir da sehen und welche Bedeutung das hat, vor allem mit dem Wissen, was mir die Kunsthistorikerin kurz zuvor vermittelt hatte.

Am nächsten Tag bin ich mit dieser Gruppe junger Leute im Bus nach Gdansk gefahren. Mit zwei Zwischenstopps: in der KZ Gedenkstätte Stutthoff und auf der Westerplatte. In Stutthoff waren die Jugendlichen beider Seiten sehr berührt. Aber in unterschiedlicher Weise: Bei den polnischen Jugendlichen lag eher tiefe Trauer und Verletztsein auf den Gesichtern, während die deutschen Jugendlichen eher hilflos und verwirrt waren.
Der junge Museumsführer spricht außer Polnisch sehr gut Deutsch. Sehr klar erläutert er die Bedeutung dieses ersten großen KZ der SS in Polen, schildert äußerst präzise wie hier SS Männer, darunter auch deutsche Mediziner, sich an lebenden Menschen in Folter- und Mordtechniken haben ausbilden lassen. Die Verstörung ist nachvollziehbar, zumal diese Gedenkstätte auf allen museumspädagogischen Kitsch verzichtet, vor allem auf den Schnickschnack neuerer Medien. Das Halbdunkel in den Baracken und der Geruch tragen vielmehr letzte Spuren der alten Unheimlichkeit, das Studium der Tafeln mit den vielfach schon vergilbten Dokumenten, die wenigen Exponate, wie Mobiliar, Strohsäcke, werfen die Besucherin fast automatisch auf die eigene Verzweiflung zurück. In dieser Situation geht eine deutsche Schülerin zur Lehrerin und zeigt ihr, wie verstört sie ist. Da sagt die Lehrerin: „Das haben ja nicht nur Deutsche getan“. Ich kann bis heute die Kaltschnäuzigkeit dieser Frau nicht vergessen, ebenso nicht die Hilflosigkeit der ihr anvertrauten Mädchen und Jungen. Über die Westerplatte wusste die deutsche Lehrerin später nichts zu erklären, die Bedeutung schien ihr unbekannt. Die polnische Lehrerin übernahm ihren Part.

Aktive Verweigerung des Gedenkens, Plädoyer für Infotainment und Erlebnispädagogik
Doch dieser Teilnahmslosigkeit, dem Unwillen, genauer wissen zu wollen, was damals wirklich geschehen ist, begegne ich immer wieder in unserem Land und genau das fällt auch zunehmend migrantischen Deutschen[16] auf. Viel Kraft wird aufgewendet, um das „Genie der Zerstörung“ (Primo Levi) in den eigenen Familien zu verleugnen, es nicht an sich heran kommen zu lassen, eingebettet in eine Kultur, die das Verdrängen und das Verleugnen stützt, nicht aber die Scham, nicht die Verantwortung. Vielmehr fehlen Empathie, der Drang und Wille zum Wissen, die Trauer, also kurzum: die Voraussetzungen, um Verantwortung vor der Geschichte übernehmen zu können.

Eine Repräsentantin dieses Unwillens ist die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel. Seit ihrem Amtsantritt hat sie es nicht ein einziges Mal für nötig erachtet, der Befreiung am 8. Mai 1945 zu gedenken, zumindest ist keine Rede zu diesem wichtigsten Gedenktag des 20. Jahrhunderts auf ihrer Webseite zu finden. Am 8. Mai 2009 veröffentlicht sie stattdessen Folgendes
„Rede von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich der Jubiläumsveranstaltung ‚Vor 20 Jahren – Am Vorabend der friedlichen Revolution’“
Auf fünf Seiten breitet sie darin ihr altbekanntes Konzept „Freiheit und Einheit Deutschland“ aus, augenfällig die Hohlheit der Gedanken, Phrasen durchziehen in unerträglicher Komplexität die Zeilen. Hier ein Ausschnitt:
„ich freue mich, heute zu Ihnen sprechen zu können. Freiheit und Einheit Deutschlands – ich glaube, für dieses große historische Glück stehen stellvertretend zwei Tage: der 9. November des Jahres 1989 und der 3. Oktober des Jahres 1990.
Weniger Beachtung – umso besser, dass es diese Konferenz gibt – erfährt dagegen der 7. Mai 1989. An diesem Tag machte unser Land einen ganz wichtigen Schritt weg von der Teilung und staatlichen Bevormundung hin zu Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie in ganz Deutschland. Es ist richtig und wichtig, dass an diesen Tag erinnert wird.“

