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NachDenkSeiten – Die kritische Website
Titel: 77 Jahre UNO – kritische Gedanken von Hans von Sponeck
Datum: 2. Januar 2023 um 11:41 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Friedenspolitik, Gedenktage/Jahrestage, Parteien und Verbände, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen
Verantwortlich: Redaktion
Im Oktober 1947 trat die Charta der Vereinten Nationen in Kraft. Das ist Grund zum Feiern, aber auch Anlass für Kritik, wird die UNO doch mehr und mehr für nationale und imperiale Eigeninteressen instrumentalisiert. Dazu hat der ehemalige deutsche UN-Diplomat Hans von Sponeck beim Kassler Friedensratschlag eine bemerkenswerte Rede gehalten. Das Thema: „UNO befreien, Missbrauch internationaler Organisationen verhindern“. Die NachDenkSeiten sind stolz, ihren Lesern zum Jahresbeginn das Manuskript dieser Rede zur Lektüre vorzustellen.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Kassler Friedensratschlag – 2022
„UNO befreien, Missbrauch internationaler Organisationen verhindern“
Zwei Themen, ein Problem!
Hierzu Gedanken eines Menschen, der die UNO erlebt und gelebt hat und meint, dass unsere Welt ohne Multilateralismus keine lebenswürdige Zukunft hat.
Es geht hier nicht nur um ‚Reformen‘, sowieso ein schwaches Wort im Hinblick auf das katastrophale geopolitische Chaos, dem die Bürger heute weltweit ausgesetzt sind. Es geht um weit mehr, um sehr viel mehr.
Mensch und Natur sind von Krankheit befallen. Wir besitzen die ‘Medikamente’, die Globalen Gemeinschaftsgüter, für eine Heilung, aber benutzen diese nicht. In den Jahren ist viel wichtiges Menschenrecht geschaffen worden. Die Verpflichtung für die Anwendung dieser Rechte existiert daher, um Frieden, menschliche Sicherheit und nachhaltige Entwicklung für alle zu ermöglichen. Anwendung würde bedeuten, dass unsere Welt genesen könnte.
Ohne einen Multilateralismus, wie er in der UNO-Charta vorgegeben ist, wird dies nicht gehen. Stalin, Roosevelt und Churchill, ein Kommunist aus dem Osten und zwei Kapitalisten aus dem Westen, hatten sich 1945 auf der Krim über die Schaffung der UNO geeinigt und der Welt eine Gemeinschaft versprochen. Das konnte nicht gutgehen. Zu groß waren die ideologische Kluft und die unterschiedlichen nationalen geopolitischen Erwartungen. Es folgte der Kalte Krieg, der heute noch kälter geworden ist.
Viel gäbe es hier zu erläutern. Die kurze Zeit, die ich habe, muss ich aber nutzen für eine Bestandsaufnahme der multilateralen Realität im 21. Jahrhundert und natürlich für entsprechende Hinweise auf Erneuerung.
Aus 51 UNO-Gründungsstaaten 1945 sind heute 193 UNO-Mitgliedstaaten geworden. Die UNO ist aber weiterhin macht-politisch eine west-zentrische Organisation geblieben, so wie die zwei Kapitalisten Churchill und Roosevelt es vor 77 Jahren haben wollten:
Von den fünf permanenten Mitgliedern des Sicherheitsrates kommen drei (!) aus dem Westen; Afrika und Lateinamerika haben keine Sitze, Asien mit China nur einen. Das politische Hauptquartier der UNO befindet sich in New York; die UNO-Sonderorganisationen, -Fonds und -Programme haben ihre Zentralen, ohne Ausnahme, im Westen; die Weltbank und der Internationale Währungsfonds, zwei UNO-Einrichtungen mit Sitz in Washington, unterliegen deutlich westlichen Interessen.
Sie werden die Gewichtung einer solchen Darstellung infrage stellen. So ging es mir auch, bis ich über viele Monate hinweg die jährlichen Abstimmungsergebnisse der UNO-Generalversammlung untersucht hatte. Was ich herausfand, ergab ein erschütterndes Zeugnis der Machtlosigkeit der Mehrheit der Staaten. Hauptsächlich westliche Länder, vor allem die Vereinigten Staaten mit ihrem erzwungenen neo-liberalen Unilateralismus, haben Jahr für Jahr systematisch jeglichen Versuch, Menschenrechte und die menschliche Sicherheit für alle, wo immer sie leben, versucht zu unterdrücken.
Vom Kernwaffenstopp-Vertrag und atomfreien Zonen bis hin zur Entkolonialisierung von Territorien in Asien, Afrika und Lateinamerika und der Einführung einer neuen Weltwirtschaftordnung mit gleichen Wettbewerbsbedingungen für Industrie- und Entwicklungsländer wurden weitgehend vom Westen, oder korrekter von den USA, verhindert. Boykottiert! Die USA und Somalia sind übrigens die einzigen Länder, die bis heute die UNO-Kinderrechtskonvention von 1989 nicht ratifiziert haben; Ähnliches gilt für die UNO-Frauenrechtskonvention von 1979, die ebenfalls bis heute von den USA abgelehnt wird.
