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Titel: War Helmut Schmidt ein Diktator?
Datum: 4. Januar 2023 um 9:17 Uhr
Rubrik: Bundesregierung, einzelne Politiker/Personen der Zeitgeschichte, Innere Sicherheit
Verantwortlich: Albrecht Müller
Einigen Leserinnen und Lesern der NachDenkSeiten ist aufgefallen, dass ein zweiteiliger NDS-Artikel von Wolf Wetzel mit dem Titel „Was ist mit der faschistischen Gefahr?“ vorübergehend nicht abrufbar war. Einige Einlassungen des Autors wie die Feststellung im Einleitungstext, wir hätten 1976/1977 ff. in einer „Kanzlerdiktatur“ gelebt, sind so grotesk, dass ich die Einstellung dieser Texte infrage stellte. Wie und warum ein solcher Text auf den NachDenkSeiten eingestellt wurde, war während der Feiertage zu klären nicht möglich. Das habe ich nachgeholt. Die Texte sind wieder abrufbar (Teil 1 und Teil 2) und werden hiermit ergänzt um die folgende Anmerkung. Albrecht Müller.
In den Jahren, über die der Autor Wetzel schreibt, war ich Leiter der Planungsabteilung im Bundeskanzleramt, also Teil der vom Autor ausgemachten „Kanzlerdiktatur“. Es gab durchaus gute Gründe, Helmut Schmidt und seine Politik kritisch zu begleiten. Aber als Diktator konnte man ihn selbst in der bleiernen Zeit des Umgangs mit dem RAF-Terrorismus nicht ausmachen. Deshalb hielt ich die Einführung zu den beiden Texten von Wolf Wetzel nicht nur für eine persönliche Zumutung, sondern schlicht für falsch. Weil einige Leserinnen und Leser nach dem Verbleib der Texte gefragt haben, sind sie wieder abrufbar.
Weil die Bewertung jener Zeit und des Verhaltens von Bundeskanzler Schmidt und seiner Regierung nicht mir und damit einem Mitarbeiter im Kanzleramt allein überlassen werden sollte, habe ich einen Zeitgenossen gebeten, seine Erinnerung und Bewertung jener Zeit aufzuschreiben. Das hat er, Axel Raulfs, freundlicherweise getan. Hier sind seine Anmerkungen:
„Ich habe den Text (von Wolf Wetzel) nun gelesen, und insgesamt ist vieles, finde ich, richtig oder zumindest diskussionswürdig beschrieben, wenn auch meist unnötig dramatisiert und oberflächlich. Nur von “Kanzlerdiktatur” mit Hinweis auf den Krisenstab zu sprechen, ist schlicht falsch und böswillig. Der Krisenstab zur Koordinierung von Maßnahmen gegen die RAF war nicht nur ein Gremium zur Beratung des Kanzlers, der sich in der Tat letztlich für eine Lösung entscheiden musste (manche davon brutal bitter, wie bei Schleyer), der war vor allem die richtige Antwort auf das Versagen in München 1972: Alle Sicherheitsexperten, Fraktionsvorsitzende und Fachleute aus den Ministerien und Externe bei Bedarf (etwa Bundesländer, Bahn oder Lufthansa) an einem Tisch, an dem alle Fragen, Probleme und Vorgehenskonzepte professionell tief, gründlich besprochen und in Kenntnis aller Faktoren abgewogen wurden – und in den zahlreichen besten Fällen zu richtigen Entscheidungen führten. Das ist das genaue Gegenteil von Diktatur, der Krisenstab von damals war eine sinnvolle demokratische Weise, eben nicht nur einsam zu entscheiden, sondern den hier verfügbaren Sachverstand umfassend abzuschöpfen. Helmut Schmidt, das ist historisch belegt (auch durch Zeitzeugen wie Klaus Bölling), hat diese Beratung nicht nur gewollt, sondern auch gebraucht und nachweislich Skrupel bei etlichen Konsequenzen geäußert und gehabt.“
Es sind noch einige ergänzende Anmerkungen zum Einstiegstext des Autors Wolf Wetzel nötig.
Ich zitiere dazu aus seinem Text und kommentiere:
Was ist mit der faschistischen Gefahr? (1/2)
…
Im welchem Staat leben wir, auf welchem Weg befinden wir uns heute?
Die Älteren unter uns haben den „Deutschen Herbst“ 1976/7 mit/erlebt, als mithilfe einer „Kanzlerdiktatur“ (in diesem Fall war es ein „Krisenstab“, der parteiübergreifend und oppositionslos den Ausnahmezustand dirigierte) angeblich die Demokratie (gegen die RAF und „Sympathisanten des Terrorismus“) verteidigt wurde, indem man sie an wesentlichen Stellen suspendierte.
