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Titel: Gleichheit muss endlich ein großes politisches Thema werden

Datum: 1. Januar 2023 um 11:45 Uhr
Rubrik: Aufbau Gegenöffentlichkeit, Rezensionen, Soziale Gerechtigkeit, Ungleichheit, Armut, Reichtum
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Formal betrachtet ist Deutschland ein demokratisches Land der Gleichen: Wir alle haben die gleichen politischen Rechte. Vor dem Gesetz und Richter sind wir gleich. Jeder kann den Beruf wählen, den er ausüben möchte. Aber die gesellschaftliche Wirklichkeit ist ganz anders. Denn formale Gleichheit schafft keine echte Gleichheit. Die kann sich erst entfalten, wenn auch die materielle Ungleichheit abgeschafft wird. Denn krasse soziale Ungleichheit schafft diverse Probleme, vor allem Armut, Unfreiheit und ein schlechteres Leben. Aus diesem Grund müsste „Gleichheit“ eigentlich ein großes politisches Thema sein. Ist es aber nicht. Um daran etwas zu ändern, stellt unser Autor Udo Brandes das neue Buch des spanischen Soziologen César Rendueles vor. Es heißt: „Gegen Chancengleichheit. Ein egalitaristisches Pamphlet“.

Rendueles Diagnose

„Die allgemeine Ungleichheit unserer Gesellschaft ist ein kollektives Trauma, ein gesellschaftlicher Riss, der sich auf unsere Fähigkeit auswirkt, Beziehungen zu anderen anzuknüpfen, und der erschreckende politische und persönliche Folgen hat. Trotzdem nimmt die materielle Gleichheit in politischen Projekten der Gegenwart lediglich eine marginale oder zumindest nicht besonders zentrale Stellung ein. Nur zwei Aspekte des egalitären Projektes sind gesellschaftlich mehr oder weniger akzeptiert: die Chancengleichheit sowie die moralische Empörung über extreme Ungleichheit und Armut“ (S. 12).

Man kann Rendueles Diagnose nur zustimmen. Denn die immer wieder gern als politisches Programm postulierte „Chancengleichheit“ ist in Wahrheit ein ideologischer Trick der Neoliberalen. Denn echte Chancengleichheit kann es nur geben, wenn es auch in den ökonomischen Verhältnissen wenigstens annäherungsweise Gleichheit gibt. Aber dagegen gibt es massiven politischen Widerstand. Dazu ein aktuelles Beispiel: FDP und die CDU wollen höhere Freibeträge für die Erbschaftssteuer. Die taz hat aus diesem Anlass ein Interview mit dem Finanzexperten Gerhard Schick, Vorstand der NGO „Finanzwende“, geführt. Der antwortet in diesem Zusammenhang unter anderem Folgendes:

„Wissen Sie, was man thematisieren müsste? Wenn jemand 300 Wohnungen erbt, wird das als Betrieb gewertet und praktisch steuerfrei übertragen. Wenn jemand fünf Wohnungen erbt, muss er es versteuern. Das kann nicht gerecht sein. Um diese Debatte mogelt sich die FDP (die vom Interviewer zitiert worden war; UB) mit solchen Äußerungen herum.“ (Quelle hier)

Ganz ähnlich sieht es bei der Vererbung großer Unternehmen aus. Würde eine einzelne Person beispielsweise das ALDI-Imperium erben, bräuchte diese keine Erbschaftssteuern zahlen. Dies wird von den Lobbyisten in CDU und FDP mit dem Argument verteidigt, dass bei einer angemessenen Erbschaftssteuer auf Betriebsvermögen Arbeitsplätze gefährdet seien. Dazu meint der Finanzexperte Schick im selben Interview der taz:

„Dieses Argument ist aber in den Bereich der Fake News einzuordnen. Es gibt ein Gutachten des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundesfinanzministerium, das zu einem anderen Ergebnis kommt. Bei einer Erbschaftsteuer für Betriebsvermögen gibt es auch Stundungsregelungen. In Deutschland ist noch kein einziger Betrieb durch die Erbschaftsteuer ins Schlingern gekommen. Das ist ein Scheinargument, um den Leuten Angst zu machen. Die Stiftung Familienunternehmen, wo viele der größten Milliardärsfamilien dieses Landes organisiert sind, hat systematisch versucht, Angst zu schüren, dass bei einer sinnvollen Erbschaftsbesteuerung Arbeitsplätze verloren gehen. Und dieses Argument ist weitverbreitet in unserem Land, ist aber trotzdem falsch.“