Alle (!) rechtlichen Verpflichtungen der UNO-Charta mit ihren 111 Artikeln werden immer wieder von den Ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrates skrupelos und straflos ignoriert oder gebrochen. Also genau von den fünf Staaten, denen die UNO-Generalversammlung die Hauptverantwortung für Weltfrieden und Weltwohlergehen anvertraut hat. Internationales Recht gilt also nur für die ‚Anderen‘! An Beweisen der UNO-Machtlosigkeit fehlt es nicht. Die Kriege in Jugoslawien, im Irak, Syrien, Afghanistan, Libyen und natürlich in der Ukraine sind die entsetzlichen Zeugen dieser Doppelstandards. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag ist bisher nur für diese ‚Anderen‘ 188 UNO-Mitgliedsstaaten zuständig gewesen! Saddam Hussein wurde mit Recht verurteilt, George Bush und Tony Blair bleiben mit Unrecht straflos!
Es siegt weiterhin das Recht der Macht und nicht die Macht des Rechts! Es überrascht daher nicht, dass das 1990er Versprechen von Paris für ein europäisches Friedensprojekt – wahrlich eine Sternstunde internationaler Beziehungen – schnell zu einem menschenverachtenden andauernden Kriegsprojekt verkümmerte. Die gegenwärtigen Versuche der NATO, die Öffentlichkeit für westliche Ukraine-Politik zu beeinflussen, übersieht vollkommen, dass sie damit hilft, die Zivilgesellschaft aufzurütteln und die Macht unseres Widerstands zu stärken. Aber: Die Voraussetzung für wirklichen dauerhaften Erfolg der Friedensbewegungen, in Deutschland und überall, bleibt: Wir müssen zusammenrücken, müssen uns bündeln und dies mit Mut, innerer Überzeugung und ehrlicher Menschlichkeit.
Der fatale und unangemessene westliche Führungsanspruch (Westen: 8 Prozent der Weltbevölkerung!) in der Weltorganisation und das damit verbundene schwerwiegende Joch für die Friedensarbeit der UNO ist die Hauptursache für den jämmerlichen Zustand des UNO-Sicherheitsrates und bleibt die Hauptherausforderung für gefährlich überfällige Reformen der UNO. Meine 32 Jahre der Mitarbeit in den politisch so unvereinten Nationen und die Zeit des Nachdenkens danach geben mir das Selbstvertrauen für diese schwerwiegende und anklagende Aussage.
Der Traum des Möglichen für eine friedlichere und gerechtere Welt ist in den 77 Jahren der UNO zu einem tragischen Albtraum des scheinbar Unmöglichen geworden.
Was muss geschehen, um das fatale Joch von der UNO zu entfernen? Darüber Konkretes, sobald ich das zweite Thema, den stattfindenden Missbrauch internationaler Organisationen, durch ein akutes Beispiel kurz angeschnitten habe.
Die Welt hat nicht vergessen, wie im Frühjahr 2003 die USA im UNO-Sicherheitsrat ihr gefährliches Spiel mit der Unwahrheit über angebliche Massenvernichtungswaffen im Irak (die es schon lange gar nicht mehr gab!) zur Schau getragen haben, als Vorbereitung auf den völkerrechtswidrigen anglo-amerikanischen Krieg gegen das Land.
Weniger bekannt, aber ähnlich gefährlich, sind Falschmeldungen der OVCW, der Organisation für das Verbot von Chemiewaffen in Den Haag, über den angeblichen Einsatz von chemischen Waffen am 7. April 2018 im syrischen Duma. Ein daraufhin von der OVCW entsandtes Expertenteam kam zu dem Schluss, dass die 43 Menschen, die bei diesem Angriff ums Leben kamen, ihren Tod nicht durch chemische Waffen gefunden hatten.
Anstelle ihrer wissenschaftlichen Erkenntnisse wurde von dem OVCW-Management ein Bericht veröffentlicht, der das Gegenteil beweisen wollte, nämlich dass chemische Waffen doch benutzt worden waren. Damit sollte der am 18. April 2018 stattgefundene Angriff in Syrien durch amerikanische, englische und französische Luftwaffen legitimiert werden.
Seither sind zwei OVCW-Wissenschaftler, die für die Untersuchung vor Ort mitverantwortlich waren, aus Protest zurückgetreten, 28 international bekannte Personen, unter ihnen vier weitere OVCW-Wissenschaftler und der erste General-Direktor der OVCW, José Bustani, haben in einer öffentlichen Erklärung ihre Besorgnis zu diesem sicherheitspolitisch so ernsten Zwischenfall und dem offensichtlichen Missbrauch einer internationalen Organisation zum Ausdruck gebracht. Dieser so ernste Vorfall ist von den Medien bei uns und im westlichen Ausland mehr oder weniger ignoriert worden.
