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Titel: Wie Friedrich Merz und seine Union der deutschen Wirtschaft schaden

Datum: 1. Dezember 2022 um 10:00 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Hartz-Gesetze/Bürgergeld, Kampagnen/Tarnworte/Neusprech, Soziale Gerechtigkeit
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Sie glauben, liebe NachDenkSeiten-Leserinnen und -Leser, die Überschrift könne nicht stimmen? Weil CDU/CSU, zumeist im Einklang mit der FDP, die deutsche Wirtschaft an allen Ecken und Enden pampern? Weit gefehlt. Zumindest in dieser Absolutheit. Denn wie so häufig im Leben: Auf die Größe kommt es dann doch irgendwie an. Von Lutz Hausstein.

Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.

Über die Polemik, mit der Friedrich Merz, Carsten Linnemann oder Markus Söder in den letzten Wochen gegen das Reförmchen Bürgergeld zu Felde gezogen sind, ist schon viel gesprochen worden. Sei es über ihre nachgewiesen falschen Behauptungen, dass jemand mit dem Bürgergeld mehr Geld zur Verfügung habe als jemand, der jeden Tag früh zeitig aufstehe und hart arbeite, und sich deshalb Arbeit überhaupt nicht mehr lohne. Auf die Idee, dass sich Arbeit genau dann für die Arbeitenden mehr lohnt, wenn sie mehr Lohn für ihre Arbeit bekommen, kamen diese Leuchttürme der politischen Intelligenz hingegen nicht. Und wie sich das Leben der „hart arbeitenden Bevölkerung“ dadurch konkret verbessern soll, dass sie zwar nicht mehr Lohn bekommen, es dafür aber noch welche in der Gesellschaft gibt, denen es noch erheblich schlechter geht, blieben Merz und Co ebenfalls ihren Zuhörern schuldig.

Auch bei ihrem Kreuzzug für die Sanktionen ignorierten sie geflissentlich auch neueste wissenschaftliche Erkenntnisse zu dieser Thematik. Denn durch die Sozialstudie von Sanktionsfrei e.V., welche vom Institut für Sozial- und Wirtschaftsforschung INES durchgeführt wurde, wurde nachgewiesen, dass das offizielle Ziel von Sanktionen, Betroffene dazu zu motivieren, ihre Bedürftigkeit aktiv zu überwinden, klar verfehlt wird. Mehr noch: Sanktionen, ja schon ihre Androhung, lähmen viele Betroffene und wirken somit kontraproduktiv. Doch mit solchen Kleinigkeiten wollen die Vorkämpfer der christlichen Nächstenliebe sich dann lieber doch nicht befassen. Diese Informationen könnten die Bürger verunsichern.

Aber mit ihren Einlassungen zu dem geplanten Schonvermögen beim Bürgergeld könnten sie den Nagel auf den Kopf getroffen haben, meint der geneigte Zuhörer. 150.000 Euro Schonvermögen für eine durchschnittliche Familie – das kann man doch keinem früh aufstehenden, hart arbeitenden Steuerzahler erklären. Klingt ja durchaus plausibel. Nun ist es aber so, dass diese 150.000 Euro (bzw. die ursprünglich einmal geplanten 60.000 Euro für eine Einzelperson) nicht sonderlich viele betreffen würden. Jetzt schon in Hartz IV Befindliche fallen schonmal ohnehin heraus, denn die bisher gültigen Regelungen haben ein eventuelles Vermögen in dieser Höhe bereits gekappt. Das dann eventuell noch vorhandene Restvermögen wurde im Laufe des Hartz-IV-Bezuges durch die erheblich zu niedrigen Regelsätze noch weiter abgeschmolzen. Bei ihnen ist also gar kein Vermögen mehr da, im besten Fall leben sie aktuell noch von der Hand in den Mund.

Auch bei den Neuzugängen zum Bürgergeld ist eher selten mit einem Vermögen in dieser Höhe zu rechnen. Die Reallöhne sind seit mehr als einem Jahrzehnt im unteren Einkommensviertel – nicht zuletzt aufgrund der Agenda-2010-Gesetze – größtenteils gesunken. Dieser Teil der Bevölkerung hatte also mehr damit zu tun, seine Ausgaben aus den aktuellen Einnahmen zu bestreiten, als sich um den Aufbau eines, wenn auch noch so überschaubaren, Vermögens kümmern zu können. Die 60.000 Euro Vermögen dürften so ihnen auch vielmehr wie ein schlechter Witz vorkommen.