Dann gegen Schluss nimmt sie auf den wichtigsten Tag für die Befreiten des Jahres 1945 Bezug, ohne jedoch nur mit einem Wort der Opfer zu gedenken, sondern um lediglich dann umgehend die Deutschen in unerträglicher Weise als die mit Vertrauen Beschenkten zu loben:

„Heute ist der 8. Mai. Dieses Datum erinnert uns auch an das Ende des Zweiten Weltkriegs und die Befreiung vom Nationalsozialismus. Wir vergessen an einem Tag wie heute deshalb nicht: Die Deutsche Einheit wurde 45 Jahre später nur möglich, weil unsere Nachbarn, unsere Partner und unsere ehemaligen Gegner uns Vertrauen schenkten – Vertrauen, dass wir mit der Einheit in Freiheit sorgsam und verantwortungsvoll umgehen würden. Dieses Vertrauen ist über viele Jahrzehnte hinweg Schritt für Schritt erarbeitet worden. Wir dürfen nicht vergessen: Freiheit und Einheit unseres Landes wären ohne unsere Nachbarn und Partner in Europa und weltweit unmöglich gewesen.“
Im Gestus einer Marketenderin stimmt Merkel schließlich noch einmal ihr tumbes Lied auf die Freiheit an:
„Wir haben das unschätzbare Glück der Freiheit, uns das vornehmen zu können, was wir uns bisher nicht zugetraut haben. Deshalb wäre es das Schlimmste, wenn wir unsere Freiheit brachliegen ließen. Wir sollten unsere Freiheit nicht brachliegen lassen und wir dürfen unsere Freiheit nicht brachliegen lassen, sondern wir sollten das Glück beim Schopf packen. Ich bin optimistisch, dass uns das gelingen kann.“

Einige Wochen später erscheint in der „Beilage zur Wochenzeitung ‚Das Parlament’“ das Themenheft „Zukunft der Erinnerung“ (ApuZ 25-26/2010). Die Suche nach Antworten wie endlich den vielen Millionen Tätern aus konkreten deutschen Familien ein Gesicht gegeben werden könnte, endet vergeblich. Aber nur mit einer solchen Kenntnis besteht die Chance die psychischen und gesellschaftlichen Folgen verarbeiten zu können. Die Fußnoten der einzelnen Artikel zeigen wie wenig von der internationalen Forschung zur Erinnerung überhaupt zur Kenntnis genommen wird. Stattdessen stehen in fast allen Artikeln die Präsentationsformen im Vordergrund, so als gebe es nicht die bereits seit Jahrzehnten, besonders von den Nachkommen der Opfer forcierten Debatten über das Darstellbare bzw. dessen Unmöglichkeit, über Grenzen der Sprache, Grenzen der Ästhetik bei der Annäherung an Auschwitz.

Harald Welzer empfiehlt in seinem Beitrag „Erinnerungskultur und Zukunftsgedächtnis“- unter der latenten Implikation als gebe es so etwas wie eine homogene „Erinnerungskultur“- die er wahlweise in der Uneindeutigkeit mit dem Zusatz „reflexive“ bekräftigt – wie er überhaupt auffallend viel mit dem rhetorischen Mittel Adjektiv arbeitet – allen Ernstes als „Herauforderung“ anzunehmen, was „anspruchsvolle Vermittlungsangebote mit Event-Charakter auf dem neuesten Stand der Präsentationstechnik“ anbieten. Eine solche von ihm begrüßte Hinwendung zu „Infotainment“ könnte dann „dazu führen, dass Besucherinnen und Besucher die Institutionen der politischen Bildung nicht mehr mit Inferioritäts- und Beschämungsgefühlen verlassen, sondern mit dem Bewusstsein, etwas Interessantes gemacht und erlebt zu haben.“( S. 22). Keine „Beschämungsgefühle“ mehr haben sollen?