Ein Rechenbeispiel veranschaulicht den Skandal, der bei uns praktisch kein Thema ist

Ich denke, schon diese beiden Beispiele machen eines klar: Das Thema „Gleichheit“ müsste in Deutschland eigentlich ein großes politisches Thema sein, über das vehement gestritten wird. Ist es aber leider nicht. Zumindest was die ökonomische Gleichheit angeht. Wie pervertiert die gesellschaftlichen Verhältnisse dadurch in westlichen kapitalistischen Ländern sind, macht Rendueles mit einem Rechenbeispiel deutlich:

„Eine Million Euro ist für die meisten Menschen in westlichen Ländern eine enorme Menge Geld. (…) Angenommen, jemand würde einen Euro pro Sekunde verdienen – wie lange müsste er oder sie arbeiten, um eine solche Summe anzusparen? Ein Euro pro Sekunde, macht 60 Euro pro Minute, 3600 Euro pro Stunde und eine Million in 12 Tagen… Doch um Milliardär zu werden, würde diese Person 30 Jahre benötigen. 2018 besaß Jeff Bezos, der (damals; UB) reichste Mensch der Welt, gut 100 Milliarden Dollar. Würde er rund um die Uhr arbeiten, bräuchte er bei einem Verdienst von einem Dollar pro Sekunde mehr als 3000 Jahre, um sein Vermögen anzuhäufen. Eine Person, die ihr Gehalt in Höhe von 1200 Euro monatlich – 2017 das mittlere Einkommen in Spanien, mit Sonderzahlungen etwa 17.000 Euro im Jahr – vollständig sparen würde, hätte in fünf Millionen Jahren so viel Geld wie Bezos“. (S.19-20)

Ich glaube, weitere Kommentare, dass Gleichheit ein wichtiges politisches Thema ist, erübrigen sich angesichts dessen. Übrigens: Jeff Bezos’ Vermögen ist inzwischen (2022) auf 111,8 Milliarden Dollar angewachsen. Die Wirtschaftswoche schreibt mit Bezug auf die Rankingliste der reichsten Menschen der Welt des Magazin „Forbes“ in Bezug auf ihn Folgendes:

„Mit einem Vermögen von 111,8 Milliarden Dollar ist der Amazon-Gründer Jeff Bezos derzeit der viertreichste Mensch der Welt. (…) Bezos profitierte während der Corona-Krise vom boomenden Online-Handel. Im Zuge der Korrektur an den Börsen hat die Amazon-Aktie aber deutlich an Wert verloren. Er war der erste Mensch überhaupt, der ein Vermögen von mehr als 200 Milliarden US-Dollar besaß, verlor aber im Vergleich zum vergangenen Jahr deutlich.“ (Quelle: siehe hier)

„Wenn Sie den amerikanischen Traum verwirklichen wollen, sollten Sie nach Dänemark ziehen“

Rendueles nimmt in seinem Buch auch Bezug auf die berühmte Studie der Epidemiologen Kate Pickett und Richard G. Wilkinson („Gleichheit ist Glück: Warum gerechte Gesellschaften für alle besser sind“). Die hatten anhand statistischer Daten akribisch nachgewiesen, dass die durch soziale Ungleichheit bedingte Armut nicht nur schädliche Folgen für die direkt Betroffenen hat, sondern dass Ungleichheit an sich negative Folgen für die Gesellschaft und den einzelnen Menschen hat:

„In den Gesellschaften mit den größten Einkommensunterschieden sind die Gesundheitsdaten schlechter, die Lebenserwartung ist niedriger, die Kindersterblichkeit höher, psychische Erkrankungen, Übergewicht und der Konsum illegaler Drogen sind verbreiteter.“ (S.65)

Und dies gilt, das ist ein wichtiges Ergebnis aus der Studie von Pickett und Wilkinson, keineswegs nur für die direkt von Armut Betroffenen. Auch die reichen Eliten in den von extremer sozialer Ungleichheit geprägten Ländern sind weniger gesund als die vergleichbaren Gruppen aus egalitären Ländern. Rendueles verweist in diesem Zusammenhang auf die Oscar- und Nobelpreisgewinnerstudie, die ich aus einem anderen Buch kenne:

„Tatsächlich haben selbst unter den Eliten scheinbar triviale Prestigeunterschiede einen Einfluss auf die Lebenserwartung: Die Schauspieler und Schauspielerinnen, die einen Oscar gewinnen, leben im Durchschnitt drei Jahre länger als Nominierte, die den Preis nicht bekommen haben“ (S. 65).

