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Titel: Was ist mit der faschistischen Gefahr? (2/2)
Datum: 27. Dezember 2022 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Erosion der Demokratie, Innen- und Gesellschaftspolitik, Rechte Gefahr
Verantwortlich: Redaktion
Dieser Beitrag versucht, mit dem Wissen der letzten 50 Jahre einen Ausblick zu wagen. Wie steht es um die Demokratie? Wieviel davon bleibt uns? Mit was müssen wir rechnen? Über welche Enttäuschungen müssen wir sprechen? Was müssen wir zusammen tun? Von Wolf Wetzel.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Anmerkung: Dieser Artikel war zwischendurch nicht mehr abrufbar, weil es einer kritischen Anmerkung bedurfte. Diese finden Sie hier.
Lesen Sie auch den ersten Teil.
Die Rolle faschistischer Organisationen
Welche Rolle spielen NSU, combat 18 und andere neonazistische Gruppierungen? Wie ist die Rolle der AfD einzuschätzen? Spielen neofaschistische Organisationen und Parteien in Deutschland eine staatstragende Rolle?
Um sich Antworten zu nähern, kann man auf die Geschichte des Antifaschismus zurückgreifen, wo es viele Versuche gab, die Rolle von faschistischen Organisationen für einen bürgerlichen Staat einzuordnen.
Als Erstes stößt man dabei auf die These vom „Kettenhund des Kapitals“, die sich sehr plausibel und faktenreich am Übergang von der Weimarer Republik hin zum Faschismus erklären lässt. Mit diesem Bild wird eine gesellschaftliche Situation Anfang der 1930er Jahre beschrieben, in der sich auch die ökonomische Klasse nicht mehr sicher war, ob die parlamentarische Ordnung noch jene Herrschaftsform ist, die den Kapitalismus sicher durch die Krise führen kann oder ob die gewaltigen politischen Spannungen dazu führen könnten, dass nicht nur politische Parteien, sondern das kapitalistische System als Ganzes zur Disposition stehen.
Bekanntlich hat ein Teil der kapitalistischen Klasse die Entscheidung getroffen, den Aufstieg der NSDAP direkt, finanziell, politisch und propagandistisch zu unterstützen. Unstrittig ist ebenfalls, dass wesentliche Teile des Großkapitals einer „autoritären Lösung“, einem „Neuen Staat“ (wie von Kanzler Franz von Papen propagiert) begeistert zugestimmt hatten, mit dem Ziel, eine Weltmarktposition wieder zu erlangen, die sie Anfang der 1930er Jahre nicht mehr hatten. Gemeinsam war allen Fraktionen des Kapitals, dass der Klassenkampf beendet werden müsse und dass die Weimarer Republik bei der Stilllegung von Klassengegensätzen versagt habe.
Legt man diese knappe Skizze ökonomischer und politischer Bedingungen zugrunde, dann halte ich die These, dass es heute ein machtpolitisches Interesse daran gibt, (bewaffnete) Neonazis als „Kettenhunde des Kapitals“ zu halten, für falsch.
Die hegemonialen Kräfte der Business Class wollen kein neues „33“ vorbereiten, ganz im Gegenteil: Sie tun alles, um das zu verhindern, was damals die NSDAP an die Macht brachte: Eine Mischung aus politischen, wirtschaftlichen, ideologischen und institutionellen Krisen, die mit legalen Mitteln nicht mehr zu bewältigen waren.
Zu Recht stellt der Historiker Peter Scherer in diesem Kontext – mit Blick auf die heutige Weltmarktposition – die Fragen:
„Welche Rohstoffe könnte ein faschistisches Regime zum Ziel seiner Feldzüge machen, die nicht schon längst in der Hand der Konzerne sind? Welche Arbeitskräfte könnte es auftun, die nicht schon längst für den Weltmarkt ausgebeutet werden?“ (Wem gehört der 9. November? Z., Nr.72, Dezember 2007, S.18)
Und welche Verfolgungsmaßnahmen könnte ein faschistisches Regime bereitstellen, die nicht bereits heute legal darauf warten, massenhafte Proteste – in der Zukunft – niederzuschlagen?