Wie diese Art von Bespaßungskonzeption dann runtergebrochen auf die Weiterbildung von Lehrerinnen und Lehrern vor Ort aussehen kann, zeigt eine aktuelle Aussendung für eine Weiterbildung in einer KZ-Gedenkstätte:
„Die Gegenwart der Vergangenheit.’ Richtiges Erinnern’“
Projektseminar zum Thema Nationalsozialismus und Holocaust im kompetenzorientierten Geschichtsunterricht.
Anhand der (Selbst-)Erkundung und anschließend der didaktischen Erschließung der KZ-Gedenkstätte Neuengamme durch die Projektgruppe wird ein neuartiger Ansatz zum Umgang mit den Themen NS und Holocaust sichtbar, der die heterogenen Voraussetzungen unserer Schülerschaft berücksichtigen und deren unterschiedliche Zugänge zum Gegenstand für den Unterricht fruchtbar machen kann. Gelernt werden dabei nicht nur fachspezifische Einsichten und Methoden, sondern auch Projektmethoden bzw. projektartiges Arbeiten. Diese Unterrichtsform wird immer wichtiger als Möglichkeit zur Individualisierung der Lernprozessgestaltung, zur Sinnbildung für alle Schüler und zur Ausrichtung des Unterrichts auf Kompetenzerwerb statt Stoffsammlung.“
Unter der zum Klischee geronnen Überschrift und in dann folgendem semi-wissenschaftlichem Jargon tauchen Opfer, Täter und „Bystander“ bzw. die zu den Tätern gehörenden Gaffer überhaupt nicht mehr auf. Wer soll wie, was, warum erinnern? Was ist unter „didaktischen Erschließung der KZ-Gedenkstätte“ zu verstehen? Ergebe das Gegenteil der versteckten Behauptungen dieser Phrasen einen Sinn, z.B. „(Fremd)-Erkundung“? Wären „homogene Voraussetzungen“ möglich, wenn ja, welche wären das? Von welchem „Gegenstand“ ist hier die Rede? Sind die Opfer des KZ Neuengamme zum „Gegenstand“ verdinglicht? Was ist der Unterschied zwischen „Projektmethoden“ und „projektartiges Arbeiten“, was ein „Kompetenzerwerb“?
In dieser Textschablone aus Plastikwörtern, zu deren Wesen gehört, immer irgendwie Sinn zu machen, wenn das Lesen oberflächlich bleibt, ließen sich „KZ-Gedenkstätte Neuengamme“ – und „Themen NS und Holocaust“ ebenso problemlos durch „Stoffsammlung im Botanischen Garten“ und Themen durch „Unterholzflora und Sträucher“ ersetzen und würden ebenfalls einen nichtssagenden „Sinn“ ergeben. Rein formal schon erinnert das an „die gepumpten Methodiken“, die Klaus Briegleb bereits in den achtziger Jahren für die Germanistik beschrieben hat[17]. Und schließlich: „Individualisierung der Lernprozessgestaltung“! Wozu?

