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Titel: EU-Sondertribunal gegen Russland – Heuchelei in Hochform

Datum: 20. Januar 2023 um 12:03 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Europapolitik, Europäische Union, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Militäreinsätze/Kriege
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Mit großer Mehrheit fordert das EU-Parlament ein Sondertribunal zum Ukrainekrieg. Es soll russische Kriegsverbrechen ahnden, bis hinauf zu Präsident Wladimir Putin. Bindend ist die Resolution nicht – aber sie ist ein weiterer Mosaikstein in der Propaganda: Der einzige Zweck des Vorstoßes ist Zuspitzung und eine moralische Selbstüberhöhung, die bei näherer Betrachtung grotesk wirkt. Der Schritt trägt damit zur Eskalation bei, er wirkt einem Waffenstillstand eher entgegen und er entblößt die Heuchelei der Abgeordneten. Ein Kommentar von Tobias Riegel.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Zur Verteidigung der Forderung nach dem Sondertribunal und zur Darstellung des Ukrainekrieges als angebliche historische Einmaligkeit wurden von EU-Parlamentariern einmal mehr schwere verbale Geschütze ins Feld geführt, wie Medien berichten. Nicola Beer, Parlamentsvizepräsidentin und Abgeordnete der FDP, nutzte etwa den auch in der Holocaust-Forschung genutzten Begriff vom „Zivilisationsbruch“, um das Vorgehen Russlands in der Ostukraine zu beschreiben:

Russische Kriegsverbrecher kommen nicht ungestraft davon, denn Straffreiheit für diesen Zivilisationsbruch wäre die bitterste Niederlage der Völkergemeinschaft.

Und der Grünen-Abgeordnete Sergeij Lagodinsky behauptete, Russland hätte die Ukraine bereits 2014 angegriffen – dabei wurde der Ukrainekrieg 2014 von westukrainischer Seite angefangen, als mit einer „Antiterror-Operation“ die von Russland unterstützten Bürger des Donbas angegriffen wurden, die sich der neuen Umsturzregierung in Kiew nicht unterordnen wollten. Lagondinsky sagte dennoch:

Verbrechen fangen nicht an mit den Toten in Butscha, nicht mit Folterkellern in Cherson, nicht mit Filtrationslagern im Donbass. Verbrechen haben mit dem Angriff der russischen Truppen auf die Ukraine angefangen. Erst 2014, dann 2022.“

Auch der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte gerade laut Medien (in einem anderen Zusammenhang), Russland führe einen „grausamen Vernichtungskrieg“. Interessant ist aber auch, dass Pistorius Mitglied der (mittlerweile aufgelösten) deutsch-russischen Freundschaftsgruppe des Bundesrates war.

Die selektive Moral des EU-Parlaments

Wasser in den Wein der moralischen Selbstbesoffenheit des EU-Parlaments kippte der irische Linke Mick Wallace, der den Vorstoß für scheinheilig hält. Natürlich müsse Russland für seine Verbrechen zur Rechenschaft gezogen werden. Allerdings seien NATO-Staaten mit ihren Angriffskriegen gegen Jugoslawien, Afghanistan, Syrien oder den Jemen ungestraft davongekommen.

Es gibt keinen Krieg ohne Kriegsverbrechen. Seriöse Untersuchungen würden im Ukrainekrieg mutmaßlich schlimme Vergehen auf beiden Seiten aufdecken. Die russische Seite soll hier keineswegs abgeschirmt werden. Zentral für eine moralische und völkerrechtliche Einordnung der Vorgänge wäre aber eine Untersuchung der Vorgeschichte des Krieges, die von vielen Medien aggressiv abgewehrt wird. Wie fragwürdig der Versuch ist, den Ukrainekrieg als einen absoluten Sonderfall in der Geschichte der Kriege darzustellen, und dass es in der Debatte eine massive „False Balance“ zugunsten der NATO-Kriege gibt, haben wir gerade in diesem Artikel beschrieben – dort wird auch betont, dass NATO-Verbrechen selbstverständlich nicht andere Verbrechen rechtfertigen.

Frieden ohne Russland nicht möglich

Zu einem Auskommen zwischen Russland und Resteuropa gibt es keine Alternative. Die Vermeidung einer zugespitzten Konfrontation und einer feindlichen antirussischen Propaganda ist kein Zeichen der politischen Schwäche. Gerade wer ein berechenbares Russland möchte, das in Frieden mit den Nachbarn lebt, darf diese Nachbarn nicht propagandistisch und militärisch so aggressiv gegen Russland in Stellung bringen, wie es in den letzten Jahren mit Unterstützung der USA geschehen ist. Zusätzlich wurde der Regionalkonflikt um Donbas und Krim von westlicher Seite vorsätzlich zu einem potenziell „großen Krieg“ ausgeweitet.

