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Titel: Die Fußballweltmeisterschaft und die Moral der Pharisäer

Datum: 19. November 2022 um 11:45 Uhr
Rubrik: Länderberichte, Veranstaltungshinweise/Veranstaltungen, Wertedebatte
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In Katar gibt es im Zusammenhang mit der Behandlung der ausländischen Arbeiter offensichtlich Verletzungen der Menschenrechte. Daran ist grundsätzlich nicht zu zweifeln. Wer dieses Problem allerdings differenzierter betrachtet, gerät sofort in den Verdacht, dass ihm die Menschenrechte offensichtlich nicht wichtig seien. Und genau das bezeichne ich als „Moral der Pharisäer“ und werde im Folgenden versuchen zu erklären, warum. Von Jürgen Hübschen.

Kurzer historischer Rückblick

Die Fußballweltmeisterschaft 2022 wurde im Jahr 2010 an Katar vergeben. Gleichzeitig erhielt Moskau den Zuschlag für die Fußballweltmeisterschaft 2018. Warum zeitgleich über die Austragungsländer von zwei Weltmeisterschaften entschieden wurde, hat die FIFA meines Erachtens nie nachvollziehbar und überzeugend erklärt.

Diese Weltmeisterschaft ist allerdings nicht das erste globale Sportereignis, das in Katar ausgetragen wird. Dafür nur ein paar Beispiele: 2015 fand die Handballweltmeisterschaft in Katar statt, 2019 war es die Weltmeisterschaft der Leichtathleten, und 2021 wurde erstmalig ein Formel-1-Rennen in Katar ausgetragen, und das soll ab 2023 jährlich stattfinden. Man könnte viele weitere internationale Sportereignisse nennen, ohne dass es zu nennenswerten Protesten im Ausland gekommen wäre. Die Menschenrechtslage war während all dieser Sportereignisse sicherlich nicht besser als heute. Warum also jetzt diese Proteste in vielen europäischen Ländern, zum Teil sogar mit Boykottaufrufen gegenüber den Fußballfans?

Hauptargumente der Gegner der diesjährigen Fußballweltmeisterschaft

  • Katar hat den Zuschlag nur mit Hilfe von Bestechung erhalten. Dieser Vorwurf ist sicherlich nur schwer bis gar nicht zu entkräften, trifft allerdings wohl auch auf frühere Weltmeisterschaften zu.
  • Eine Fußballweltmeisterschaft bei Tagestemperaturen von 50° Celsius und mehr kann weder den Spielern noch den Zuschauern zugemutet werden. Die FIFA ist diesem Argument gefolgt und hat die Spiele in den Dezember verlegt.
  • Eine Fußballweltmeisterschaft im Winter ist völliger Blödsinn und gibt den Spielern in den Ligen zwischen Hin- und Rückrunde zu wenig Zeit zur Erholung. Dazu ist festzustellen, dass man im Dezember nur in den Ländern der Nordhalbkugel Winter hat und die Belastungen für alle Spieler mehr oder weniger dieselben sind.
  • In Katar werden Homosexuelle diskriminiert. Das kann man so sehen, obwohl man fremde Kulturen grundsätzlich respektieren sollte. Nicht jedes Land findet die deutsche Regelung, beim Geschlecht nicht mehr nur nach männlich und weiblich, sondern auch nach divers zu unterscheiden, nachvollziehbar. Außerdem sei daran erinnert, dass Homosexualität in Deutschland nach §175 StGB bis 1994 noch unter Strafe gestellt war.
  • Insgesamt ist die sexuelle Orientierung in Katar eingeschränkt. Auch wenn vielleicht kein unmittelbarer Zusammenhang besteht, sei daran erinnert, dass Eltern noch bis 1969 Gefahr liefen, nach § 180 StGB wegen Kuppelei bestraft zu werden, wenn sie es z.B. erlaubten, dass der Freund ihrer Tochter in derselben Wohnung übernachtete. Es musste nicht einmal dasselbe Zimmer sein!
  • Frauen sind in Katar nicht gleichberechtigt, und auch das ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte. Auch die Stellung der Frau in der Gesellschaft ist in erster Linie eine Frage der jeweiligen Kultur und deshalb zunächst einmal von Besuchern zu respektieren. Davon einmal abgesehen, sei daran erinnert, dass in Deutschland noch bis 1977 die Zustimmung des Ehemanns erforderlich war, wenn die Ehefrau einen Beruf ausüben wollte. Für Lehrerinnen galt in Deutschland im vergangenen Jahrhundert noch jahrzehntelang das s.g. „Lehrerinnenzölibat“. Im Klartext hießt das, dass Lehrerinnen nicht heiraten durften, und wenn sie das trotzdem wollten, wurden sie aus dem Schuldienst entlassen. Erst 1957 erklärte das Bundesarbeitsgericht, dass eine „Zölibatsklausel“ im Arbeitsvertrag verfassungswidrig ist.
  • Katar ist keine Demokratie. Das ist zweifellos richtig. Aber auch bei uns hat die Demokratie bis zur heutigen Ausprägung einen langen Entwicklungsprozess hinter sich. Es gibt sie erst seit 1918, und zwischen 1933 und 1945 wurde sie von den Nationalsozialisten abgeschafft. Noch bis zum Beginn der 1980er Jahre gab es vor den Wahlen in der katholischen Kirche Aufrufe von der Kanzel, nur Kandidaten mit „christlicher Grundhaltung“ zu wählen.

