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Titel: Der Rückzug von Kiew, Butscha und Boris Johnson: Woran die ersten Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland scheiterten

Datum: 14. Dezember 2022 um 9:16 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Friedenspolitik, Militäreinsätze/Kriege
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Die Stiftung Wissenschaft und Politik hat Ende Oktober eine Analyse veröffentlicht, die untersucht, warum die ersten Friedensverhandlungen zwischen der Ukraine und Russland gescheitert sind. In ihrem Fazit kommt die Autorin Sabine Fischer zu dem Schluss, dass die Friedensverhandlungen hauptsächlich am russischen Unwillen zu Verhandlungen scheiterten. Diese Analyse ist zu einseitig und wird den Geschehnissen in den ersten Monaten nach dem russischen Angriff auf die Ukraine nicht gerecht. Sie blendet insbesondere die Rolle aus, die die westlichen Länder im späteren Verlauf der Verhandlungen gespielt haben. Deshalb sollen hier die Entwicklungen in den ersten Monaten nach Kriegsbeginn noch einmal nachgezeichnet werden. Von Norbert Krause.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Das erste Treffen einer russischen und ukrainischen Delegation fand am 28. Februar an der belarussischen Grenze statt. Der Ort der Verhandlungen war zunächst umstritten gewesen – Moskau hatte Minsk vorgeschlagen, Kiew wollte in Warschau verhandeln. Ein Kompromiss wurde gefunden, nachdem der ukrainische Präsident Selenskyj mit dem belarussischen Präsidenten telefoniert hatte. Es wurde zunächst nur über einen sofortigen Waffenstillstand verhandelt. Zwei weitere Treffen fanden am 03. März und am 07. März statt. Nach einem Treffen der beiden Außenminster in Anatalya am 10. März wurden die weiteren Verhandlungen in der Türkei geführt.

Verhandelt wurde zunächst über einen 15-Punkte-Plan: Der Plan sah vor, dass die Ukraine neutral bleibt, es auf ihrem Gebiet keine militärischen Stützpunkte von ausländischen Staaten gibt und sie nicht der NATO beitritt. Dafür bekomme die Ukraine Sicherheitsgarantien von Staaten wie den USA, Großbritannien oder der Türkei. Russland ziehe sich im Gegenzug aus allen im Krieg besetzten Gebieten zurück. Die Diskussion über den rechtlichen Status der von Russland besetzten Krim und der beiden von Russland anerkannten Volksrepubliken Donetsk und Luhansk sollte „getrennt“ in späteren Gesprächen behandelt werden. Die Details des letzten bekannt gewordenen Friedensplans finden sich hier (Seite 3).

Während der Verhandlungen fand auch eine rhetorische Annäherung der beiden Parteien in der Öffentlichkeit statt: Mitte März sagte der ukrainische Präsident Selenskyj, dass die Friedensgespräche „realistischer werden“ und erklärte, dass eine NATO-Mitgliedschaft nicht realistisch sei. Der russische Außenminister Lawrow sagte, man stehe bei den Verhandlungen „kurz vor einer Einigung“ über „ganz konkrete Formulierungen“. Ende März sagte der ukrainische Präsident Selenskyj, dass er bereit sei, einen Kompromiss für die beiden Donbass-Regionen auszuhandeln, und der Berater des Präsidenten, Mychajlo Podoljak, erklärte, dass es über den Status der Krim Verhandlungen in den nächsten 15 Jahren geben könne. Russland rückte von drei seiner bisherigen Forderungen ab (Entnazifierung, Demilitarisierung, Anerkennung der russischen Sprache). Ein Treffen der beiden Präsidenten hätte laut russischer Seite stattfinden können, wenn ein schriftliches Friedensabkommen fertig ausgehandelt sei.

Der Rückzug der russischen Truppen vor Kiew

Gleichzeitig wurde vom französischen Außenminister und von der britischen Außenministerin bezweifelt, ob Russland den Friedensprozess ernst meine, da es weiterhin ukrainische Städte bombardiere. Russland würde die Verhandlungen nur nutzen, um Zeit zu bekommen und seine Truppen umzustrukturieren. Am 29. März verkündete der stellvertretende russische Verteidigungsminister, Alexander Fomin, dass Russland sein Militär als Zeichen des guten Willens und zur Unterstützung der Friedensverhandlungen aus den Regionen Kiew und Chernigov zurückziehen werde. Im Westen und von der Ukraine wurde dies zunächst bezweifelt und dann als Vorwand gewertet, um eine Niederlage der russischen Streitkräfte in der Schlacht um Kiew zu kaschieren.

