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Titel: „Glanz und Elend der Intellektuellen“

Datum: 30. September 2005 um 18:30 Uhr
Rubrik: Medienkritik, Neoliberalismus und Monetarismus, Wirtschaftspolitik und Konjunktur
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so lautet der Beitrag des konservativen Publizisten Alexander Gauland im „Tagesspiegel“ von heute. Wir erlauben uns zu kommentieren. Unsere Kommentare sind kursiv geschrieben. Alles andere ist Originalton Gauland.

Der Triumph des Neoliberalismus belegt: Die Linke hat versagt. Von Alexander Gauland.

Gauland lenkt vom Versagen seiner Gruppe, der konservativen Meinungsführer, ab. Dabei würde ein Blick in den Focus, in die Zeit, in den Spiegel, in die FAZ und in die Welt reichen, um zu sehen, wie dürftig der Geist bei den Konservativen und Neoliberalen sprießt und wie gefügig sich die Wortführer jedem Schwenk des konservativen und neoliberalen Mainstream angepasst haben, wie sie zum Beispiel alle nicht erkannt haben, wie wichtig die Stärkung der Binnennachfrage gerade auch für die Wirtschaft wäre und welch ein Wahnsinn es ist, ein Land permanent schlecht zu reden, wie es die neoliberalen Standortkritiker permanent taten.Und wie zum Beispiel nahezu alle konservativen Meinungsführer beeindruckt waren von Gerhard Schröders Neuwahl-Coup und erst jetzt merken, dass ein solcher Coup nicht automatisch zu stabileren Verhältnissen führt. Typisch auch ist ihre unkritische Bewunderung für Horst Köhler und dessen beflissene Zustimmung zur Auflösung des Deutschen Bundestags.

Die Franzosen hatten Voltaire, Montesquieu, Diderot und d’Alembert. Und längst bevor die Bastille fiel und der König sein Haupt unter die Guillotine legte, gab es das republikanische Frankreich im Denken seiner Intellektuellen. Alle Phasen, in denen sich die Revolution schließlich vollzog, waren in den Köpfen der Gemäßigten wie der Entschiedenen vorgebildet. So groß war die Furcht der endlich siegreichen Reaktion im Jahre 1815, dass sie nicht die Zustände, sondern deren Spiegelung in den Köpfen der Kritiker als die größte Gefahr für die Heilige Allianz ansah. Demagogenverfolgung nannte man diese Furcht.

Und auch nach dem Ende dieses Fürstenbundes war die neue Revolution schon vorgeformt im Kommunistischen Manifest und im Buch über die Lage der arbeitenden Klasse in England, in den Schriften der Anarchisten wie der Kathedersozialisten. Ohne Bernstein, Kautsky, Freud und Jung hätte auch Lenins berühmte Frage „Was tun?“ keine Antwort gefunden, und die russische Revolution wäre ohne Trotzki zwar weniger blutig, aber eben ohne revolutionäre Theorie vor sich gegangen.

Auch die Bewegung der 68er hatte ihre teils ungewollten teils gewollten Vor- und Mitdenker. Adorno und Horkheimer, Habermas, Reich, Mitscherlich und Marcuse waren oft wirksamer in der Zerstörung der bürgerlichen Gesellschaft als die schießwütigen Terroristen. Die westliche Welt war damals nicht halb so revolutionär wie die Theorien der in Regenbogenfarben gefassten Meisterdenker. Nun kann man über den Nutzen ihrer Schriften unterschiedlicher Meinung sein. Aber allein die Tatsache, dass eine nichtrevolutionäre Situation eine revolutionäre Literatur von beträchtlichem Umfang hervorgebracht hat, belegt die Bedeutung des Denkens von 1768 bis 1968.

Wie anders heute! Dass die Bundesrepublik eine ihrer schwersten Krisen durchmacht, ist nicht nur die Erfindung von Hundt, Sinn und Miegel. Auch weniger katastrophisch veranlagte Beobachter räumen ein, dass die Schwierigkeiten von damals harmlos waren gegenüber der Globalisierungs- wie der Demographiekrise von heute.

Hier präsentiert sich ein Autor als großer Analytiker und Kritiker des Mainstream und übernimmt dann ganz selbstverständlich die gängigen Parolen über Globalisierungs- und Demographiekrise.

Doch merkwürdig: Während Vietnamkrieg, Ölkrise und der schon 20 Jahre zuvor besiegte Nationalsozialismus intellektuelle Höchstleistungen produzierten, bleibt das Feld, auf dem fünf Millionen Arbeitslose gedeihen, analytisch unfruchtbar. Keine revolutionäre Theorie macht ihnen Mut, keine gesellschaftspolitische Alternative beunruhigt den neoliberalen Mainstream. Fast widerstandslos hat sich eine Sichtweise durchgesetzt, die allein im Sparen und Lohnsenken das Heil des deformierten Arbeitsmarktes sieht.