Internationale Militäreinrichtungen in Katar, internationale politische, militärische und wirtschaftliche Aktivitäten

Die „Al Udeid Air Base” ist der größte US-Stützpunkt im Nahen Osten. Hier sind circa 10.000 amerikanische Soldaten stationiert. Neben dem „US Central Command“ für die Region und verschiedensten US Air Force und US-Army-Verbänden ist „Al Udeid“ auch ein Standort der britischen Royal Air Force und seit einiger Zeit auch von türkischen Truppen. Von Katar aus koordinieren die USA seit 2014 die Einsätze gegen die Terror-Organisation „Islamischer Staat“ in Syrien und im Irak, und auch die US-Operationen in Afghanistan wurden vom „US Central Command“ geführt. Die ersten Gespräche zwischen den USA und den afghanischen Taliban wurden ebenso wie die späteren Verhandlungen in Doha, der Hauptstadt von Katar, geführt. Auch die Europäer knüpften ihre Kontakte zu den Taliban in Doha.

Katar verfügt über die drittgrößten Erdgasreserven der Welt. Das hat u.a. dazu geführt, dass auch Deutschland versucht, die nicht mehr zur Verfügung stehenden russischen Gaslieferungen durch Verträge mit Katar zu kompensieren. Dem aufmerksamen Beobachter ist der tiefe Diener unseres Wirtschaftsministers vor dem Emir von Katar bei seinem Besuch in Doha noch gut in Erinnerung. Es ist nur schwer vorstellbar, dass neben einer möglichen Gaslieferung an Deutschland auch die Menschenrechtslage bei diesem Besuch thematisiert wurde.

Die Moral der Pharisäer

Offensichtlich waren die Menschenrechte in Katar für alle bisherigen internationalen Aktivitäten, Vorhaben und Ereignisse bislang kein entscheidendes Kriterium. Auch die hochmoderne Infrastruktur des Landes, all diese beeindruckenden, in den Himmel ragenden Gebäude sind sicherlich nicht von den Kataris selbst errichtet worden; denn davon gibt es weniger als 300.000. Nach UN-Angaben hat Katar die höchste Quote an Arbeitsmigranten der Welt. Auf die gesamte Bevölkerung bezogen sind etwa 88 Prozent der Einwohner (2,2 Millionen Menschen) ausländischer Herkunft. Es kann sicherlich nicht ausgeschlossen werden – um es einmal vorsichtig zu formulieren – dass die Arbeits- und Lebensbedingungen für die ausländischen Bauarbeiter auch in der Vergangenheit nicht entscheidend besser waren als während der Phase, in der die Infrastruktur für die Fußballweltmeisterschaft geschaffen wurde.

Was aktuell geschieht, ist, um es einmal banal zu sagen, das Zuschieben des Schwarzen Peters an all diejenigen, die für die Vergabe der Fußballweltmeisterschaft und die Menschenrechtslage in Katar überhaupt nicht zuständig, geschweige denn verantwortlich sind. Deutschland hatte – andere Länder natürlich auch – 12 Jahre Zeit, gegen die Entscheidung, die Fußballweltmeisterschaft in Katar auszutragen, vorzugehen, im Extremfall, die Veranstaltung zu boykottieren. Das ist nicht geschehen und jetzt überschlagen sich Politiker und Medien in ihren negativen Aussagen und Kommentaren zu dieser Weltmeisterschaft. Das könnte man noch als eine nicht unübliche Verhaltensweise beschreiben, nämlich „Verrat zu schreien“, obwohl man selbst daran beteiligt war. Das Schäbige an der aktuellen Vorgehensweise ist, dass man versucht, all denjenigen ein schlechtes Gewissen einzureden, die sich einfach nur auf eine Fußballweltmeisterschaft freuen. Man versucht den Gastwirten, den Veranstaltern von Public Viewings und vor allem den Fans einzureden, dass das Schauen von Fußballspielen im Rahmen dieser Weltmeisterschaft letztlich das Ignorieren der Menschenrechtslage in Katar ist, quasi ein ganz persönlicher Verstoß gegen die Menschenrechte. Mittlerweile sind wir in Deutschland fast so weit, dass sich niemand mehr traut zuzugeben, dass er sich diese Fußballspiele ansehen wird, weil er Angst haben muss, als jemand, dem die Menschenrechte egal sind, nicht nur ins fußballerische, sondern auch ins gesellschaftliche Abseits gestellt zu werden.

Viel mehr Pharisäertum seitens der Verantwortlichen ist für mich kaum vorstellbar.

Titelbild: shutterstock / kovop58


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