Konfrontation mit dem gegenwärtige Trauma damaliger polnischer Kinder
Wie schulische Auseinandersetzung im Nachbarland aussehen kann, habe ich im September 2010 relativ unvorbereitet in Koszalin, an der Küste Polens erlebt. Zusammen mit einer polnischen Kollegin von der Universität Rzsezów in Südostpolen wollten wir die Direktorin der dortigen Berufschule besuchen und einige der Lehrerinnen wiedersehen, mit denen wir zwei Monate zuvor einen deutsch-polnischen Sprachkurs der Deutsch-Polnischen Gesellschaft in Karpacz besucht hatten. An dem Kurs hatten überwiegend polnische und deutsche Lehrerinnen, drei polnische Schulleiterinnen, ein polnischer Schulleiter – sowie zwei polnische Germanistinnen teilgenommen und ich als deutsche Sozialwissenschaftlerin, die an der Universität Klagenfurt u.a. im Fachgebiet interkulturelle Bildung unterrichtet. Doch kurz nach unserer Ankunft wurden wir an diesem Septembertag 2010 ziemlich bald in die bis auf den letzten Platz gefüllte Aula geleitet, um einen Dokumentarfilm zu schauen: „Die vergessenen Opfer von Wieluń“, veranlasst vom stellvertretenden Direktor der Schule, der uns von diesem Film schon beim Sprachkurs erzählt hatte. Damalige Kinder und Jugendliche aus Wieluń, heute hoch in ihren achtziger Jahren, berichten über die Schrecken in den ersten Morgenstunden des 1.9.1939. Noch einige Stunden vor dem deutschen Angriff auf die Westerplatte, was gemeinhin als Kriegsbeginn gilt, wurde die kleine polnische Stadt Wieluń mit 16.000 Einwohnern zu rund 70 Prozent zerstört, die Innenstadt gar zu 90 Prozent. 20 000 Tonnen Sprengstoff hatte die Wehrmacht in diesen ersten Stunden des Krieges abgeworfen. Eines der ersten Ziele war das städtische Krankenhaus. Militärische Ziele gab es nicht, die Stadt war unbefestigt, besaß weder Flak noch Bunker. Mindestens 1200 Menschen starben in diesen ersten Stunden des Krieges. Später sind fast alle der 5000 Juden und Jüdinnen ermordet worden. Während des Filmes herrscht absolute Stille in der Aula. Die jungen Leute verharren in Andacht, einige sind sichtbar traurig, obwohl sie regelmäßig mit dieser Zeit nicht nur im Unterricht konfrontiert werden. Nach der Vorführung kommen wir mit einigen Lehrerinnen und Lehrern ins Gespräch, um uns herum stehen SchülerInnen. Ich erlebe erneut schmerzhaft und voller Scham wie wenig der Zweite Weltkrieg in Polen Geschichte ist. In diesen Tagen hatte Bundeskanzlerin Merkel erneut Erika Steinbach von der Leine gelassen, was jedes Mal viel Aufregung im Nachbarland auslöst. Ein Geschichtslehrer fragt mich sehr beunruhigt, ob heute noch viele Deutsche so wie diese Frau denken würden und was eigentlich die jungen Leute über den Krieg und Polen, über polnisch-deutsche Geschichte in deutschen Schulen zu hören bekommen würden. Als wir wenige Stunden später Koszalin besichtigen, sehen wir vor dem Dom polnische Soldaten, umringt von einer Menschenmenge, die bedeckt gekleidet ist. Reden werden gehalten, unterbrochen von traurig-getragenen Klängen. Was ich lerne: der 17. September 2010, wir sind an dessen Vorabend an dem Platz, ist in Polen wie der 1. September ein Tag des Gedenkens – an den Überfall auf Polen durch die Sowjetunion 1939.

