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Titel: Der Zugriff auf den Körper

Datum: 15. Januar 2023 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Überwachung, Innen- und Gesellschaftspolitik, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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In ihrem neuen Buch „Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft“ beschäftigt sich die Wiener Wirtschaftshistorikerin Andrea Komlosy mit dem Vormarsch des medizinisch-pharmakologisch-biotechnischen Komplexes, der neue Leitsektoren ausbildet. Mit ihm, so die Versprechungen der Apologeten einer schönen neuen Welt, vervollkommne sich nicht nur der Mensch, sondern eröffne sich auch die Möglichkeit, die globale Krise des Kapitalismus zu überwinden. Corona bot dazu die Gelegenheit und den Anschub. Die zunehmende Ablieferung von Verhaltensdaten während der Nutzung von digitalen Kommunikationstechnologien und Plattformen liefert den Rohstoff, der im Med-Pharma-Komplex zu neuen Produkten entwickelt wird. Diese sind untrennbar mit Kontrolle verbunden, sei es mit der Überwachung von Körperfunktionen oder mit der Heranziehung der Daten bei der Entscheidung, wer ein Lokal betreten, ins Ausland reisen oder eine Stelle besetzen darf. Der Zugriff auf den Körper ist ein wesentlicher Bestandteil zur Herstellung eines von den neuen Leitsektoren und ihren politischen Vertretern gewünschten „neuen Menschen“. Im Folgenden eine Leseprobe aus dem Kapitel „Der Zugriff auf den Körper“.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Der Zugriff auf den Körper

Der menschliche Körper steht immer im Visier der Macht: in politischer Hinsicht, um ihn zu beherrschen, in militärischer Hinsicht, um damit das Herrschaftsgebiet zu sichern oder auszuweiten, in ökonomischer Hinsicht, um ihn als Arbeitskraft oder als Konsument einzusetzen, und in kultureller Hinsicht, um an und durch ihn die herrschende Ideologie zu demonstrieren. Für den Menschen bietet der Körper die Möglichkeit, verschiedene Fähigkeiten und Empfindungen zum Ausdruck zu bringen, den Lebensunterhalt durch den Einsatz von Muskeln, Zuwendung oder Intellekt zu bestreiten, sich zu inszenieren und mit anderen in Beziehung zu treten. Der Mensch kann seinen Körper auch gegen die Macht wenden, indem er diese bekämpft, sie überlistet, sich verweigert oder die Flucht in andere Machträume ergreift. (…)

Michel Foucault hat die auf den Körper zielenden Machtstrategien als Biopolitik bezeichnet. Dass er die Interessen und Akteure der Macht nicht klar benennt, unterstützt seine Theorie der multiplen, diffusen Macht, macht seine Theorie aber auch angreifbar. Für das Verhältnis von Staatsmacht zum Körper bleibt sie unübertroffen.[1] Wie Foucault in seinem Standardwerk „Überwachen und Strafen“ (1975) ausführte, trat in vormodernen Gesellschaften die Macht dem Körper offen entgegen und zwang ihn, die von ihm verlangte Rolle zu spielen; Widerstand wurde niedergeschlagen und die Aufrührer in aller Öffentlichkeit bloßgestellt, gemartert oder hingerichtet.[2] Moderne Machttechniken gingen seit dem 18. Jahrhundert dazu über, Herrschaft nicht nur gegen den Menschen durchzusetzen, sondern den Menschen zunehmend in ihre Strategie des Machterhalts einzuspannen. Er – und auch sie, obzwar das patriarchale Verhältnis hier keine Gleichsetzung erlaubt – verinnerlichte die Macht in dem Maße, wie er selbst von den Strukturen der Ungleichheit profitierte. Zu dieser Ungleichheit gehörte und gehört auch der sozio-ökonomische Unterschied zwischen den Zentren der Weltwirtschaft und den inneren und äußeren Peripherien. Während im Zentrum seit den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts die politische Teilhabe als StaatsbürgerIn und die soziale Teilhabe als ArbeiterIn am Wohlstand ausgeweitet wurde, blieb in der Peripherie der Körper weiterhin der offenen politischen Gewalt und dem ökonomischen Zwang ausgesetzt.

(…)

Öffentliche Brandmarkung von Unbotmäßigen und Außenseitern verschwand im Zeitalter der zivilisierten Macht, wurde im Faschismus jedoch gegen Juden, Roma, Kommunisten und Andersdenkende reaktiviert. Insgesamt verlor der Körper in der Moderne jedoch die Aufgabe, öffentliche Züchtigung und Strafe über sich ergehen lassen zu müssen. Er sollte funktionieren, was in erster Linie bedeutete, dem Arbeitsmarkt – sowie der Hervorbringung und Versorgung der Arbeitskräfte in der Familie – zur Verfügung zu stehen. Das Funktionieren übertrug sich aber auch auf das politische Verhalten, die Ausbildung, den Konsum sowie Spiel und Sport, an die dieselben Ansprüche des staatsbürgerlichen Fleißes angelegt wurden wie auf das Erwerbsleben. Diese Bereiche bieten gute Möglichkeiten, das Mitmachen und Mittragen der Macht auszuleben und unter Beweis zu stellen.

Wer die Regeln brach, wurde nicht mehr an den Pranger gestellt, sondern nach der Aburteilung im Gefängnis den Augen der Öffentlichkeit entzogen und in der Gemeinschaft der Inhaftierten besonderen Prozeduren von hierarchischer Disziplinierung, Strafe und Resozialisation unterzogen. Nur besonders harte Fälle wurden in Einzelhaft isoliert. Wer nicht mitspielte, wurde auch ohne ein Verbrechen begangen zu haben in Besserungsanstalten und in der Psychiatrie ähnlichen Techniken unterzogen.

