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Titel: Venezuela: Der aufsteigende Pfad der Revolte
Datum: 12. November 2022 um 11:45 Uhr
Rubrik: Audio-Podcast, Länderberichte, Strategien der Meinungsmache, Ungleichheit, Armut, Reichtum, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
Verantwortlich: Redaktion
Während die Regierungspartei die Existenz eines Wirtschaftswunders suggeriert, macht die Mehrheit der Bevölkerung harte Zeiten durch. Wie schrieb doch einst Walter Benjamin? „Aber nie darf einer seinen Frieden mit Armut schließen, wenn sie wie ein riesiger Schatten über sein Volk und sein Haus fällt. Dann soll er seine Sinne wachhalten für jede Demütigung, die ihnen zuteil wird, und so lange sie in Zucht nehmen, bis sein Leiden nicht mehr die abschüssige Straße des Grams, sondern den aufsteigenden Pfad der Revolte gebahnt hat.“ Von Reinaldo Iturriza.
Dieser Beitrag ist auch als Audio-Podcast verfügbar.
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Benjamin hebt hervor, dass die Wahrnehmung einer grundlegenden „Instabilität“ der Tatsache geschuldet war, dass sie direkte Auswirkungen auf die Klasseninteressen des Bourgeois hatte, anders als es in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg der Fall war: „Da die relative Stabilisierung der Vorkriegsjahre ihn begünstigte, glaubt er, jeden Zustand, der ihn depossediert, für unstabil ansehen zu müssen.“
Im Mittelpunkt von Benjamins Überlegungen steht jedoch, dass wirtschaftliche „Stabilisierung“ oft einen großen Teil der Menschheit zur Verelendung verurteilt: „Aber stabile Verhältnisse brauchen nie und nimmer angenehme Verhältnisse zu sein und schon vor dem Krieg gab es Schichten, für welche die stabilisierten Verhältnisse das stabilisierte Elend waren.“
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern: Die „Laune“ der Bourgeoisie stimmt äußerst selten mit der der popularen Klassen überein.
Wer ihren Ursprung recherchiert, stößt auf zwei Überraschungen: Erstens stammt sie nicht aus dem Land selbst, sondern aus dem Ausland. Zweitens wurde sie ursprünglich verwendet, um eine kritische Distanz zur Instrumentalisierung der Venezuela-Frage durch Medien des Establishments in Ländern wie Spanien, Kolumbien, Argentinien und Chile herzustellen, zumeist im Vorfeld einer Wahl zur Unterstützung von konservativen politischen Kräften.
Dies ist das Ergebnis einer Überprüfung von Twitter-Inhalten, die hier als eine Annäherung dient, aber sehr anschaulich ist. In dem Dreijahreszeitraum 2016–2018 wurde die Redewendung rund fünfzig Mal in den Sozialen Netzwerken verwendet. In fast der Hälfte der Fälle wird sie als ironische Anspielung darauf benutzt, dass Venezuela nach den Wahlen plötzlich nicht mehr in den Nachrichten auftauchte, ganz im Gegensatz zur überzogenen Berichterstattung während des Wahlkampfes.
Im Jahre 2019 änderte sich das, als die Redewendung auch in Venezuela-basierten Benutzerkonten verwendet wird. Vor allem spiegelt ihr Gebrauch eine zynische Haltung wider, anstatt das hegemoniale Narrativ der venezolanischen Wirklichkeit kritisch zu reflektieren; in den meisten Fällen wird „Venezuela se arregló“ sarkastisch verwendet, im Wissen, dass es nicht stimmt oder, genauer gesagt, dass es sich dabei um eine Lüge handelt.
Diese zynische Wendung fällt mit einem Phänomen von großer sozialer Bedeutung zusammen – oder ist vielmehr eine Antwort darauf; das umfasst die De-facto-Dollarisierung der venezolanischen Wirtschaft, die Freigabe der Preise sowie die massive Abschaffung der Einfuhrzölle. Für einen Teil der Bevölkerung bedeutet das eine gewisse Wahrnehmung von „Normalisierung“. Diese Normalisierung beruht auf der Tatsache, dass es seitdem möglich ist, mit einer starken Währung [dem US-Dollar] Handel zu treiben, die Regale in den Läden sind wieder gut gefüllt, der Markt wird mit importierten Waren geflutet und die Möglichkeiten von Luxuskonsum vervielfältigen sich, zumindest in der Theorie. All dies geschieht jedoch im Kontext einer Hyperinflation.
Im Grunde würde die Formulierung „Venezuela se arregló“ eine Leugnung von „Normalisierung“ bedeuten. Manchmal lässt sich sogar die Absicht erkennen, die zutiefst rückschrittlichen Maßnahmen zur Kontrolle der Hyperinflation und zur „Stabilisierung“ der Wirtschaft zu hinterfragen, das ist aber nicht oft der Fall. In der Regel entbehrt sie jeder kritischen Nuance und ist eher damit verbunden, sich nicht damit zu beschäftigen, was wirklich vor sich geht.
Jedenfalls ist diese zynische Herangehensweise größtenteils den verwirrenden Zeiten geschuldet, in denen es immer schwieriger ist, die Vorstellung aufrechtzuerhalten, dass die beiden antagonistischen Projekte noch immer im Streit liegen. Programmatische Grenzen verschwimmen. In der Dämmerung der Bolivarischen Revolution ist alles grau in grau.
Die Regierung fährt mittlerweile eine Wirtschaftspolitik, die von der chavistischen Basis und einem Großteil der aktuellen Führung eindeutig als neoliberal angeprangert werden würde, wenn eine anti-chavistische Regierung sie anwenden würde. Derweil streitet die zersplitterte und politisch wie auch militärisch geschlagene anti-chavistische Führung darüber, ob man nun die generelle Ausrichtung der Wirtschaftspolitik feiern oder ablehnen sollte, der sie im Grunde zustimmt. In der Regel herrscht Desorientierung.