Eine weitere These, die die Rolle von faschistischen Parteien und Organisationen zu fassen versucht, spricht von deren Bedeutung als „Systemreserve“. In Erinnerung gerufen wird damit die Rolle der reaktionären bis profaschistischen Freikorps nach der militärischen Niederlage im Ersten Weltkrieg. Neben regulären Polizeieinheiten spielten irreguläre Truppen der Freikorps eine bedeutsame Rolle bei der Niederschlagung revolutionärer Erhebungen 1918/19. In den 1920er und 1930er Jahren spielten zudem die SA- und SS-Trupps der Nazis eine ähnliche Rolle, indem sie Arbeiterversammlungen überfielen, Anschläge verübten und Demonstrationen der ‚Roten‘ angriffen. Im Großen und Ganzen ließ man sie gewähren, schließlich war die Niederschlagung von Klassenkämpfen, die Ausschaltung der KPD ein Ziel, das sich bürgerliche Parteien und die NSDAP in der Weimarer Republik teilten.
Auch diese historisch belegte Rolle von (bewaffneten) Faschisten als „Systemreserve“ halte ich zur gegenwärtigen Beschreibung der Rolle neonazistischer Organisationen für ungeeignet: Wer die staatliche Vorratshaltung an Macht- und Gewaltpotenzialen vor Augen hat, die verschwindend kleine parlamentarische Opposition, die schwache radikale Linke, der sollte also auch die Rolle der Neonazis als „Systemreserve“ überdenken. Das macht sie nicht weniger gefährlich, wenn sie Menschen bedrohen, „national befreite Zonen“ durchzusetzen versuchen. Es geht darum, ihnen keine Rolle zuzuweisen, keine Macht zuzusprechen, die sie bestenfalls in ihrem eigenen neonazistischen Wahn einnehmen.
Weder stehen die bürgerlichen Parteien noch das Kapital vor einem neuen „33“, noch laufen die tatsächlichen Krisenerscheinungen darauf zu. Weder innerhalb der bürgerlichen Parteien scheinen Auflösungs- bzw. Desintegrationserscheinungen auf, noch gibt es auch nur das geringste Anzeichen dafür, dass das Kapital außerhalb codierter Konkurrenz-Regeln ums Überleben kämpfen müsse. Weder heute noch auf absehbare Zeit braucht/zielt die gegenwärtige Ordnung darauf ab, sich eine neofaschistische Reserve zu halten, um Krisen extralegal zu lösen. Es gibt weder diese Krisen, die an ein solches (faschistisches) Szenario heranreichen, noch gibt es systemoppositionelle Kräfte, die nicht anders zu schlagen sind als mit offener, faschistischer Gewalt.
Der größte Gegner bürgerlicher Staaten sind sie selbst
Von wem gehen die Gefahren aus? Für Deutschland kann man die Bedeutung der AfD als halbwegs gering einschätzen. Um einiges anders sieht es am Rand Europas aus, wie z.B. in Griechenland, wo die institutionelle und ökonomische Krise, die faktische Entmachtung der politischen Parteien (durch EU-IWF-Troika-Diktate) der faschistischen Partei (Goldene Morgenröte) eine wachsende Bedeutung zuspielt hatte. Aber auch dort zeigte die politische Entwicklung, dass man alles daran setzte, auf eine nicht-faschistische Lösung zu setzen: Man machte sich die Syriza gefügig, bis sie der Christdemokratie so ähnlich wurde, dass Letztere dann auch prompt die Wahlen gewann. Diese politische Haltung wird auf EU-Ebene nach wie vor favorisiert: Man übt nicht nur aus kosmetischen Gründen Kritik an der polnischen und/oder ungarischen Regierung, wenn man diesen die Verletzung von Rechtsstaatsstandards (Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz und Medien etc.) vorwirft. Ich würde nach wie vor davon ausgehen, dass man an bestimmten staatlichen Kontrollinstanzen festhält, um eine Verselbstständigung der Exekutivgewalt zu vermeiden.