2021 hatte sich eine kleine Gruppe von vier Personen, zu der ich gehöre, gebildet (https://berlingroup21.org), die mit Hilfe von Experten und Parlamentariern eine 130-seitige Expertise erstellt hat, die Beweise liefert, dass nicht nur die Frage des Einsatzes von chemischen Waffen, sondern auch der Toxikologie und der Ballistik von der OVCW in Duma politisiert und fälschlich dargestellt worden sind. Dieser Bericht wird in Kürze mit Unterstützung einer Gruppe von Abgeordneten einem Parlament in Europa und der Öffentlichkeit vorgelegt werden mit der Forderung, dass alle OVCW-Wissenschaftler, die an der OVCW-Duma-Untersuchung mitgearbeitet haben, eine neue Untersuchung vornehmen und Falschdarsteller zur Rechenschaft gezogen werden. Es geht hier nicht um Ideologie oder die Verteidigung der syrischen Regierung, die anderswo im Land in der Tat chemische Waffen eingesetzt hat. Es geht darum, Wahrheit, Sicherheit und die Integrität der OVCW, einer wichtigen internationalen Einrichtung, zu verteidigen.
Hierzu noch zwei weitere Bemerkungen:
Die Liste der rechtlichen, strukturellen und inhaltlichen Anpassungen der UNO an die überlebenswichtigen Belange unserer Welt im 21. Jahrhundert ist eine lange.
Ich möchte erinnern an die in der UNO-Charta vorgeschlagene Konferenz aller Mitgliedsstaaten der UNO (Art.109), die bereits 1955 hätte stattfinden sollen, um über notwendige Reformen zu entscheiden. Gefordert ist hier politischer Wille der Generalversammlung, nach vielen Jahren der Nachlässigkeit, eine solch wichtige Zusammenkunft zu beschließen.
Die UNO-Klimakonferenzen geben einen Vorgeschmack, wie schwierig es sein wird, sich auf wirkungsvolle Reformen zu einigen. Es stehen so wichtige Themen wie die Integration von nicht-staatlichen Organisationen und Jugendlichen in die Arbeit der UNO an; oder die Einführung der Rechenschaftsverpflichtung von Personen und Einrichtungen; die Gewährleistung des internationalen Charakters und die Unabhängigkeit der UNO; die zukünftige Rolle des UNO-Generalsekretärs und die Auswahl von Bediensteten für den UNO-Dienst und vieles mehr.
Was folgt, ist eine enge Auswahl von Erneuerungen, die mir besonders akut erscheinen:
Dieses Recht der Generalversammlung muss erheblich erweitert werden!
Die Zusammensetzung der Ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat hat sich in 77 Jahren nicht verändert und muss dringend angepasst werden, damit Afrika, Lateinamerika und Asien angemessen vertreten sind. Das bestehende Vetorecht hat immer wieder friedensbildende Maßnahmen verhindert und verlangt eine grundlegende Reform, um Mehrheitsbeschlüsse zu ermöglichen, um damit Alleingänge aus geopolitischen Interessen einzelner Mitglieder endgültig zu verhindern. An konstruktiven Vorschlägen mangelt es nicht.
Dieser UNO-Gerichtshof kann nur dann wirksam werden, wenn er das Mandat für verpflichtende Rechtssprechung bekommt und damit vollstreckbare Entscheidungen treffen kann.
Das alte Thema: Die Welt hat mehr als genug Geld. Die Neu-Verteilung dieses Geldes sollte als eine nicht verhandelbare Voraussetzung für menschliche Sicherheit, nachhaltige Entwicklung und eine UNO als globale Durchführungsorganisation vorgenommen werden.
Abschließend möchte ich Ihnen versichern, dass ich mir voll bewusst bin, dass in der gegenwärtigen Welt des Staatszentrismus und des geopolitischen ‚Rechts der Ausnahme‘ weder der politische Wille, geschweige denn der ethische Ehrgeiz existieren, um die Umsetzung der hier gemachten UNO-Reform-Vorschläge zu ermöglichen.
Defätismus? Dies wäre wahrlich eine unverantwortliche Reaktion.
Ich glaube an das Potential der Kraft der aktiven Zivilgesellschaft bei uns und weltweit. Die Dringlichkeit der Mega-Krisen wie der Klimawandel oder die Ungleichheit der Lebenschancen und die Angst vor dem möglichen Einsatz von Nuklearwaffen in Krisensituationen werden uns, die Zivilgesellschaft, und viele Regierungen zusammenführen, um im besten Kant’schen Sinne den Mut für die eigene Vernunft zu entfalten, um damit u.a. eine UNO aufzubauen, die mit politischer Ehrlichkeit und Rechenschaftsverpflichtung eine Gemeinschaft werden kann, der alle angehören.
Hans-C. von Sponeck
Kassel,
11. Dezember 2022
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