Daraus resultiert die Ambivalenz der Redewendung, die auf einen Diskurs zurückgeht, der den Anti-Chavismus ausmacht („Venezuela kann nicht repariert werden“). Gleichzeitig könnte dies aber auch einem potenziell subversiven praktischen Ansatz Vorschub leisten („Wenn es nur für eine Minderheit repariert ist, dann ist Venezuela gar nicht repariert“).
Diese Ambivalenz verstärkte sich im Jahr 2021, als die Formulierung in sozialen Netzwerken viral ging. Im April 2021 gab es nur sechs Erwähnungen, im Mai waren es bereits hundert. Der Wind drehte sich. Von da an wuchsen sie exponentiell: mehr als 500 im August, mehr als 1.500 im September und mehr als 2.000 im Dezember.
Wie lässt sich das erklären? Was ist im Jahr 2021 geschehen? Meiner Meinung nach zwei Dinge: die „Normalisierung“, die 2019 angestoßen wurde, setzte sich fest. Dies führt zur Annahme, dass das zuvor genannte Phänomen ‒ Dollarisierung, Warenverfügbarkeit, importierte Güter überall, Vervielfachung der sogenannten „bodegones“ [Geschäfte für hochwertige Importprodukte], Wiedereröffnung von Bingo-Geschäften und Casinos ‒ von Dauer ist. Außerdem trugen die politischen Maßnahmen im Kampf gegen die Hyperinflation langsam Früchte: Die Inflationsrate ist in zwölf aufeinanderfolgenden Monaten auf unter 50 Prozent und seit September 2021 bis auf einen Monat unter zehn Prozent geblieben.
Beide Umstände ‒ die stetige Verbesserung der wirtschaftlichen Lage hin zu einer „Normalisierung“ und die erfolgreiche Bekämpfung der Hyperinflation ‒ lassen uns nicht nur den überschwänglichen Optimismus der Regierungspartei verstehen, sondern auch die Tatsache, dass sie die Bedeutung von „Venezuela se arregló“ mit zahlreichen Verweisen auf den „wirtschaftlichen Aufschwung“ und Ähnliches erörtert.
Meine Annahme ist, dass die Entscheidung der Regierungspartei, die Bedeutung des Ausdrucks zu diskutieren, zusammen mit der Resonanz, die dies bei einem zynischen Publikum und in geringerem Maße bei einem zu kritischeren Positionen neigenden Segment hervorruft, den Fortbestand des Ausdrucks erklärt.
Man kann darüber streiten, ob der Ausdruck „stabilisiertes Elend“ die derzeitige Lage Venezuelas treffend beschreibt. Unbestreitbar ist, dass Armut, Elend und Ungleichheit seit 2014 signifikant zugenommen haben. Außerdem, und dies ist meiner Meinung nach der wichtigste Faktor, kann man nicht behaupten, dass die Wirtschaftspolitik der Regierung darauf abzielt, die Lage umzukehren. Tatsächlich könnte man sogar sagen, dass das Gegenteil der Fall ist.
Eine stärker werdende populare Mobilisierung von Gewerkschaften, Lehrern, Rentnern, staatlichen Verwaltungsangestellten usw. im Jahr 2022 scheint zu zeigen, dass noch unerträglicher als materielle und geistige Entbehrungen eine offizielle Darstellung ist, die, gestützt von Regierungsfunktionären, die Existenz eines Wirtschaftswunders suggeriert. Als Beweis wird das Wirtschaftswachstum über vier hintereinander folgende Quartale seit dem dritten Quartal 2021 angeführt, mit einem Durchschnitt von mehr als 17 Prozent.
Aber wenn diese Zahlen im offiziellen Diskurs als „Wunder“ gedeutet werden können, wie soll man dann die Tatsache benennen, dass zwischen dem 15. März und dem 20. September 2022, einem Halbjahreszeitraum, der monatliche Mindestlohn in seinem Wert von 39,95 auf 21,77 US-Dollar gefallen ist? Und wie soll man die regressive Änderung der Lohnskala oder die willkürliche Festnahme von Arbeitern verstehen, die schwere Fälle von Korruption zur Anzeige gebracht haben?
Trotz Erpressung und Druck vonseiten der Regierung ist die anhaltende Mobilisierung der Arbeiterklasse weitergegangen und damit einhergehend der offensichtliche Versuch einiger anti-chavistischer Akteure, im Trüben zu fischen. Beide wurden auf Distanz gehalten. Der vielleicht wichtigste Aspekt dieser Mobilisierung ist, dass dadurch neue Zeiten angekündigt werden, in denen der Zynismus, der letztlich funktional für die Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Zustands ist, an Boden verliert gegenüber kritischeren und kämpferischen Positionen.
Um es mit Walters Benjamins Worten zu sagen: Anstatt seinen Frieden mit der Armut zu schließen, geht es darum, die Sinne zu schärfen, die von jahrelanger Demütigung und Entbehrung taub geworden sind, und den Pfad der Revolte wieder einzuschlagen. Ironischerweise könnte es sein, dass das übertrieben optimistische Regierungsnarrativ, während die Mehrheit der Bevölkerung harte Zeiten durchmacht, zu einem Wiederaufleben popularer Würde beigetragen hat. Es ist allgemein bekannt, dass Gott nicht nur „Wunder“ tut, sondern auch auf wundersame Weise wirkt.
Übersetzung: Constanze Gräsche und Vilma Guzmán, Amerika21
Titelbild: shutterstock / Tuangtong Soraprasert
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