An dieser Stelle ist ein Exkurs zur militärischen Situation und zur medialen Berichterstattung darüber sinnvoll: Da Russland in den ersten Tagen keine Informationen zu seiner militärischen Strategie veröffentlichte, basierte die mediale Berichterstattung im Wesentlichen auf Informationen von westlichen Experten und ukrainischen Quellen. Diese waren davon ausgegangen, dass Russland nach der Blaupause der letzten westlichen Kriege (Kosovo, Afghanistan, Irak) vorgehen würde: Mit massiven Luftangriffen in den ersten Tagen, denen später ein Einmarsch von Bodentruppen folgt. Der Goliath Russland hätte den David Ukraine mit dieser militärischen Taktik, so waren sich die westlichen Experten einig, innerhalb von kürzester Zeit überrollt. Allerdings unterschied sich Russlands Strategie von der westlichen Blaupause: Russland setzte nicht auf massives Bombardement aus der Luft, sondern auf Bodentruppen.

Gleichzeitig unterstützte der Fakt, dass Russland auf breiter Front in die Ukraine einmarschierte (und nicht nur im Bereich der aus russischer Sicht zu verteidigenden Volksrepubliken), die westliche Deutung, dass die Hauptstadt Kiew in einem Handstreich nach westlichem Muster eingenommen werden sollte. Kiew wurde von drei Seiten eingekesselt, aber der Vormarsch der russischen Truppen endete dort. Die westliche Interpretation war, dass dies nur ein Versagen der russischen Streitkräfte sein konnte und auf den erbitterten ukrainischen Widerstand zurückzuführen sei. Die passenden Bilder zu dieser Interpretation lieferte eine neue ukrainische Verteidigungstaktik, die darauf basierte, die russischen Streitkräfte ins Land zu lassen und dann deren Nachschub- und Versorgungslinien aus Hinterhalten zu attackieren. Auf diese Weise kam es zu massiven Verlusten der russischen Streitkräfte auf dem Weg nach Kiew. Ob das russische Militär tatsächlich Kiew einnehmen wollte, wird von einigen Beobachtern bezweifelt: In dieser Sichtweise wurde die ukrainische Hauptstadt lediglich aus taktischen Gründen eingekreist, um auf diese Weise einen großen Teil der ukrainischen Streitkräfte – fern des Donbass – zu binden und durch die direkte Bedrohung Kiews eine bessere Verhandlungsposition zu erreichen.

Doch warum sind diese Punkte wichtig für einen Artikel über den Verlauf der Friedensverhandlungen? Weil das ukrainische Militär nach dem russischen Rückzug die „Schlacht um Kiew“ symbolisch gewonnen hatte und dies im Westen auch zunehmend so interpretiert wurde. Dies sollte für die weiteren Friedensverhandlungen eine wichtige Rolle spielen.

Das Massaker von Butscha und erste westliche Staatsbesuche

Nach dem Rückzug des russischen Militärs wurde am 2. April das Massaker von Butscha entdeckt. Die russischen Soldaten sollten 16 Zivilisten auf ihrem Rückzug direkt auf der Straße ermordet haben (später wurden noch deutlich mehr Leichen in Massengräbern entdeckt). Die russische Regierung wies dies als Inszenierung zurück und russlandnahe Medien erklärten, dass dies eine Säuberungsaktion von ukrainischen Nationalisten an Kollaborateuren gewesen sei. Dennoch gingen die Friedensverhandlungen zunächst weiter. Am 6. April legte die ukrainische Seite einen Entwurf für eine Vereinbarung vor, die laut russischer Seite jedoch Punkte enthielt, die vorher nicht vereinbart gewesen seien.

Der Rückzug der Russen aus den Kiewer Vororten erlaubte es auch, dass westliche Politikerinnen und Politiker erstmals sicher nach Kiew reisen konnten. Zunächst reiste die Präsidentin der Europäischen Kommission, Ursula von der Leyen, am 8. April nach Kiew und deutete an, dass die Ukraine schnell in die EU aufgenommen werden könnte. Am 9. April reiste der österreichische Bundeskanzler, Karl Nehammer, nach Kiew und sicherte zu, dass die Sanktionen gegen Russland so lange in Kraft bleiben werden, wie der Krieg andauert. Danach reiste er am 10. April weiter nach Moskau und sprach direkt mit dem russischen Präsidenten. Die Reise war mit Deutschland und der EU abgesprochen. Nehammer sagte, er habe „keinen optimistischen Eindruck“ gewonnen und Putin sei in einer „Kriegslogik“ gefangen. Dennoch sei es wichtig, im Gespräch zu bleiben. Ebenfalls am 9. April reiste Boris Johnson nach Kiew – es war ein Überraschungsbesuch. Am Tag zuvor hatte er in London neue militärische Unterstützung in Höhe von 100 Millionen Pfund für die Ukraine angekündigt.