Es gibt allerdings eine Bevölkerungsgruppe, für die diese 60.000 Euro Vermögen keine Fata Morgana sind, sondern häufig ein Fakt: Soloselbstständige. 2019 waren dies 4,6 Prozent aller Erwerbstätigen zwischen 15 und 64 Jahren. Ihre Einkommenssituation weist zwar eine extreme Spannbreite auf, ist aber in der Mehrzahl eher prekär. Ständig wechselnde Auftragsvolumina lassen keine gesicherten Einkommensprognosen zu. Diese Ursache und der Fakt, dass sie als Selbstständige keinen Arbeitgeber haben, der paritätisch die Beiträge zur Rentenversicherung mitträgt, haben dazu geführt, dass viele von ihnen ihre Vorsorge fürs Alter durch den Aufbau eines ausreichend hohen Vermögens betreiben. Rentenzahlungen haben sie gar nicht oder nur in äußerst geringer Höhe zu erwarten, sodass sie den dann Monat für Monat klaffenden Fehlbetrag von mehreren hundert Euro zur Sicherung ihrer reinen Existenz nur mittels eines gewissen Vermögens zu leisten in der Lage sind. Genau für sie ist also ein Schonvermögen, auch in einer ausreichenden Höhe, von existentieller Bedeutung.

Wie schnell man auch als Selbstständiger, erst recht als Soloselbstständiger, in eine kritische Lage geraten kann, haben die vergangenen Jahre der Corona-Maßnahmen gezeigt. Man nehme nur einmal soloselbstständige Friseure sowie Künstler und Personen aus der Veranstaltungswirtschaft als prägende, nicht ungewöhnliche Beispiele. Ohne eigenes Verschulden wurden diese dazu verpflichtet, ihren Geschäftsbetrieb für einen mehr oder minder langen Zeitraum vollständig einzustellen, weshalb sie von jetzt auf gleich und auf nicht absehbare Zeit komplett ohne jedes Einkommen waren. Die von der Politik zuvor großspurig versprochenen Rettungsmaßnahmen waren auch eher nur Schattenboxen, da zwar Betriebsausgaben übernommen wurden, alle Ausgaben für die persönliche Existenzsicherung aber als persönlicher Luxus betrachtet und nicht finanziert wurden. Der letzte Rettungsanker wurde so Hartz IV. Also nicht, wie die Brüder und Schwestern vom Verein der brüderlichen Barmherzigkeit, der christlich-demokratischen und der christlich-sozialen Union, zu betonen nicht müde werden, das Schaukeln in der sozialen Hängematte, sondern der verzweifelte Griff zum finalen Rettungsseil vorm Absturz ins komplette Nichts.

Die damals gewährte Ausnahmegenehmigung zur temporären Nicht-Anrechnung des vorhandenen Vermögens ist jedoch genau das: eine Ausnahme. Völlig willkürlich gewährt, ausnahmsweise mal zwar zum Nutzen der Hilfesuchenden, aber ohne rechtliche Sicherheit für die Zukunft. Sollten also Soloselbstständige in Zukunft in die Verlegenheit kommen, das nun neue Bürgergeld in Anspruch nehmen zu müssen – aus welchen Gründen auch immer; die Phantasie reicht nicht, um im Voraus alle denkbaren und undenkbaren Fälle vorauszusehen – müssten sie ihre jahrzehntelang sorgsam aufgebaute Altersvorsorge bis auf das für ihre Umstände unzureichende Schonvermögen aufbrauchen, bevor sie überhaupt das Bürgergeld in Anspruch nehmen könnten. Damit wäre jedoch ihre Alterssicherung perdu, denn sie hätten gar nicht mehr die Zeit und die Möglichkeit, erneut diese Altersvorsorge aufzubauen. Zum anderen würde ihnen das Grundkapital fehlen, falls es – in Abhängigkeit von den Ursachen ihrer vorübergehenden Arbeitslosigkeit – noch einmal die Möglichkeit geben sollte, ihre soloselbstständige Tätigkeit erneut aufzunehmen.

Wie man es auch dreht oder wendet: Merz und Co haben mit ihrem dumpfen Feldzug gegen auch nur die minimalsten Verbesserungen durch das Bürgergeld dafür gesorgt, dass gerade die Basis der Volkswirtschaft, die riesige Anzahl an kleinen und mittelkleinen Unternehmern in Deutschland, einer mehr als ungesicherten Zukunft entgegensieht und – in Anbetracht der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung – mit dem Schlimmsten rechnen muss. Die von der Union stets beschworene Wirtschaftskompetenz ist nichts mehr als billige PR. Sie ist nur da zur Stelle, wo das Große Geld sitzt. Da spielt sie sich als Robin Hood auf, als Retterin der Witwen und Enterbten. Doch das Rückgrat der Wirtschaft bilden nun einmal die vielen kleinen und mittleren Unternehmen. Auch wenn dort keine Aufsichtsratsmandate und Lobbyistenpositionen zu vergeben sind.

Titelbild: Juergen Nowak/shutterstock.com


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