Hoffnung: für 2014 ist ein deutsch-polnisches Schulbuch beschlossen
Schon in der Willy-Brandt-Ära war die Unwissenheit vor allem der Deutschen als Problem erkannt worden, was zur Gründung der „Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission“ führte und die auf deutscher Seite seit 1972 im Georg-Eckert-Institut beheimatet ist. Mittels regelmäßiger wissenschaftlich-didaktischer Analyse deutscher und polnischer Lehrwerke will die Einrichtung auf eine angemessene, wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigende Darstellung der Nachbarn im Unterricht hinwirken. Doch die konkrete Realisierung ist weitgehend den Bundesländern überlassen. Von einer angemessenen Berücksichtigung der leidvollen deutsch-polnischen Geschichte in deutschen Schulbüchern kann immer noch nicht die Rede sein. Dem soll jetzt Abhilfe geschafft werden. Der Steuerungsrat und Expertenrat des Projektes „Deutsch-Polnisches Geschichtsbuch“, hochkarätig besetzt mit Wissenschaftlerinnen und Vertretern der polnischen Regierung sowie mit mehreren Beamten deutscher Landesregierungen und einer Wissenschaftlerin, hat Ende 2010 eine 140 Seiten starke Empfehlung veröffentlicht, mit detaillierten Vorgaben und Begründungen für ein solches Geschichtsbuch, das 2014 endlich erscheinen soll. Es ist längst überfällig. Nahezu unverständlich aber ist, warum zum deutsch-polnischen Verhältnis keine systematischen und vor allem verpflichtende Weiterbildungen von Lehrern und Lehrerinnen stattfinden, die in den Fächern Politik, Sozialkunde und Geschichte unterrichten, ein Desiderat, das allerdings allgemein für den Bereich transkultureller Bildungsprozesse in der Bundesrepublik augenfällig ist .

Die Taten der Väter holen die Nachgeborenen ein
Das Verdrängte und Verleugnete bricht zunehmend ins Bewusstsein ein. Auch die Nachfolgenration der Täter kommt jetzt langsam in die Jahre, viele sind schon in der Rente, befinden sich im Übergang oder haben nur noch eine begrenzte Zahl von Jahren im Beruf vor sich. Mehr Stille tritt so bei vielen an die Stelle beruflichen Karrierestrebens bzw. erschöpfender Arbeitsroutinen. Meine Erfahrung in den letzten Jahren ist: Das Wegdrängen der Familiengeschichte scheint für viele zunehmend schwieriger zu werden, nicht zuletzt weil in vielen Familien die letzten Täter sterben und dadurch vieles was bisher in den Familien verleugnet werden konnte sich unverhofft den Weg an die Oberfläche bahnt . Nicht wenige dieser Täter leiden an Demenz, was bei vielen die seit Jahrzehnten geübte Abwehr des Leugnens schwächt. Sie „erzählen“ plötzlich von ihren Taten, vielfach verwirrt, unzusammenhängend. Wer sich die Mühe macht, dazu einmal Altenpflegerinnen auf entsprechenden Stationen zu befragen, wird viel erfahren, besonders auch über das Befremden deutsch-türkischer oder aus Osteuropa stammender Pflegerinnen.
In Polen erzählte mir eines Tages nach einem Vortrag über „Erinnerung und Gegengedächtnis“ eine Mitte der fünfziger Jahre geborene deutsche Frau plötzlich relativ unvermittelt vom Todeskampf ihres Vaters. Er hatte schon das Bewusstsein verloren, gab aber noch Kommandos, wie die Spritze in die Herzkammer zu setzen sei. Er war als Arzt „an der Front“ tätig gewesen. Das erinnerte mich sofort an den Vaters eines früheren Freundes, der damals in den siebziger Jahren mit solchen Taten als Zahnarzt noch fast unverhohlen vor uns Halbwüchsigen geprahlt hatte. Allein im letzten Jahre habe ich über fünf solche Ärzte in meinem Umfeld erzählt bekommen, die allesamt ins Töten involviert waren. Einer dieser Mediziner, dessen Lehrbuch noch heute zu den Grundlagen des Medizinstudiums gehört und der bis zu seiner Emeritierung als Professor an einer deutschen Universitätsklinik lehrte, war in Menschenversuche involviert. Er war zwar 1946/47 bei den Nürnberger Ärzteprozessen als „Zeuge“ geladen, aber hat sich wie viele von ihnen herausreden können. Ein anderer Nachgeborener beginnt sich damit auseinanderzusetzen in der einen Linie der Familie eine Großmutter zu haben, die Opfer der NS- Euthanasie wurde und in der anderen Linie Sohn eines Vaters zu sein, der ebenfalls als Arzt in die NS-Zeit verstrickt war.

