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Titel: ARD stellt „Putin vor Gericht“ – Paradebeispiel der Verzerrung
Datum: 16. Januar 2023 um 14:34 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Medienkritik, Strategien der Meinungsmache
Verantwortlich: Tobias Riegel
In dem fiktiven Radio-Szenario „Putin vor Gericht“ verletzt ein Tagesschau-Podcast zahlreiche Standards. Das wird noch unterboten von den aktuellen Rache- und Gewaltfantasien bei der Aktion „Punish Putin“ vom Zentrum für Politische Schönheit. Behauptungen, der russische Präsident sei der weltweit größte geopolitische Verbrecher, sind nicht haltbar, aber weit verbreitet. Es gibt bei dieser Frage eine „False Balance“ – aber in eine ganz andere Richtung als dargestellt. Ein Kommentar von Tobias Riegel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Ein Paradebeispiel für die Verkürzung und die unredliche, fast kindliche Vereinfachung der Analyse des Ukrainekriegs hat am Wochenende der fiktive Tagesschau-Podcast „Putin vor Gericht? Was dann?“ aus der Reihe „Mal angenommen“ geliefert, der etwa im RBB-Inforadio ausgestrahlt wurde. Dort wird das Szenario eines von einem internationalen Gericht abgeurteilten Wladimir Putin durchgespielt. Diese in pseudojugendlichem Tonfall dahingeplauderte Meinungsmache verletzt so viele Standards und ist in der gesamten Machart so unseriös, emotional und unangemessen, dass hier keine einzelnen Zitate herausgestellt werden sollen. Der Beitrag ist insofern ein manipulierendes „Gesamtkunstwerk”, das nichts mit einer nüchternen und distanzierten Beweisaufnahme zu tun hat.
Selektive moralische Anklagen sind wertlos
Anhand des Podcasts soll aber ein grundsätzliches Problem thematisiert werden. Der Beitrag wäre in seiner Wirkung nicht so verzerrend, wenn insgesamt die Relationen zumindest in Ansätzen gewahrt würden: Kriegsverbrechen durch russische Soldaten in der Ukraine und auch eine mögliche direkte Verantwortung des russischen Präsidenten sind nicht auszuschließen. Außerdem ist es ein alter Traum, dass auch mächtige Staatenlenker einst Verantwortung für ihre Politik übernehmen müssen – und sei es als Angeklagter. Auch in Putins Amtszeiten würden Ermittler mutmaßlich Verantwortlichkeiten für politische oder militärische Vergehen feststellen können, wenn sie entsprechenden Zugriff hätten. Aber: Politisch-moralische Anklagen, die nur für eine Seite gelten, sind wertlos. Wenn diese Anklagen rein selektiv in eine Richtung erfolgen und die realen Relationen zwischen den Verbrechen einzelner Staaten verschwiegen oder gar auf den Kopf gestellt werden, dann kann aus dem Traum von Gerechtigkeit eine verzerrende Propaganda-Taktik erwachsen.
Das ist momentan der Fall: In zahlreichen Medien und von vielen Politikern wird der russische Präsident als der weltweit wohl größte geopolitische Verbrecher dargestellt. Im ARD-Podcast klingt es fast so, als wäre Putins Verurteilung nur noch eine Frage der Form und der praktischen Umsetzung (es wird sogar die theoretische Option einer Entführung des Präsidenten aus Russland durchgespielt). Dass diese alleinstellenden Behauptungen unzutreffend sind, zeigen alle seriösen Berichte, etwa über Verbrechen der US-Armee und über den kriegstreiberischen Charakter des US-Präsidenten Joe Biden und seiner Mannschaft: Keine Armee der Welt hat seit dem Zweiten Weltkrieg so viele Menschen getötet und Staaten verwüstet wie die US-Armee in offenen oder verdeckten Operationen. Innerhalb der US-Kriegsdebatten war Joe Biden ein besonders eifriger Fürsprecher für Angriffskriege durch die USA, unter anderem bei den US-Interventionen gegen Irak, Jugoslawien, Libyen oder Syrien (Hintergründe etwa hier oder hier).