Gleiches gilt nach den Studien von Pickett und Wilkinson auch für die sozialen Beziehungen in hochgradig ungleichen Gesellschaften:

„In den ungleichsten Gesellschaften gibt es mehr Gewalt, mehr Gefängnisinsassen, weniger Bereitschaft, sich in der Gemeinschaft zu engagieren, mehr Schulabbrecher, mehr schwangere Teenager und sehr viel weniger soziale Mobilität. In den Worten von Pickett und Wilkinson: ‚Wenn Sie den amerikanischen Traum verwirklichen wollen, sollten Sie nach Dänemark ziehen‘.“ (S. 65-66)

Gleichheit bedeutet das bessere Leben für alle

Ich denke, man kann deshalb Rendueles nur zustimmen, wenn er schreibt, dass in einer egalitären Gesellschaft selbst die „Verlierer“ ein besseres Leben hätten:

„Emanzipatorische Politik kann nicht auf den Konflikt zwischen individuellen Interessen reduziert werden. Ich habe zum Beispiel keinen Zweifel daran, dass Männer und Frauen, die als Paar eine radikal egalitäre Beziehung pflegen, gemeinsam ein besseres Leben führen als Menschen in traditionellen patriarchalischen Ehen. Aber diese gemeinsame Verbesserung des Lebens kann man nicht aus individuellen Zugewinnen der beiden Partner errechnen. Im Gegenteil: Aus einer individualistischen Perspektive verlieren die Männer Privilegien. Wir machen egalitäre Politik, wenn wir die Logik von Verlust und Gewinn überwinden und es uns gelingt, kostspielige Kompromisse in unsere ethischen Ideale eines guten und freien Lebens zu integrieren. In diesem Sinne sehen die meisten Menschen das Verbot der Sklaverei heute nicht als Opfer oder Verlust eines legitimen Privilegs. Würde morgen auf der anderen Straßenseite ein Sklavenladen eröffnen, würden wir uns nicht anstellen, um einen zu ergattern. Die Abscheu angesichts der Option, Eigentümer anderer Menschen zu sein, ist Bestandteil dessen, was uns als Person ausmacht und was wir sein wollen.“ (S. 86-87)

Dazu eine Frage: Ist es nicht genauso verabscheuungswürdig, wenn einzelne Personen wie Jeff Bezos gigantische Reichtümer auftürmen und dementsprechend auch gigantische Ressourcen verbrauchen? Ich meine ja. Im politischen Alltag unseres Landes spielt das Thema allerdings de facto so gut wie keine Rolle.

Rendueles Lösungsansatz

In Kapitel fünf beschäftigt sich Renduelez mit der Frage, wie man materielle Gleichheit herstellen kann. Er diskutiert dazu verschiedene Modelle und Ansätze wie z. B. das Bedingungslose Grundeinkommen, das ihn nicht überzeugt. Er kritisiert vor allem die Fetischisierung des Markt- und Wettbewerbsprinzip und belegt sehr schön, dass die ehemaligen kommunistischen Planwirtschaften in Polen, der Tschechoslowakei oder Ungarn in etwa so monopolisiert waren wie die marktwirtschaftlich organisierten USA. In Großbritannien, so Rendueles, kontrollierten zwei Großunternehmen den Markt für Waschmittel, in Polen waren es sieben.

Rendueles Botschaft: Die Planwirtschaft ist besser als ihr Ruf. Dieser schlechte Ruf rühre daher, dass diese lange von Menschen verteidigt worden sei, die die Schwächen der Planwirtschaft ebenso leugneten wie die sowjetischen Verbrechen. De facto habe es in den kommunistischen Planwirtschaften nie eine reine Planwirtschaft gegeben, sondern immer auch eine (meist illegale) Marktwirtschaft. Und umgekehrt gebe es keine reine Marktwirtschaft, was wir im übrigen nicht nur in der Coronapolitik exemplarisch beobachten konnten, sondern auch aktuell wieder. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat die Krankenkassen im Dezember angewiesen, bis zu 50% höhere Preise für dringend benötigte und nicht mehr ausreichend vorhandene Medikamente zu zahlen. Rendueles geht es deshalb darum, die ideologische Marktfetischisierung zu beenden und pragmatisch im Interesse einer gesunden materiellen Gleichheit zu handeln, und nicht mehr so zu tun, als seien Marktwirtschaft und Wettbewerb unabänderliche göttliche Gesetze.