„wasche meine Hände“ in Unschuld
Sehr intensiv hat sich in den letzten Monaten in Hamburg die Künstlerin Judith Hamann mit dem Treiben der NS-Ärzteschaft in der Hansestadt und deren Verbleib nach 1945 auseinandergesetzt, hat dazu im Staatsarchiv Akten studiert. Viele dieser Mörder in Weiss praktizierten nach 1945 nicht nur in Westdeutschland einfach weiter, in ihren Privatpraxen, als Professoren an medizinischen Fakultäten, waren in Fachverbänden aktiv. Einige waren sogar in den ersten Nachkriegsjahrzehnten als Gutachter für Überlebende des Holocaust in Entschädigungsverfahren tätig. Die bittere Erfahrung von Judith Hamann mit ihren regionalen Recherchen: Einige Akten werden bis heute einfach unter Verschluss gehalten, auch die solcher Mediziner, die bereits in Forschungen zu NS-Medizinern am Rande erwähnt werden, aber dringend weitere Beweise benötigt würden.
Die Ergebnisse von Hamanns Recherchen präsentiert derzeit die Kassenärztliche Vereinigung Hamburg in ihren Räumen des Hamburger Ärztehauses: als Ausstellung „wasche meine Hände“[18], die noch bis zum 30. Mai 2011 wochentags zu sehen ist. Hamann versucht sich mit ihren Exponaten, die über die Durchgangsräume zur Kantine und zum Konferenzraum verteilt sind, nicht nur von Außen dem Bild dieser Täter in Hamburg zu nähern. Sondern sie will ebenso über die eigene innere Haltung zur Geschichte und Gegenwart Klarheit gewinnen. „Was aber macht es mit uns, wenn wir uns anhand der Fakten wirklich vorstellen, was damals geschehen ist“ sagt Judith Hamann. Gängige Erklärungsmuster scheitern schnell. Gezwungen wurde keiner von ihnen, auch der Wille zum Gehorsam erklärt nichts. Vielmehr ist bei vielen NS Ärzten von einer Energie auszugehen, in der sich Forschergeist und Sadismus in unheimlicher Weise verbunden haben. Das weckt das eigentliche Entsetzen in der Betrachterin. Daraus ergeben sich keine schönen Bilder, selbst die Abstraktion droht ständig zu scheitern, an der Vorstellung dessen, was nahezu unfassbar ist. Der Besucher und die Besucherin bleiben also letztlich auf sich selbst gestellt, sie sollen mit dieser Ausstellung nur einen Rahmen bekommen, um sich mit dem Zerstörerischen auseinander zu setzen. Die Reaktionen sind vielfältig: die meisten studieren nachdenklich die Dokumente, Exponate und ausliegenden Bücher. Aber immer wieder macht sich auch Unwillen und Aggression Luft: Exponate werden herunter gerissen, vereinzelt sind Witze oder Gepöbel zu hören.

Wir Nachgeborenen tragen keine Schuld an den Taten der Väter und Großväter, dem teilnahmslosen Zuschauen und Gaffen der Mütter und Großmütter oder auch ihrem tatkräftigen Involviertsein. Aber wir tragen Verantwortung[19] für das weitere Klären des „warum“, mit dem sich Überlebende und ihre Nachkommen seit Jahrzehnten quälen.
Es sei ein Symptom, sagt Primo Levi kurz vor seinem Tod, „wenn Deutsche, auch Nachgeborene nicht über sich und ihre Familien sprechen“[20].
Diese „Bringschuld“ ist nur durch bewusste Gedächtnisarbeit und Spurensuche in den eignen Familien zu leisten. Dazu müssen wir uns einlassen und, so wie Günther Anders fordert, dem „Übermaß von Entmenschung wirklich Glauben schenken“[21].
Im Ziel könnten wir mit kleinen Facetten dazu beitragen das „warum“ zu erhellen, auch wenn wir nie als einzelne zu einer kohärenten Darstellung, nicht einmal unserer Familiengeschichten kommen werden. Der Weg ist schmerzhaft, aber nur so kann letztlich auch die innere Last, die uns die Täter aufgebürdet haben, gemindert werden.
Die französische Philosophin Sara Kofman, deren Vater in Auschwitz ermordet worden ist, hat den Drang sprechen zu müssen für die andere Seite so formuliert:
„Wenn auch nach Auschwitz keine Erzählung mehr möglich ist, besteht doch die Pflicht zu sprechen, ohne Unterlass für jene zu sprechen, die nicht sprechen konnten, weil sie das wahre Wort bis zum Äußersten bewahren wollten, ohne es zu verraten.“[22]