Dazu die Anmerkung:
Schon am 3. Oktober, bei der Bundestagswahl 1976, verlor die Partei des „Kanzlerdiktators“ 3,2 Prozent der Stimmen. Bei der nächsten Wahl im Herbst 1980 erreichte sie dann eine unwesentliche Verbesserung. Schon zwei Jahre später, im September 1982, war die Koalition am Ende. – So schwach war der Kanzlerdiktator, er gewann Wahlen nicht richtig und konnte auch seine Gegner in der Koalition, namentlich Otto Graf Lambsdorff von der FDP, nicht kaltstellen. Ja, im Gegenteil, er hat sogar zugelassen, dass dieser Wirtschaftsminister mithilfe eines Staatssekretärs mit dem CDU-Parteibuch, mithilfe von Hans Tietmeyer, ein Abschiedspapier, das sogenannte „Lambsdorff-Papier“ erarbeitet und veröffentlicht hat. Ein toller Diktator. Machtlos!
Autor Wetzel berichtet mit Blick auf jene Zeit von einem „oppositionslosen“ Ausnahmezustand! Wer so etwas behauptet, schaut nicht richtig hin.
Beachten sollte man auch noch, wer so alles in der „Kanzlerdiktatur“ mitgewirkt und Hilfestellung geleistet hat: Willy Brandt zum Beispiel als SPD-Vorsitzender, Herbert Wehner als SPD-Fraktionsvorsitzender, Hans-Dietrich Genscher als Außenminister, Andreas von Bülow als Parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium, Volker Hauff als Bundesminister für Forschung und Technologie, Hans Matthöfer als Forschungsminister und Finanzminister bei Schmidt, Walter Scheel als Bundespräsident, Gunter Huonker war sogar Staatsminister im Bundeskanzleramt – lauter Trottel, die sich der „Kanzlerdiktatur“ gebeugt haben.
Autor Wetzel schreibt weiter:
Mit der Zerschlagung der RAF, mit der massiven Verfolgung linker Opposition ist die Demokratie nicht stärker worden.
Welche linke Opposition ist damals massiv verfolgt worden? Hier sollte der Autor wenigstens andeuten, wen er meint. Stattdessen schreibt er:
Im Gegenteil: An Fakten, die eine weitere Schwächung und Suspendierung von Grundrechten gegenüber dem Staat markieren, an Fakten, die eine innere Aufrüstung gegen jede Opposition belegen, die mehr will, als Unrecht öffentlich anzuzeigen, fehlt es nicht.
Welche Grundrechte sind suspendiert worden? Wie sah damals die innere Aufrüstung gegen „jede Opposition“ aus?
Ob es sich dabei um die umfassende elektronische Überwachung handelt, die weder eingeschränkt noch kontrolliert werden soll, oder um den massiven Ausbau der Polizei mit all dem Abschreckungspotenzial, das damit einhergeht. Wer will heute noch ‚friedlich‘ demonstrieren, wenn ihn paramilitärische Polizeieinheiten begleiten oder besser gesagt eskortieren?
Diese Beschreibung der Aufrüstung der Polizei mag für heute zutreffen. Sie ist so nicht damals entstanden und hat jedenfalls nicht zur Konsequenz gehabt, dass nicht mehr demonstriert wurde. Komisch, trotz behauptetem Abschreckungspotenzial fanden nur vier Jahre später, also 1981 und damit in der Amtszeit der „Kanzlerdiktatur“ von Helmut Schmidt, auf dem Bonner Hofgarten zwei der größten Demonstrationen gegen die amtliche Politik statt:
„Rund 300.000 Menschen demonstrieren am 10. Oktober 1981 in Bonn gegen den NATO-Doppelbeschluss. Es ist die bis dahin größte Demonstration in der Geschichte. Friedensdemo 1981 in Bonn“ – Quelle: SWR
Ein knappes Jahr später kamen noch mehr Menschen zur Demonstration nach Bonn:
10.6.1982
Bonner Friedensdemo gegen den NATO-Gipfel
500.000 Menschen demonstrieren gegen NATO-Doppelbeschluss
Unter dem Motto “Aufstehn! Für den Frieden” gehen am 10. Juni 1982 in Bonn eine halbe Millionen Menschen auf die Straße und protestieren gegen den NATO-Doppelbeschluss.
Es ist die wohl berühmteste von mehreren großen Friedensdemonstrationen in der Geschichte der Bundesrepublik. … Quelle: SWR
Zur Kennzeichnung der Atmosphäre noch der Hinweis auf eine private Erfahrung: Am Abend der Demonstration im Hofgarten kamen einige befreundete Demonstranten und Journalisten, darunter der Leiter des Studios des WDR, Friedrich Nowottny, bei uns in Bonn zur Feier des Demonstrationserfolges gegen den NATO-Doppelbeschluss zusammen. Dies alles in der Zeit der Kanzlerschaft Helmut Schmidts. Von Diktatur-Atmosphäre keine Spur – anders übrigens als zur Zeit der Ermordung Benno Ohnesorgs durch einen Berliner Polizisten im Jahre 1967.
Fazit: Auch 40 Jahre später sollte man die Geschichte nicht umzuschreiben versuchen.
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