Doch wie war der Stand der Friedensverhandlungen? Die Verhandlungsdelegationen hatten sich am 29. März zum letzten Mal persönlich getroffen. In einem Interview am 10. April erklärte der ukrainische Präsident Selenskyj, dass er nicht die Chance auf eine friedliche Lösung verlieren wolle. Am 12. April sagte der russische Präsident Putin, dass die Friedensverhandlungen in einer Sackgasse seien, da die Ukraine falsche Behauptungen über russische Kriegsverbrechen aufstelle und zudem wolle, dass die Sicherheitsgarantien als eigenständiges Thema behandelt werden – unabhängig von den zukünftigen Regelungen zum Status der Krim und des Donbass. Am 16. April erklärte Selenskyj, dass es zwei Friedensdokumente geben solle: Eine Sicherheitsvereinbarung zwischen der Ukraine und den möglichen Garantiestaaten (USA, Großbritannien, Türkei und Italien) und einen Friedensvertrag mit Russland. Russland wolle alles in einem einzigen Friedensvertrag, dies sei aber nach Butscha, so Selenskyj, nicht mehr möglich. Nach diesen Äußerungen waren die Friedensverhandlungen weitestgehend beendet. Es gab allerdings noch Kontakte zwischen den Delegationen im Onlineformat. Der letzte telefonische Kontakt zwischen den Leitern der beiden Delegationen fand Anfang Mai statt und die ukrainische Seite hatte erklärt, dass man noch auf die Garantiezusagen der westlichen Staaten warte. Offiziell beendet wurden die Verhandlungen am 17. Mai, als der Berater des ukrainischen Präsidenten, Mychajlo Podoljak, erklärte, dass die Verhandlungen nun ausgesetzt seien, da es keine Fortschritte mehr gebe. Dies bestätigte die russische Seite einen Tag später.

Der Einfluss Boris Johnsons

Die Friedensverhandlungen zwischen beiden Parteien endeten somit höchstwahrscheinlich zwischen 10. und 16. April. Was war geschehen? Anfang Mai veröffentlichte die ukrainische Zeitung Ukrajinska Prawda einen ausführlichen Hintergrundbericht zum Scheitern der Verhandlungen. Der Bericht trägt den Titel „From Zelenskyy’s “surrender” to Putin’s surrender“ und beschreibt, wie sich das Bild des Krieges im Westen durch die russische Kriegsführung geändert hat: Da man von einem schnellen Sieg Russlands ausging, empfahlen die westlichen Staaten dem ukrainischen Präsidenten auf der Sicherheitskonferenz in München, nicht in die Ukraine zurückzukehren, sondern ins politische Exil zu gehen. Diese Einschätzung änderte sich, als die russischen Streitkräfte Kiew nicht eroberten.

Teilnehmer des ukrainischen Verhandlungsteams erklärten der Zeitung, dass es zwei Gründe für den Abbruch der Friedensverhandlungen gegeben habe: Die bekannt gewordenen Kriegsverbrechen der russischen Armee und den Überraschungsbesuch von Boris Johnson. Johnsons Botschaft sei gewesen: Zum einen, dass man nicht mit Kriegsverbrechern verhandle, und zum anderen, dass selbst wenn die Ukraine bereit sei, mit Putin Garantien zu vereinbaren, sie seien es nicht. Er sagte, er könne ein Abkommen mit der Ukraine unterzeichnen, aber nicht mit Putin. Der kollektive Westen habe erkannt, dass Putin nicht so mächtig sei, wie man es sich vorgestellt hatte, und dass es nun die Chance gebe, Druck auf Putin auszuüben.