[«1] Imre Kertész (2003): Die exilierte Sprache, in: ders.: Die exilierte Sprache. Essays und Reden, Frankfurt a.M., S. 219.

[«2] Ruth Klüger (2008 ) : unterwegs verloren. Erinnerungen, Wien, S. 15.

[«3] Primo Levi (1988): The Drowned and the Saved, New York, S. 31.

[«4] Zitiert nach der Übersetzung aus dem Italienischen von Klaus Briegleb in (1989): Unmittelbar zur Epoche des NS-Faschismus, Frankfurt a.M., S. 20.

[«5] Irme Kertesz

[«6] Briegleb, a.a.O, S. 33ff.

[«7] Robert Moeller (2001): War Stories: The Search for a Usable Past in the Federal Republic of Germany, Berkeley, University of California

[«8] Robert Moeller (2002): Die Vertreibung aus dem Osten und westdeutsche Trauerarbeit, S. 139, in: Brigitta Huhnke/Björn Krondorfer (Hg.): Das Vermächtnis annehmen. Kulturelle und biographische Zugänge zum Holocaust. Beiträge aus den USA und Deutschland, Gießen, S. 113-148.

[«9] Sehr ausführlich und klar hat diese Entwicklung 1991 der Historiker Fritz Stern analysiert: Im Anfang war Auschwitz: Antisemitismus und Philosemitismus im deutschen Nachkrieg, Gerlingen.

[«10] Günther Anders (1964): „Wir Eichmannsöhne, München, S.40

[«11] Briegleb, a.a. O., S. 31

[«12] Briegleb, a.a.O., S. 50

[«13] Stellvertretend für die vielen Debatten über die künstlerischen Grenzen in der Auseinandersetzung mit dem Holocaust sei dabei auf die Kontroverse um die 2002 im Jewish Museum in New York City gezeigte Ausstellung „Mirroring Evil: Nazi Imagery/Recent Art verwiesen, bei der unter anderem ein KZ-Nachbau mit Prada Logo zu sehen war sowie ein Bild mit ausgemergelten Häftlingen in das ein junger Mann mit einer Coca Cola Flasche reinmontiert worden war. Besonders Überlebende fühlten sich dadurch in ihrer Würde verletzt.

[«14] Jochen Böhler (2006): Auftakt zum Vernichtungskrieg. Die Wehrmacht in Polen, F a.M. sowie (2009) : Der Überfall. Deutschland gegen Polen, Frankfurt a.M.

[«15] Zit. Nach Böhler 2006, a.a.O., S. 31.

[«16] Vgl. z.B. Zafer Senocak: Deutschtest für Deutsche, in taz vom 17.4.2007

[«17] Vgl. Briegleb, a.a.O., S. 252

[«18] Vgl. dazu die Dokumentation im Internet

[«19] Vgl. dazu ausführlicher Brigitta Huhnke (2002): Der weite Weg zur Erinnerung, in Huhnke/Krondorfer, a.a.O., S. 149-197.

[«20] Levi, a.a.O, S. 182.

[«21] Günther Anders, a.a.O., S. 43

[«22] Sarah Kofman (1988): Erstickte Worte, Wien, S. 53


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