Was steht uns bevor?
Mi dem Wissen von heute würde ich von einer sehr ambivalenten Situation ausgehen, die nur in dieser Widersprüchlichkeit zu verstehen ist.
Auf der einen Seite spricht nicht viel dafür, dass die politische und ökonomische Klasse auf eine faschistische Option setzt. So verrückt sich das anhört, aber ein sehr gewichtiger Grund ist die Niederlage der Faschismen in den 1940er Jahren. Die herrschende Klasse hat zwei ganz zentrale Erfahrungen mit dem Faschismus gemacht:
Erstens liegt dem Faschismus die fast völlige Entfesselung der Exekutivmacht zugrunde. Alle anderen politischen Positionen und Gegensätze sind ausgeschaltet worden. Das System hat kein inneres Korrektiv mehr. Dazu gehört auch eine Opposition, die das wankende System optimieren, reformieren und nachjustieren kann. Diese Verselbstständigung kann auch selbstmörderische Züge annehmen, was sich auch am Beispiel von Nazi-Deutschland belegen ließe.
Zum Zweiten hat vor allem die politische Klasse die Erfahrung gemacht, dass man Faschisten nicht wie Hilfsjungen behandeln kann, die man mal für eine kurze Zeit ranlässt, um sie dann wieder abzuservieren. Tatsächlich wurden auch Mitglieder der politischen Klasse zur Zielscheibe des erstarkenden Faschismus, wie dies die Organisation Consul in den 1920er Jahren mit gezielten Morden an bürgerlichen Politikern bewies. Diesem faschistischen Terror fielen damals der Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (1921) und der bürgerliche Reichsaußenminister Walther Rathenau (1922) zum Opfer.
In dem neonazistischen Mord an dem christdemokratischen Regierungsdirektor in Kassel, Walter Lübcke, 2019 scheint genau diese Gefahr auf und hat bekanntlich auch zu einigen institutionellen Veränderungen geführt.
Aber es gibt auch eine Entwicklung, die wir heute in ihrer Dynamik und ihren Konsequenzen kaum absehen können.
Es geht um ein Kriegsszenario, in dem die alten Hegemonialmächte (USA, Frankreich, England, Deutschland) auf eine militärische Eskalation gegen Russland und die Volksrepublik China zusteuern.
Diese weltkriegsnahe Eskalation hat längst die Phase der Unterschwelligkeit und der Beschwichtigung verlassen. Offen erklärt uns die grüne Außenministerin Annalena Baerbock, dass man (über die Bande Ukraine) Russland „ruinieren“ werde. Während all dies vor unseren Augen (und der Haustür Europas) passiert, wird unverhohlen davon gesprochen, dass man die Macht und den Einfluss der VR China „eindämmen“ müsse. Dabei geht es nicht nur um die Wirtschaftsmacht Chinas, sondern auch und gerade um deren Weigerung, die alten „Führungsmächte“ länger auszuhalten, was als Ungeheuerlichkeit und als Kriegsgrund verstanden wird.
Diese Entwicklung wird uns – mit all den innenpolitischen Auswirkungen – in den nächsten Jahren prägen. Dazu gehören massive Verschlechterungen der Lebensbedingungen, die weiter ansteigenden Formen der Repression und Einschüchterung und die Vor- und Einübungen in den Krieg.
Genau in diesem Kontext sprach Wolfgang Ischinger, ehemaliger Botschafter in Washington und Ex-Chef der Münchner Sicherheitskonferenz in München, das aus, was eine „Zeitenwende“ mit einschließt: Ein Systemwechsel.
In der BILD-Zeitung vom 21. November 2022 lässt er Deutschland und die Welt wissen: Deutschland braucht die „Kriegswirtschaft“!