Als zentrales Merkmal der modernen Staatsmacht und ihrer Institutionen arbeitete Foucault die Verbindung von gesellschaftlicher Modernisierung, Gesundheits- und Hygiene-Dispositiven als spezifische Form der westlichen Gouvernmentalität heraus. Darauf aufbauend, zeigt der Medizinphilosoph Willibald Stronegger auf, dass die Medikalisierung der biopolitisch-hygienischen Steuerungsmechanismen in der Geschichte zwei Ausprägungen annahm, die beide auf dem Gesundheitsimperativ beruhen: Einerseits als biopolitischer Vorsorgestaat, der den BürgerInnen über Regulierung, Bevormundung und Risikovermeidung ein sorgenfreies, glückliches, Dasein verpassen will, andererseits als biopolitischer Staatsrassismus, der mithilfe von Rassenhygiene (Eugenik) auf Förderung der Gesunden und Ausmerzung der zu Minderwertigen Erklärten abzielt.[3] Beide Formen zielen auf die „ständige Erhöhung der Nützlichkeit (…) der Körper der Individuen und der Körper der Bevölkerungen“, um „das Lebende in einem Bereich von Wert und Nutzen zu organisieren“.[4]

Nach der Diskreditierung von Eugenik und Rassenwahn durch den Nationalsozialismus konzentrierte sich Biopolitik auf die Maßnahmen zur Besserung und Integration der Menschen in eine – immer noch – Klassengesellschaft, die in Phasen der Hochkonjunktur jedoch insbesondere in den Zentren auch für untere Schichten Bildung, sozialen Aufstieg und Teilhabe am Konsum bereithielt. Auch zwischen dem Globalen Norden und dem Globalen Süden verringerte sich im Zuge des 4. Kondratieff-Zyklus die soziale Kluft und erlaubte in Schwellenländern zahlreichen ArbeiterInnen den Aufstieg in eine mit Kaufkraft ausgestattete Mittelklasse, deren Konsum- und Hygieneverhalten sich jenem des Nordens anglich.

In dem Maße, wie das Ende der industriellen Massenproduktion seit den 1980er Jahren in den Zentren einem neuen Typ von Arbeitsverhältnissen Platz machte, wich die Angleichung der Flexibilisierung. Dies erforderte eine Ausdifferenzierung der Arbeitscharaktere – je nachdem, ob Schlüsselkräfte oder prekäre ArbeiterInnen, Hoch- oder Niedrigqualifizierte, dauerhaft oder befristet Beschäftigte benötigt wurden. Die Spaltung der Arbeitsmärkte schlug sich auch in der Anpassung der Produkte an individuelle Bedürfnisse nieder. Maßschneiderung ergab sich in der Produktion aus den Möglichkeiten der Digitalisierung, die Losgröße zu senken. Unter Losgröße versteht man in der Betriebswirtschaftslehre die Menge der Produkte, die die Stufen eines Fertigungsprozesses in einer Serie durchlaufen.

Anders als mit der großen Maschinerie lassen sich auf Basis kybernetischer Steuerung und Vernetzung kleine Serien kostengünstig herstellen. So kann die Vielfalt der Produkte gesteigert bzw. die Produkte an sozial und kulturell differenzierte Nachfrage angepasst werden. Umsetzbar wurde diese Anpassung erst, sobald die Produktwerbung sich gezielten Charakteren zuwenden und aus ihrem Such- und Kaufverhalten Rückschlüsse für die Produkt- und Designentwicklung ziehen konnte. Werbung verwandelte sich von Produktinformation, die sich an ein allgemeines Publikum wandte, zur Platzierung von Information entsprechend der Signale, die die UserInnen der Kommunikationsdienste senden, und die ihnen als potenzielle KäuferInnen gezielt auf ihre mobilen Endgeräte übermittelt werden.

Dementsprechend haben Körper im kybernetischen Zeitalter zwei neue Aufgaben. Sie sind erstens der Ursprung der Verhaltensdaten, die in digitalen Anwendungen übermittelt werden. Aus den hinterlassenen Spuren lassen sich – zugeschnitten auf die jeweilige Kaufkraft – Wünsche, Begierden, Erwartungen, Konsumverhalten und Qualitätsansprüche ablesen. Gleichzeitig geht es darum, die Körper entlang der Erfordernisse des Marktes zu gestalten. Körper werden dabei zweitens in einem bisher nie da gewesenen Maße zum Objekt der Bearbeitung. Die Techniken knüpfen an vorhandene Formen der Körper-, Hygiene- und Gesundheitspflege an. Dabei verwandeln sie die alten Standards der Medikalisierung und Körperpflege, die sich an die genormte Nachfrage der Industriegesellschaft wandte, in neue Standards für den maßgeschneiderten Menschen. Der Schlüssel zum Erfolg von Biohealth-Konzepten ist die Verfügbarkeit von Daten, die über die individuelle sowie die ubiquitäre Nutzung des Internet in immer größerer Menge geschaffen werden.

Aus: Andrea Komlosy, Zeitenwende. Corona, Big Data und die kybernetische Zukunft. Wien 2022, Promedia Verlag.


[«1] Foucault Michel (2004): Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II. Vorlesungen am Collège de France 1978–1979, Frankfurt/Main.

[«2] Foucault Michel (2016): Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt/Main.

[«3] Stronegger Willibald J. (2020): Zwischen übersteigerter und fehlender Solidarität. Die Covid-19-Pandemie aus biopolitischer Perspektive nach Foucault, in: Kröll Wolfgang u.a. Hg.: Die Corona-Pandemie. Ethische, gesellschaftliche und theologische Reflexionen einer Krise. Baden-Baden, S. 213-235.

[«4] Foucault, zit. in: Stronegger 2020, S. 223.

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