Es gibt allerdings nur diesen einen Artikel, der auf die Rolle hinweist, die Boris Johnson für das Ende der Friedensverhandlungen gespielt haben könnte. Daher sollte man dies auch mit Vorsicht interpretieren. Nachdem in der britischen Linken im Oktober ein Beitrag zur Rolle Johnsons bei den Friedensverhandlungen erschienen war, der sich auf genau diesen ukrainischen Artikel berief, verfassten zwei Forscher einen Gegenbeitrag, der diese Rolle widerlegen und zeigen sollte, dass man mit Russland nicht verhandeln könne. Dafür befragten Sie auch den Autor des Artikels, Roman Romaniuk, ob er die Interpretation unterstütze, dass Johnson die Friedensverhandlungen beendet habe. Seine Antwort: Es sei nicht die Intention Johnsons gewesen, die Aufkündigung des Friedensabkommens „anzuordnen“ – bestenfalls sei dies ein Ratschlag gewesen, da man Russland nicht trauen könne.

In der Öffentlichkeit erklärte Boris Johnson seine Position zu Friedensverhandlungen mehrfach in ähnlicher Weise – wenn auch nicht so eindeutig: Direkt während seines Besuchs in Kiew sagte er, dass Großbritannien die Ukraine auch „langfristig“ unterstützen wolle (Zitat: „we are in it for the long run“). Am 20. April verglich er Putin mit einem Krokodil, mit dem man nicht verhandeln könne, wenn es einem gerade ins Bein beiße. Er sprach sich in einem Gespräch mit Emmanuel Macron am 06. Mai nachdrücklich gegen Verhandlungen mit Russland aus, falls diese das falsche Narrativ des Kremls über die Invasion stützten. Gleichzeitig betonte er aber, dass dies eine Entscheidung der ukrainischen Regierung sei. Auch die russische Regierung sanktionierte in indirekter Form die mögliche Rolle Johnsons bei den Verhandlungen: Am 16. April verhängte sie ein Einreiseverbot für Boris Johnson und mehrere Mitglieder seiner Regierung.

Zum Zeitpunkt seines überraschenden Ukraine-Besuchs stand Boris Johnson unter großem Druck in Großbritannien: Der Krieg in der Ukraine hatte innerparteiliche Kritik an Johnson im Zuge der Partygate-Affäre zunächst zum Verstummen gebracht. Am 29. März hatte die Polizei allerdings Bußgelder gegen 20 Personen angekündigt, die in den Jahren 2020 und 2021 auf Partys im britischen Regierungssitz gegen die geltenden Lockdown-Regeln verstoßen hatten. Am 12. April erklärte Johnson öffentlich, dass er ein solches Bußgeld habe zahlen müssen und sah sich daraufhin mit mehreren Rücktrittsforderungen und dem Ruf nach einem Misstrauensvotum konfrontiert. Dass Johnson und seine Außenministerin Liz Truss den Ukrainekonflikt zur innerparteilichen Profilierung genutzt haben, wurde auch in britischen Medien kritisiert.

Der Besuch Boris Johnsons und seine Botschaft der langfristigen Unterstützung war das Signal, auf das die ukrainische Regierung gewartet hatte. Seit Kriegsbeginn hatte sie auf eine stärkere finanzielle und militärische Unterstützung des Westens gedrängt. Hinzu kam, dass Friedensverhandlungen oder gar ein Friedensvertrag mit Russland der ukrainischen Bevölkerung – in Anbetracht der bekannt gewordenen russischen Kriegsverbrechen – zunehmend schwerer zu vermitteln waren. Auch wenn die russische Seite die eigene Verantwortlichkeit abstritt, so wurden in der ukrainischen Bevölkerung die Kriegsverbrechen doch ohne Zweifel den russischen Truppen zugeschrieben. In einer Umfrage, die nach dem endgültigen Abbruch der Friedensverhandlungen Mitte Mai durchgeführt wurde, sprachen sich nur 15 Prozent der ukrainischen Bevölkerung für einen sofortigen Waffenstillstand und die Aufnahme von Friedensverhandlungen aus, während 61 Prozent wollten, dass die gesamte Ukraine einschließlich der Krim zurückerobert werde. In dieser innenpolitischen Situation musste das Angebot Johnsons auf fruchtbaren Boden fallen und eine Fortsetzung der Friedensverhandlungen nur noch wenig plausibel erscheinen.