Gauland will einfach nicht wahrnehmen, dass es die von ihm vermissten Analyse- und Konzeptionskräfte gibt, dass sie allerdings wie häufig in der Geschichte – man denke nur an die „Reaktion“ in Deutschland auf die französische Revolution oder an die ausschließlich von Minderheiten rezipierten Vordenker von Horkheimer über Habermas bis zu Mitscherlich – von der herrschenden Meinung an den Rand gedrängt werden. Man soll doch heute als Konservativer nicht so tun, als wäre die Frankfurter Schule damals nicht eine massiv bekämpfte Sozialphilosophie gewesen. Es gibt doch zahlreiche Ökonomen, die sich der von Gauland jetzt plötzlich beklagte neoliberalen Lehre theoretisch widersetzen und durch praktische Vorschläge etwa für eine Stärkung des Binnenmarktes eintreten und in der abgebrochenen Binnenkonjunktur den größten Fehler der jetzigen Entwicklung sehenDa derAutor aber offenbar so weit in die Linke Deutschlands nicht hineinhört oder hineinhören möchte, findet er keine Linke mehr und beklagt sich über die Linke.

Was geschehen muss, mag im Detail zwischen FDP, CDU und SPD schwanken, die Richtung ist nirgends umstritten, allenfalls die Stärke der Zumutungen.

Das ist richtig gesehen. Immerhin.

Zwar legen die Gewerkschaften Einspruch ein, doch fast niemand hört zu. Während in den 70er Jahren fast jede noch so krude Theorie auf Millionen Leser, Verstärker und viele gläubige Adepten zählen konnte, ist die gesellschaftliche Krise heute ein reines Problem der Angebotstheorie. Es ist, als ob Marx und das revolutionäre Pathos so wenig existierten wie Lord Keynes und die sozialstaatliche Verheißung. Wirtschaftstheorie ist gefragt, aber nur eine, die den Deutschen mehr Arbeit und weniger Lohn verheißt. Es scheint, als ob der ideologiewidrige Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus die Analyse- und Utopiekraft einer ganzen Generation erschöpft hat. Und das ist wohl auch der tiefere Grund der intellektuellen Misere.

Wer sich in der Einschätzung des Ganges der Geschichte so verschätzt hat wie die antikapitalistische Linke der alten Bundesrepublik, hat seinen Anspruch auf die Deutungshoheit des Geschehens verwirkt.

Auch hier erweist sich Gauland als jemand, der die Linke nur als Buhmann benutzt. Als ob die von ihm genannten linken Vordenker Adorno, Horkheimer, Habermas, Reich, Marcus oder Mitscherlich je auf den stalinistischen Kommunismus oder auf den „realen Sozialismus“ gesetzt hätten. Sie haben ihn trefflicher analysiert und kritisiert als alle antikommunistischen Konservativen zusammen. Es ist die üblich gewordene grobe Analyse. Außer der antikapitalistischen Linken gab es nach Gauland keine andere. Weil er das so sieht, kann er auch die Malaise von heute nicht begreifen, zum Beispiel nicht jene Kritiker wie die erwähnten Makroökonomen oder – mit Verlaub – die Freunde und Herausgeber der NachDenkSeiten.

Wie die Konservativen sich nie von ihrer Nähe zum Nationalsozialismus in der Weimarer Republik erholt haben, so hat das Irren der falschen Revolutionäre dem Neoliberalismus einen billigen Sieg beschert. Und so, wie im Machbarkeitswahn des Wiederaufbaus nach dem Kriege sich das Gleichgewicht von rechts nach links verschob, hat die Republik nun eine neoliberale Schlagseite. Doch dies ist nicht Schuld der vielen Nachbeter einer unanfechtbaren Wahrheit, sondern späte Folge des Versagens der Linken.

Die Linken sind schuld. Das ist Logik des frühen Heiner Geißlers, wonach der Pazifismus schuld am Krieg ist. So ein ausgemachter Stuss. Der Autor ignoriert völlig den Einfluss der total gleichgeschalteten Medien, der Interessenverbände und der von ihnen bezahlten Publicrelations Agenturen. Und wenn er schon die Linken verantwortlich machen will, dann sollte Gauland wenigstens präzisieren: die angepassten Linken, jene, die sich völlig aufgegeben haben und über medialen und finanziellen Einfluss geködert worden sind. Das ist wirklich eine Katastrophe.

Die intellektuelle Debatte in der Bundesrepublik ist auch deshalb so armselig, weil Schuldeingeständnis und Aufarbeitung – anders als in den 60er Jahren des vorigen Jahrhunderts – unterblieben sind. Die späte Anerkennung der Tatsache, dass die Zerstörung Dresdens ein Verbrechen und die Vertreibung der Deutschen aus den Ostgebieten eine humanitäre Katastrophe waren, mag ein Anfang sein, er reicht aber offenbar nicht aus, der vermeintlichen Unabänderlichkeit des Marktgeschehens ein glaubwürdiges Halt von links entgegenzuschleudern.

Hier erschließt sich dem Leser erstens nicht, was die späte Anerkennung der Zerstörung Dresdens als humanitäre Katastrophe mit der Kritik der vermeintlichen Unabänderlichkeit des Marktgeschehens zu tun haben soll. Zweitens hat der Autor offenbar überhaupt nicht mitbekommen, dass es von den Anfängen der so genannten Welfareeconomics in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts bis zu Stiglitz’ Analysen des Marktversagens durchgehend Kritik am Glauben an den unregulierten Markt gegeben hat und auch genügend konkrete Vorschläge zur Korrektur dieses Marktversagens gemacht worden sind.

Der Autor war Staatssekretär und ist Publizist.


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