„Ischinger sieht auch einen politischen Grund, um von ‚Kriegswirtschaft‘ zu sprechen: ‚Offenbar haben allzu viele noch nicht begriffen, dass wir erst am Anfang der Zeitenwende stehen, und dass es tatsächlich richtigen Krieg mitten in Europa gibt, dessen Ende leider nicht absehbar ist‘.“
Die Aufforderung zur Kriegswirtschaft ist nichts anderes als ein Systemwechsel!
Denn all das bedeutet zweierlei: Der Staat bekommt eine wachsende Bedeutung, die die Ideologie vom „schlanken“ (Nachtwächter-)Staat hinter sich lässt.
Das bedeutet aber auch, dass sich die Rolle der Exekutivmacht ganz nahe an den Rand der Verselbstständigung bewegen wird. Man wird mit Blick auf den (kommenden) Krieg die institutionellen Rechte (weiter) einschränken bzw. suspendieren, um die „Hindernisse“ und „bürokratischen Hemmnisse“ (Wolfgang Ischinger) für einen handlungsfähigen und schlagkräftigen Staat im Gefechtsstand zu beseitigen.
Diese „Kriegswirtschaft“ braucht aber auch neben der Repression und Einschüchterung eine massive, allgegenwärtige Feinderkennung. Ein Feind, vor dem wir mehr Angst bekommen müssen als vor allen Einschränkungen, die uns die eigene Regierung aufbürdet. Bereits jetzt ist die Russophobie alltäglich. Mit Blick auf China wird sich das noch gewaltig steigern.
Man ahnt vielleicht, wie nahe diese „Zeitenwende“ an Kernbedingungen einer faschistischen Herrschaft heranreicht: Innerer und äußerer Kriegszustand, die Selbstsuspendierung der bürgerlichen Ordnung, das Regieren mit dem/im Ausnahmezustand …
August Thalheimer gehört zu den ganz bedeutsamen kommunistischen Politikern und Theoretikern und hat diesen Prozess in den 1920er und 1930er Jahren sehr präzise beschrieben:
„Die Aushöhlung des bürgerlich-parlamentarischen Systems erfolgt schrittweise. Und die Bourgeoise ist dabei der Hauptagent. (…) Die Herstellung der offenen Diktatur selbst kann nur durch einen Sprung, einen Putsch oder einen Staatsstreich erfolgen, bei dem die Bourgeoise selbst das passive Element ist. Ihre Sache ist es, die Bedingungen zu schaffen, damit sie sozial ‚gerettet‘ und politisch vergewaltigt werden kann. Das Vergewaltigen selbst aber besorgt der Held des Staatsstreiches oder des Putsches. Das Individuum oder die Organisation findet sich dazu immer, wenn ein Bedürfnis dazu da ist.“[1]
Wenn wir diese Einordnung auch für heute gelten lassen, dann wüssten wir, wer der „Hauptagent“ ist und was wir zusammen tun müssten.
Und wir könnten August Thalheimer sicherlich auch an unserer Seite haben, wenn wir dabei auch über falsche Selbsteinschätzungen und über unberechtigte Bezichtigungen reden würden:
„Es ist natürlich kein Vorwurf für irgendjemand, bei diesem verwickelten, in vielen Farben schillernden, wie ein Proteus sich verwandelnden Objekt nicht auf den ersten Hieb vollständig und richtig alle wesentlichen Züge erfasst zu haben.“
Titelbild: Gubin Yury/shutterstock.com
Auszug aus dem (bald erscheinenden) Buch: Was Sie schon immer einmal über den Anti/Faschismus wissen wollten, Wolf Wetzel, Edition H, Verlag Selbrund GmbH, 2023
[«1] Bonapartismus und Faschismus, (1930), August Thalheimer in: „Faschismus-Diagnosen, Kurt Pätzold, Verlag am Park, S.58
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