Ob Johnsons Position mit den anderen westlichen Ländern abgestimmt war, ist unklar. Mit den Europäern war sie mit Sicherheit nicht abgesprochen – hatten diese doch zur gleichen Zeit den österreichischen Bundeskanzler Nehammer in diplomatischer Mission nach Kiew und Moskau geschickt. Die Absprache mit den USA geschah möglicherweise auch erst im Nachhinein: Am 12. April telefonierte Johnson mit US-Präsident Joe Biden und informierte ihn über seinen Besuch in der Ukraine. Am selben Tag nannte US-Präsident Biden die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine einen „Genozid“ – im Gegensatz zu einem Statement eine Woche zuvor. Am 13. April telefonierte der amerikanische Präsident Biden mit dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj und sicherte militärische Unterstützung in Höhe von 800 Millionen US-Dollar zu. Am 25. April reisten der amerikanische Außenminister Anthony Blinken und der Verteidigungsminister Lloyd Austin in die Ukraine. Austin erklärte, dass die Ukraine den Krieg mit der richtigen Ausrüstung und der richtigen Unterstützung gewinnen könne. Diese Aussagen waren eine deutliche Abkehr von der bisherigen Argumentation, dass die Ukraine die Mittel haben müsse, sich zu verteidigen, und dass Russland seine Ziele nicht erreichen dürfe. Ziel sei es, so Austin weiter, Russland so zu schwächen, dass es keinen weiteren solchen Krieg führen könne. Die Aussage, dass die Ukraine den Krieg gewinnen könne, wurde später von Joe Biden kritisiert. Die Position der USA sei es, dass die Ukraine alleine entscheiden solle, wie sie sich verteidigt und wann sie Verhandlungen aufnimmt.

Die italienische Friedensinitiative

Eine weitere Friedensinitiative kam im Mai aus Italien. Bereits am 30. März hatte der italienische Ministerpräsident Mario Draghi mit Putin über die Notwendigkeit eines Waffenstillstands und über die Bezahlung der Gas-Importe gesprochen. Später erklärte Draghi zu diesem Telefonat, dass Gespräche mit Putin „Zeitverschwendung“ seien und Putin nicht offen für Gespräche sei, sondern nur geantwortet habe, dass „gerade nicht die Zeit sei“. In der Analyse der Stiftung Wissenschaft und Politik über das Ende der Friedensverhandlungen wird dieses Telefonat angeführt, um zu bestätigen, dass die russische Seite gar nicht verhandeln wollte. Hier muss allerdings angemerkt werden, dass dieses Telefonat auf dem Höhepunkt der Verhandlungen der beiden Delegationen stattfand. Draghi hatte zu diesem Zeitpunkt einen sofortigen Waffenstillstand sowie Verhandlungen zwischen den beiden Präsidenten gefordert. Der russische Präsident hatte geantwortet, dass dafür die Bedingungen noch nicht gekommen seien.

Am 10. Mai reiste Draghi in die USA und betonte im Gespräch mit Präsident Joe Biden, dass die USA und die EU mit Russland und der Ukraine zusammenarbeiten müssten, um den Konflikt zu beenden und ein Friedensabkommen zu schließen. Eine direkte Reaktion von Präsident Biden erhielt er allerdings nicht. Am 18. Mai präsentierte der italienische Außenminister Luigi di Maio dann bei einem Treffen mit UN-Generalsekretär Antonio Guterres einen Vier-Punkte-Friedensplan. Der Plan sah vor, dass es zunächst einen Waffenstillstand geben solle und dann über die Neutralität der Ukraine und Sicherheitsgarantien anderer Staaten verhandelt werden solle. In einem dritten Schritt werde ein bilaterales Abkommen über den Status der Krim und des Donbass geschlossen. Der vierte Schritt sah schließlich ein zwischenstaatliches Friedensabkommen zwischen der EU und Russland vor.

Der russische Außenminister Sergej Lawrow erklärte dazu, dass Russland den Plan anfangs nur aus den Medien kannte. Da der Plan vorsehe, dass die Krim und der Donbass Teile der Ukraine sein sollten und von der Ukraine weitgehende Autonomie erhalten sollten, könne dies kein Vorschlag eines seriösen Politikers sein. Eine offizielle Reaktion der Ukraine gab es nicht, allerdings kritisierte ein hochrangiger Berater von Präsident Zelensky diejenigen in Europa scharf, die die Ukrainer dazu drängen, den Russen etwas zu geben, um den Krieg zu beenden. Da beide Seiten den Plan ablehnten, erwähnte der italienische Ministerpräsident den Vier-Punkte-Plan in seinem Telefongespräch mit dem russischen Präsidenten am 26. Mai schon gar nicht mehr, sondern sprach nur über den Versuch, die in den Schwarzmeerhäfen blockierten Getreideexporte freizugeben. In Italien wurde im Nachhinein auch vermutet, dass der Friedensplan eher eine Botschaft an die konservative und waffenlieferungsskeptische Wählerschaft von Di Maios Fünf-Sterne-Partei gewesen sei und gar nicht die volle Unterstützung Draghis hatte.