Wer Frieden in Europa möchte, der kann nicht die Sicherheitsinteressen Russlands vom Tisch fegen – das bedeutet nicht, dass man eigene Sicherheitsinteressen vernachlässigt: Ein dauerhafter Ausgleich muss her, doch der soll mutmaßlich vor allem im Sinne der USA verhindert werden. Die essenziellen Forderungen nach Verständigung und Kompromiss zwischen Russland und Resteuropa bedeuten nicht den Willen zur Unterwerfung unter ein „russisches System“. Sie sind vielmehr Ausdruck eines Verantwortungsgefühls für die gemeinsame Zukunft des Kontinents.

Dass die westliche Sanktionspolitik und die Waffenlieferungen das schlimme Leid der ukrainischen Zivilisten nicht lindern, sondern mutmaßlich verschlimmern und verlängern, ist offensichtlich (siehe hier und hier). Darum konnten der Wirtschaftskrieg gegen Russland (mit seinen Folgen für die Bürger hierzulande) und die kriegsverlängernden Waffenlieferungen zu keinem Zeitpunkt moralisch begründet werden.

Russland und andere Staaten haben Strafgerichtshof den Rücken gekehrt

Russland zählt zu den Unterzeichnern des Vertrags zum Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag, zog das aber 2016 wegen der einseitigen Ausrichtung des Strafgerichtshofs wieder zurück. Laut damaligen Medienberichten sahen das 2016 auch andere Staaten so:

Im Oktober hatten Gambia, Burundi und Südafrika ihren Austritt aus dem Gericht angekündigt, da er nach ihrer Ansicht einseitig gegen Afrika gerichtet ist. Neun der zehn bisher angestrengten Verfahren behandeln Verbrechen auf dem afrikanischen Kontinent. Das Gericht ignoriere die „Kriegsverbrechen“ westlicher Politiker völlig, hieß es. Immer wieder wird als Beleg für eine Voreingenommenheit des Strafgerichtshof dessen Weigerung erwähnt, den früheren britischen Premierminister Tony Blair wegen des Irak-Kriegs anzuklagen.“

NATO feiert „Tag des Vergessens“

Wegen des Rückzugs Russlands vom Vertrag für den Internationalen Strafgerichtshof möchte das EU-Parlament mit dem „Sondertribunal“ nun einen Ersatz schaffen. Weil es gut zu einem einzig auf Russland zugeschnittenen EU-Sondertribunal und der damit verbundenen Geschichtsvergessenheit passt, wird hier an eine nicht ganz ernstgemeinte Kurzmeldung erinnert, die kürzlich über unseren satirischen Nachrichtenticker gelaufen ist:

NATO feiert „Tag des Vergessens“

Der 24. Februar – also der Tag des Beginns des mit Abstand brutalsten und völkerrechtswidrigsten Angriffskriegs in der Geschichte – soll künftig ein NATO-Feiertag werden: der „Tag des großen Vergessens“.

So zynisch es klingt, diesen Tag zum Feiertag zu machen, so zynisch ist es auch“, so ein NATO-Sprecher. Dennoch wolle man sich von dieser wichtigen Geste gegen homophobe, antisemitische Autokratien nicht abhalten lassen. Die Idee sei, alle vor dem 24.2.2022 datierten Angriffskriege aus der Historie zu streichen. „Das machen viele Medien ja bereits“, so der Sprecher weiter, „wir wollen das jetzt nur noch einmal offiziell feststellen.“ Damit würde man auch der russischen Propaganda entgegentreten, die eine „Vorgeschichte“ zum Ukrainekrieg konstruieren wolle.

Zu feiern gebe es am 24. Februar ja nicht nur die erheblichen Gewinne für die NATO-Führungsmacht USA, die ihr aus dem Wirtschaftskrieg gegen Europa zufließen. Erfreulich sei doch auch, dass mit der Streichung aller US-Angriffskriege aus der kollektiven Erinnerung eine erhebliche geistig-moralische Befreiung für westliche Kriegsverbrecher und beteiligte Journalisten einhergeht – das sei therapeutisch und könne Gräben überbrücken. „Es geht hier also um Werte, nicht ums Geld“, so eine NATO-Erklärung.

Titelbild: Minerva Studio / Shutterstock


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