Die Frage der „False Balance“
Wer diesen Bezug auf die Verbrechen eines anderen Staates nun als „False Balance“ ablehnt, mit der unredlich von Russlands ebenfalls realen Verbrechen abgelenkt werden soll, verzerrt den Begriff. Ja: Es herrscht in vielen Medien eine massive „False Balance“ – aber zugunsten der US-Armee. Selbst eine moralische Gleichstellung von Putin und Biden wäre noch eine Verniedlichung der aggressiven Haltungen Joe Bidens – doch oft geschieht das Gegenteil: US-Kriegstreibern wird mit der Unterstützung durch viele Medien eine bizarre Rolle als moralische Ankläger zugebilligt, die nicht akzeptabel ist.
Die Behauptung, die russische Außenpolitik sei aggressiver als die US-amerikanische ist schlicht Unsinn. Dass man mit der Betonung der realen Relationen zwischen Russland und den USA nicht prinzipiell die Existenz von russischen Kriegsverbrechen leugnet, ist selbstverständlich. Aber: Ein Szenario, bei dem Putin wegen geopolitischer Verbrechen vor Gericht steht, Biden aber nicht, hätte eine schwere moralische Schlagseite, das gilt entsprechend auch für das ARD-Szenario.
Außerdem: Eine Antwort auf die Frage nach der persönlichen Schuld innerhalb des Ukrainekriegs klärt nicht die Frage nach der Verantwortung für den Ausbruch des Ukrainekrieges – die Wurzeln hierfür sind vor allem im rechtsnationalen Umsturz von 2014 und in den jahrelangen Angriffen Kiews auf die Bürger des Donbas zu suchen.
Zum Vorwurf der „Relativierung“: Das eine Verbrechen rechtfertigt nicht das andere, man kann auch einen Dieb nicht mit dem Verweis auf andere Diebe entlasten. Trotzdem werden Erkenntnisse erschwert, wenn Dinge nicht zueinander in Relation gesetzt werden. Damit werden Vorgänge auch nicht gerechtfertigt, sondern (im besten Fall) erklärt. Wer eine solche „Relativierung“, etwa zwischen den russischen und den US-amerikanischen Kriegen, als russische Propaganda geißelt und verhindern möchte, ist nicht an einer realen Einordnung der Tragweite der jeweiligen Verbrechen interessiert.
Putin „an Ameisen verfüttern“
Das Niveau des Tagesschau-Podcasts wird noch unterboten von einer aktuellen Aktion des „Zentrums für politische Schönheit“ (ZPS): Auf der Webseite „Punish Putin“ („Bestraft Putin“) werden den Nutzern verschiedene Strafen gegen den russischen Präsidenten zur Wahl gestellt, darunter Gewaltfantasien wie „Hängen“, „Elektrischer Stuhl“ oder „An Ameisen verfüttern“. Bei Kritik werden die Macher der Aktion möglicherweise die „Satire“-Karte ziehen und behaupten, die Aktion wolle ja eigentlich die Anti-Putin-Hysterie und die alttestamentarischen Rachegelüste der Abstimmenden persiflieren. Die Wirkung der Aktion und ihre anscheinende Rezeption durch die Massen ist jedoch eine zusätzliche Verrohung sowie eine simple persönliche Putin-Dämonisierung, mit der eine aggressive US-Politik gerechtfertigt werden soll, die sich auch gegen die Interessen von EU-Europa richtet.
Nicht zuletzt werden mit den Gewaltfantasien auch zivilisatorische Errungenschaften mit Füßen getreten, die man doch angeblich vor dem russischen „Autokraten“ retten will. „Telepolis“ schreibt zu der ZPS-Aktion:
„Das Zentrum für Politische Schönheit und seine Mitglieder zeigen sich hier einmal mehr als konformistische Rebellen, die eine Art radikalisierte Fortsetzung der deutschen Außenpolitik mit den Mitteln der Kunst vorantreiben wollen. Kaum jemand dürfte sich auch an der deutschen Geschichtsvergessenheit stören, wenn der Präsident eines einst führenden Staates der Anti-Hitler-Koalition nun mit eindeutigen Bezügen auf das Nürnberger Kriegsverbrechertribunal auf die Anklagebank soll.
Man muss den russischen Machthaber nicht verstehen und sollte schon gar nicht seine Taten verteidigen, um trotzdem die neueste ZPS-Kampagne als Eskalation deutscher Geschichtsvergessenheit abzulehnen. Doch das Problem sind nicht einige Künstler, die hin und wieder mal die große Öffentlichkeit suchen. Das Problem sind die Menschen, die diese Aktionen feiern und bejubeln – es ist die Rechtsentwicklung eines grünen Milieus.“
Leserbriefe zu diesem Beitrag finden Sie hier.
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