Die Positionen nach dem Ende der Friedensverhandlungen

Nachdem zu Beginn des Krieges beide Seiten in der Öffentlichkeit ihre Positionen abgemildert hatten, verhärteten sich die Positionen nun zunehmend. Dies traf besonders auf die Position der ukrainischen Seite zu: Am 19. Mai sagte der Berater des Präsidenten, dass es keinen Waffenstillstand geben werde, bevor sich nicht die russischen Truppen komplett zurückgezogen hätten. Am 21. Mai erklärte er, dass die Ukraine keinem Friedensvertrag zustimmen werde, in dem ein Gebietsverlust der Ukraine festgeschrieben werde. Am 25. Mai erklärte der ukrainische Präsident Selenskyj auf dem Weltwirtschaftsforum, dass die Ukraine solange kämpfen werde, bis sie ihr komplettes Territorium zurückerobert habe. Er erklärte zudem, dass er nur direkt und ohne Vermittler mit dem russischen Präsidenten verhandeln werde.

Der russische Präsident Putin hatte hingegen betont, dass es unrealistisch sei, strittige Fragen in einem Gespräch der Präsidenten lösen zu wollen, wenn diese nicht vorher auf einer Verhandlungsebene geklärt worden seien. Er erklärte zudem, dass Russland an einer Wiederaufnahme der Friedensgespräche interessiert sei, die ukrainische Seite dies aber verzögere. Der russische Außenminister Lawrow erklärte im Juni, dass die ukrainische Verhandlungsposition von Ende März eine gute Arbeitsgrundlage für weitere Verhandlungen zwischen beiden Ländern sein könne. Er sagte aber auch, dass die von Moskau befreiten Gebiete selbst entscheiden sollten, wie sie weiterleben wollen, und dass das Schicksal der von Kiew gehaltenen Gebiete „schwer vorherzusagen“ sei. Insofern war die Position Russlands doppeldeutig.

In den westlichen Medien wurden solche ambivalenten Aussagen hervorgehoben und zugleich die militärischen Handlungen Russlands in der Ost-Ukraine so interpretiert, dass Russland Fakten schaffen wolle, indem es möglichst viel Land okkupiert und in sein Staatsgebiet integriert. Um dies zu verhindern, so die grundsätzliche Position des Westens nach dem Ende der Friedensverhandlungen, sollte die Ukraine bei der Zurückeroberung ihres Territoriums mit Waffenlieferungen unterstützt werden. Die Ukraine solle zudem selbst entscheiden, wann sie zu welchen Bedingungen Friedensverhandlungen mit Russland aufnimmt.

Die ersten Friedensverhandlungen scheiterten aus verschiedenen Gründen: Ende März waren die Friedensverhandlungen soweit, dass ein Treffen der beiden Präsidenten in naher Zukunft möglich gewesen wäre. Dann allerdings zog sich die russische Armee aus dem Gebiet um Kiew zurück – entweder als Zeichen des guten Willens (russische Sicht) oder weil sie die Positionen nicht halten konnte (ukrainische Sicht). Dieser Rückzug widersprach den ursprünglichen westlichen Erwartungen eines schnellen russischen Sieges und beförderte im Westen und in der Ukraine die Vorstellung, dass die Ukraine den Krieg mit ausreichender Unterstützung gewinnen könne. In einem Blitzbesuch Anfang April verdeutlichte der britische Premierminister Boris Johnson diesen Wandel der ukrainischen Regierung und erklärte, dass der Westen die Ukraine auch langfristig militärisch und finanziell unterstützen werde. Auf dieses Signal des Westens hatte die ukrainische Regierung schon seit Beginn des Krieges gewartet. Die Friedensverhandlungen mit Russland waren der ukrainischen Bevölkerung auch zunehmend schwerer zu vermitteln – insbesondere in Anbetracht der berichteten russischen Kriegsverbrechen. Daher zog sich die ukrainische Regierung aus den Friedensverhandlungen mit Russland immer mehr zurück. Weitere Initiativen, beispielsweise ein italienischer Friedensplan, fanden nur noch im medialen Raum statt und führten nicht mehr zu direkten Verhandlungen zwischen den beiden Parteien.

Titelbild: Halfpoint / Shutterstock


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