Seine Botschaft für die Herstellung materieller Gleichheit fordert etwas, was wir schon einmal hatten, bevor die neoliberale Wende losging. Also eine Zeit, in der z.B. die Postzustellung nicht nur reibungslos funktionierte (was man heute bei der privatisierten Post nicht mehr behaupten kann), sondern auch der Service wesentlich besser war (mehr Briefkästen, längere Einwurfzeiten bzw. spätere Leerungszeiten, mehr Postämter). Geführt wurde diese Post von einem Ministerium bzw. Ministerialbeamten. Und die übten ihre Leitungstätigkeit aus, obwohl sie „nur“ die normalen Beamtengehälter bekamen. Managergehälter in Millionenhöhe gab es nicht. Und trotzdem funktionierte die Post sehr gut. Deshalb kann man Rendueles nur zustimmen, wenn er meint:

„Die zentrale Planung kommt daher genau dort ins Spiel, wo es um die Versorgung mit homogenen Grundgütern geht, die in Massenfertigung hergestellt werden und zur Sicherung elementarer Rechte unabdingbar sind. Energie, Gesundheit, Transport, Wohnungen, Bildung, Breitband-Internet.“ (S.146)

Wobei man, so habe ich Rendueles verstanden, den Begriff „staatlich“ nicht unbedingt wörtlich nehmen muss. Ich denke, er würde dazu auch Unternehmen rechnen, die öffentlich-rechtlich organisiert sind, also z.B. die kommunal getragene Müllabfuhr, die nicht profitorientiert, sondern nutzen- und kostenorientiert arbeitet. Oder das kommunale Hallenbad, das bezuschusst wird, weil es marktwirtschaftlich nicht finanziert werden könnte. Rendueles ist aber auch nicht pauschal gegen Marktwirtschaft und Wettbewerb. Er will nur nicht, dass die gesamte Gesellschaft marktwirtschaftlich und profitorientiert organisiert wird, weil dies zu genau den desaströsen Verhältnissen führt, die wir jetzt in den Krankenhäusern besichtigen können. Rendueles vertritt also einen altsozialdemokratischen Standpunkt, wie ihn ein Willy Brandt vertreten hätte. Aber der ist ja leider in der „modernen“ SPD nicht mehr sehr beliebt.

Die Verlogenheit der Wettbewerbsideologen

Zum Schluss noch ein, wie ich finde, wichtiges ideologiekritisches Zitat zum Thema Wettbewerb. Rendueles schreibt dazu:

„Den Anhängern des freien Marktes kommt es nicht auf den Wettbewerb an sich an, sondern auf ein Instrument, mit dem man zwischen Verlierern und Gewinnern unterscheiden und letztere belohnen kann. Historisch betrachtet hatten Reiche und Mächtige nie eine sonderliche Vorliebe für den ökonomischen Wettbewerb, es sei denn, er diente dazu, die Macht des Stärkeren durchzusetzen. Wenn sich die Gelegenheit bot, das lästige und teure Zwischenspiel der Konkurrenz zu überspringen und direkt zum Monopol überzugehen, zögerten sie nicht, dies zu tun. Höhepunkt dieser Entwicklung sind die großen IT-Unternehmen der Gegenwart.“ (S. 59)

Resümee

Rendueles hat ein wichtiges und interessantes Buch vorgelegt. Denn das Thema „Gleichheit“ ist in der politischen Diskussion vollkommen unterbelichtet. Er verzichtet weitgehend auf soziologisch-abstrakte Sprache und schreibt anschaulich und unterhaltsam mit Anekdoten, Filmszenen, Zitaten und Beispielen. Ich kann zwar seinen Ausführungen und Ideen nicht in allen Punkten folgen. So halte ich zum Beispiel die Vorstellung, wir Menschen hätten qua Natur eine Neigung zur Gleichheit, für fragwürdig. Wäre es so, dann müsste er nicht dieses Buch schreiben. Was in der Natur des Menschen liegt, bricht auch gegen gesellschaftliche Verbote durch. Das beste Beispiel dafür ist der Sexualtrieb. Trotzdem: Mir hat dieses Buch Freude gemacht und ich empfehle es gern.

César Rendueles: Gegen Chancengleichheit. Ein egalitaristisches Pamphlet, Suhrkamp-Verlag, 329 Seiten, 20 Euro.


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